Traumschiff anno 1927: Studebaker Big Six „Victoria“

Das letzte Mal, dass ich „Das Traumschiff“ sah, muss bald 40 Jahre zurückliegen. Damals wohnte ich als Schüler noch zuhause und kam in den Genuss solcher Meisterwerke des westdeutschen Staatsfernsehens.

Angeblich gibt es die Serie immer noch, aber da ich seit meinem Auszug nie wieder ferngesehen habe (den Zwangs“beitrag“ zahle ich trotzdem), weiß ich weder, wie der Dampfer heute aussieht noch wer dort als Kapitänsdarsteller fungiert.

Daher kann ich ganz unvoreingenommen (wie es meine Art ist…) an ein Gefährt gehen, welches meiner Vorstellung von einem Traumschiff viel näherkommt als die schwimmenden Massenquartiere mit x Restaurants und Einkaufszentren.

Dazu versetze ich mich in die Situation eines betuchten Paares irgendwo im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre und stelle mir vor, was dieses wohl unter einem Traumschiff verstanden hätte.

Nun, reichlich Platz für zwei plus reichlich Gepäck, perfekten Rundumblick, die Option auf den Himmel über einem und die Aussicht auf die weite Welt direkt vor einem. Angetrieben sein sollte das Schiff von einem kraftvollen Aggregat, das unangestrengt seine Arbeit verrichtet.

Damit ließe sich kommod und elegant auf Reisen gehen, möchte man meinen. Wie das Ergebnis eines solchen schönen Traums damals aussehen konnte, das darf ich heute anhand einer Aufnahme zeigen, die ich erst dieser Tage erworben habe.

An dem Dokument gefällt mir nicht nur die traumhafte Inszenierung irgendwo an einem See im Alpenraum, sondern auch, dass es ein „Traumschiff“ zeigt, das wohl auch altgediente Kenner der Materie noch nicht oft zu Gesicht bekommen haben:

Studebaker „Big Six“ Victoria Modelljahr 1927; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wer auch immer hier einst auf den Auslöser gedrückt hat, verstand sein Handwerk perfekt. Dieses Foto hätte jeden Verkaufsprospekt geadelt und wäre in jedem Gesellschaftsmagazin ein Glanzstück gewesen. Leider ist umseitig nichts vermerkt.

So müssen wir uns wie so oft unsere eigenen Gedanken dazu machen, was aber zum Reiz der Beschäftigung mit diesen Zeugen der Vergangenheit beiträgt.

Hand auf’s Herz: Wer von Ihnen hat schon einmal ein Fahrzeug dieses Typs gesehen? Und wer hat auf Anhieb gewusst, worum es sich handelt?

Dabei war dies kein rares Manufakturmobil, wie man aufgrund der ungewöhnlichen Karosserie vermuten konnte, die sich dadurch auszeichnet, dass sich die hintere Dachpartie wie bei einem Landaulet öffnen lässt – bloß, in Verbindung mit einem Coupé-Aufbau.

„Victoria“ nannte man das in der englischsprachigen Welt. Zufälligerweise fand sich in meinem Fotobestand eine Aufnahme, die einen sehr ähnlichen Wagen zeigt, auf dessen Nabenkappe ein „S“ zu sehen ist, ein Hinweis auf die US-Marke Studebaker:

Studebaker „Victoria“ Modelljahr 1927; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Während die Ansprache als „Studebaker“ von 1927 sicher ist, konnte ich den genauen Typ in diesem Fall noch nicht ermitteln. In Frage kommen die drei Sechszylindermodelle „Standard Six“, „Big Six“ und „President Big Six“ – mit Leistungen zwischen 50 und 75 PS.

Letztlich zählt aber nur, dass diese Aufnahme mir die Identifikation des „Traumschiffs“ als Fabrikat von Studebaker aus South Bend im US-Bundesstaat Indiana ermöglichte. Alle weiteren Details lieferte dann das Ausgangsfoto selbst.

Die Datierung auf 1927 ergibt sich aus Details wie dem langen Dachüberstand (1928 wich er einer verstellbaren Sonnenblende) und die Identifikation als „Big Six“ aus dem Vorhandensein von Scheibenrädern, welche es in dieser Form nicht beim kleineren Standard Six gab:

Den „Victoria“-Aufbau gab es beim noch größeren „President Six“ nicht, allerdings verfügte der „Big Six“ über denselben Antrieb in Form eines seitengesteuerten Reihensechszylinders mit 75 PS Höchstleistung aus satten 5,8 Litern Hubraum.

Man mag jetzt mäkeln, dass der Ventiltrieb technisch überholt war. Doch wenn ich damals die Wahl gehabt hätte zwischen einem sportlichen kleinen Aggregat mit kopfgesteuerten Ventilen und hoher Drehzahlfestigkeit und einem großvolumigen Motor mit massig Drehmoment schon bei niedrigen Touren, hätte ich als Reisewagen stets die US-Lösung bevorzugt.

Speziell auf Alpentouren waren diese bärenstarken Motoren überlegen, wenn es darum ging, schaltarm und mit nur geringer Belastung „über’n Berg“ zu kommen. Nicht zuletzt waren die US-Maschinen konstruktiv auf astronomische Laufleistungen ausgelegt.

Was in den Staaten mit ihren enormen Entfernungen gut war, konnte nicht verkehrt sein, wenn man – sagen wir – von Hamburg nach Salerno fahren wollte, weil man die unweit gelegenen grandiosen griechischen Tempel von Paestum sehen wollte.

Für solche Bildungsbürger-Träume war das Schiff von Studebaker in Form des Big Six wie gemacht und gern macht man sich Gedanken darüber, wohin es dieses junge Paar aus deutschen Landen einst mit ihrem eleganten „Victoria“ einst verschlagen hat:

Nebenbei illustriert dieser Ausschnitt, was Vorkriegswagen so anders macht als Fahrzeuge der Nachkriegszeit.

Ja, das Outfit der beiden lässt sich mit einiger Geduld noch heute rekonstruieren – und aus eigener Erfahrung darf ich sagen: man fühlt sich besonders seriös darin – doch versuchen Sie einmal diese Aufnahme mit irgendeinem Mobil der Neuzeit nachzustellen.

Auch deshalb bleiben diese großartigen vierrädrigen Schöpfungen nach so langer Zeit auf ganz eigene Weise Traumschiffe…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

5 Gedanken zu „Traumschiff anno 1927: Studebaker Big Six „Victoria“

  1. Ja, da war noch eine dunkle Erinnerung aus meiner oberbayerischen Kindheit – oder auch das eine oder andere Kalenderfoto.
    DER Blick ins google maps– Kaleidoskop verschaffte jedoch Gewissheit !

  2. Die beiden „schrägen Vögel“ parkten ihren dicken Amerikaner- Wagen direkt am Nordende des Königsees bei Berchtesgaden, im Hintergrund zwei der bekannten Bootshäuser, darüber glänzt das Dach des Cafés „Mahlerwinkel“…

  3. Vielen Dank für die Präsentation dieses schönen Studebakers, der ebenfalls als Victoria Coupé mit Schwiegermuttersitz auf Tasmanien zu finden ist :

    https://studebakercarclubnsw.com/27eu-vic-cpe-ga01.html

    Das eine Klappfunktion simulierende Ziergestänge ist anders geformt, wie auch die Scheibenräder eine abweichende Formung haben, aber die Karosserie zeigt so ebenfalls den Studebaker von 1927.

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