Turiner Bubi in Bevagna: Fiat 508 „Balilla“

Die Vorkriegsauto-Geschichte, die ich heute erzähle, ist einigermaßen kompliziert – aber das habe ich mir selbst eingebrockt.

Eigentlich wollte ich es mir leicht machen und einige Fotos präsentieren, die einst auf einer Tour in den Süden nach Mittelitalien entstanden. Am Wochenende fahre ich nämlich selbst dorthin und da dachte ich, dass ich meine Leser einfach mitnehmen könnte.

Im letzten Moment stellte ich aber beim Studium der Aufnahmen fest: „Die fahren ja in die falsche Richtung!„. Also warf ich das Vorhaben über den Haufen und musste mir etwas Neues ausdenken.

Mein Blick fiel auf den Stapel mit alten, noch unbearbeiteten Fotos auf dem Schreibtisch. Drei Ansichtskarten der Vorkriegszeit waren darunter, die aus meinem Zielgebiet stammen – der Valle Umbra zwischen Perugia und Spoleto.

Alle wichtigen Orte dort sind über 2000 Jahre alt und fast alle davon liegen erhöht über der Ebene, die von einem See und Sümpfen bedeckt war, bevor die Römer sie in generationenlanger Arbeit entwässerten und das so gewonnene Land nutzbar machten.

Zwei neue römische Städte in der Ebene kamen hinzu, die bis heute existieren: Foligno („Fulginium“) und die Kleinstadt Bevagna („Mevania“) nordwestlich davon. Hier eine Ansichtskarte der Zwischenkriegszeit, die Bevagna von Westen aus zeigt:

Bevagna (Umbrien); Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger

Aus eigener Anschauung weiß ich, dass das geschichtsträchtige Städtchen heute noch genau so aussieht. Es gibt praktisch keine Bauten dort, die jünger als 100 Jahre sind.

Die Moderne ist völlig an Bevagna vorübergegangen – jedenfalls, was die Architektur und das Stadtbild betrifft. Die Leute dort wissen, was sie an ihrem Ort haben, pflegen ihr historisches Erbe mit Hingabe und haben sich behutsam dem Tourismus geöffnet.

Wer sich Zeit dafür nimmt, findet in dem Städtchen mit gerade einmal 1.000 Einwohnern diverse romanische und gotische Kirchen, eine Therme, einen Tempel und ein Theater aus der Römerzeit, eine formidable archäologische Sammlung und ein ziemlich einzigartiges Theater des 19. Jahrhunderts.

Letzteres befindet sich – von außen nicht erkennbar – im ehemaligen Palazzo dei Consoli aus dem 13. Jh. Dort war einst die kommunale Selbstverwaltung ansässig und man kann an den Dimensionen des Baus erahnen, wie wohlhabend und selbstbewusst das mittelalterliche Bevagna war:

Bevagna (Umbrien), Palazzo dei Consoli; Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger

Der mächtige Bau wirkt streng und abweisend, daher fand ich, dass etwas Abwechslung nicht schaden könne und der altehrwürdige Palast durchaus auch ein Stück gekonnte Moderne vertragen kann.

Letztere fand sich zufälligerweise von selbst ein in Form eines Automobils der Turiner Fiat-Werke. Das Fahrzeug parkte genau vor den beiden gotischen Arkaden, die rechts neben der breiten Freitreppe zu sehen sind:

Störend wirkt der Wagen hier keineswegs, wie überhaupt Vorkriegsautos aufgrund ihrer speziellen Formensprache und Proportionen meist mit vormodernen Bauten harmonieren.

Dabei war dieses spezielle Exemplar ein auf Krawall gebürsteter Rabauke -jedenfalls dem Namen nach. Fiat vermarktete dieses ab 1932 gebaute Modell mit Typbezeichnung 508 nämlich mit dem Zusatz „Balilla„.

Das war eine Anspielung auf den Dialekt-Spitznamen eines im 18. Jh. die Obrigkeit mit Steinen bewerfenden Buben namens Giovan Battista Perasso aus Genua. Der furchtlose freche Junge findet in der italienischen Nationalhymne heute noch Erwähnung.

Dass „Balilla“ auch die Bezeichnung der Jungs der faschistischen Jugendorganisation während der totalitären Herrschaft von Mussolini Co. war, stört in Italien keinen.

Der kompakte Fiat 508 mit seinem 20 PS leistenden 1-Liter-Motor war zwar als robuster Einsteigerwagen gedacht, wies mit 12 Volt-Elektrik und Hydraulik-Stoßdämpfern jedoch einige gehobene Charakteristika auf.

Vom etwas stärkeren, aber durchaus als Vorgänger anzusehenden Fiat 514 unterschied sich der Balilla äußerlich insbesondere durch die niedrigere Schwellerpartie unterhalb der Türen sowie die hier zu erahnende geschwungene Scheinwerferstange.

Wenn Ihnen das bisher Gezeigte doch etwas dürftig erscheint, kann ich das verstehen, zumindest in automobilhistorischer Hinsicht. Allerdings kann ich im Fall des Fiat 508 „Balilla“ in Limousinenausführung bislang nur mit diesem einen Foto aufwarten.

Als kleine Entschädigung mag die Gesamtansicht der Szene dienen:

Bevagna (Umbrien), Palazzo dei Consoli und Kirche San Silvestro; Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger

Lassen Sie sich von der bescheiden wirkenden, unvollendeten Fassade der Kirche San Silvestro rechts neben dem Palast nicht täuschen.

Sollten Sie einmal nach Bevagna kommen, werfen Sie unbedingt einen Blick ins Innere – Sie werden überrascht sein, wie freundlich hell dieses romanische Kleinod plötzlich wirkt:

Bevagna, Kirche San Silvestro; Bildrechte: Michael Schlenger

Und wenn Sie wieder hinausgehen, sehen Sie auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes die monumentale Fassade von San Michele.

Innen ist diese Kirche infolge von Umbauten der Neuzeit weniger sehenswert, aber vielleicht haben Sie ja Glück und es steht gerade ein Vorkriegs-Fiat auf der Piazza davor.

Das könnte dann so aussehen – auch wenn es sich hier um den früheren Typ 509 in Sportausführung von Anfang der 1920er Jahre handelt, nach dessen Lenkrad ein kesser Junge greift:

Fiat 509 in Bevagna, September 2024; Bildrechte: Michael Schlenger

Wenn Sie nun damit zufrieden sind und Ihnen obendrein der Hintergrund bekannt vorkommt, dann darf ich meine heutige Geschichte vom Bubi in Bevagna als gelungen betrachten, auch wenn Sie aus der Not geboren und mit heißer Nadel gestrickt ist…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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