Geheimnisvoller Grenzgänger: Ein Stoewer von 1910

An sich kennt die Beschäftigung mit Vorkriegsautos keine Grenzen – das ist jedenfalls mein Eindruck im achten Jahr meines Blogs. Zwar wird dieser 2022 die Grenze von 100.000 Besuchern nicht mehr überschreiten – aber eine Grenze werden wir heute doch erreichen.

Dabei handelt es sich um das Jahr 1910, in dem bei deutschen Automarken auf breiter Front eine gestalterische Neuerung Einzug hielt – der Windlauf.

Dabei handelte es sich um eine ab 1907/08 im Rennsport aufgekommene Blechpartie, welche die Luftströmung hinter der Motorhaube über den Wagen hinweg leiten sollte.

Bis dahin sah ein Automobil typischerweise so aus:

Tourenwagen um 1908 (Marke unbekannt); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wie man an diesem Exemplar sieht, dessen Hersteller ich noch nicht ermitteln konnte, stieß die Motorhaube rechtwinklig auf die Schottwand, hinter der sich das Fahrerabteil befindet. Bei geschlossenen Wagen ragte hier die Windschutzscheibe senkrecht auf.

Während ausländische Fabrikate – vor allem französische – an dieser Gestaltung teilweise bis zum 1. Weltkrieg festhielten, findet man bei den meisten deutschen Wagen ab 1910 besagten Windlauf, der nicht nur strömungsgünstiger war, sondern auch für einen optisch harmonischen Übergang sorgte.

Wie das letztlich wirkte, lässt sich an diesem Exemplar studieren, dessen Hersteller ebenfalls noch unbekannt ist (begründete Vorschläge werden gern angenommen):

Tourenwagen um 1912 (Marke unbekannt); Originalfoto aus Sammlung Bart Buts (Belgien)

Diese hevorragende Aufnahme hat mir übrigens mein belgischer Sammlerkollege und Opel-Veteranenspezialist Bart Buts mit der Bitte um Identifikation übermittelt.

An der Marke bin ich zwar bisher gescheitert, aber für meinen heutigen Blog-Eintrag kommt mir die Aufnahme gerade recht – zeigt sie doch den Windlauf nach gelungener Einbeziehung in den Karosseriekörper.

Für eine ganz kurze Zeit – im Jahr 1910 – gab es jedoch ein Zwischenstadium, in denen Autos erstmals einen Windlauf erhielten, aber noch kurz vor der Grenze haltmachten, ab der dieser mit dem übrigen Aufbau verschmolz.

Genau einen solchen Grenzgänger will ich heute anhand einer prächtigen Aufnahme besprechen, die mir Leser Matthias Schmidt in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat:

Stoewer G4 oder LT4 von 1910; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Diese Dokument lohnt aus meiner Sicht in besonderer Weise ein näheres Studium. Haben Sie etwas Zeit und Spaß an der zwar mühseligen, aber oft von Überraschungen geprägten Arbeit des Altauto-Archäologen?

Dann kann’s ja losgehen! Halten wir zunächst fest, was wir über die Aufnahmesituaton wissen: Das Foto ist ausweislich seiner Beschriftung auf einer Fahrt nach Krailling entstanden.

Hier beginnt es bereits mit der Grenzgängerei. Denn die kleine bayrische Gemeinde weist in der Hinsicht einige Kuriositäten auf.

Krailling ist der nördlichste Ort im Landkreis Starnberg, hat aber dieselbe Postleitzahl wie die zum Kreis München gehörige Nachbargemeine Planegg. Gleichzeitig ist ihre Telefonwahl dieselbe wie die von München – klarer Fall von Grenzgängerei.

Grenzgänger, allerdings auf vier Rädern, waren auch die Insassen des Tourenwagens:

Noch tief im 19. Jh. sozialisiert war die uns streng musternde ältere Dame hinter dem Fahrer – zweifellos kein Heimchen am Herd, sondern eine beeindruckende Persönlichkeit, die sich Respekt zu verschaffen wusste.

Ich könnte sie mir gut als strenge Lehrerin vorstellen, ein Typus, den wir durchaus im verlotterten Bildungswesen öfters gebrauchen könnten.

Neben ihr auf dem Rücksitz dann ein ganz anderer, sympathisch wirkender Frauentyp, der ein gelassenes Selbstbewusstsein ausstrahlt. Mit ihr würde man vermutlich leichter ins Gespräch kommen.

Davor sitzt dann ein junges Frauenzimmer, das mit seinem leerem Blick auf mich nicht gerade den Eindruck einer besonders aufgeweckten Gesellschafterin macht.

Sie trägt keinen Hut und ist damit bereits eine Grenzgängerin auf gewisse Weise – denn erst nach dem 1. Weltkrieg sollte es allmählich üblich werden, das Haar sichtbar zu tragen. Der vierschrötige Fahrer schaut unterdessen ernst drein und hofft, dass es bald losgeht.

Das tut es jetzt endlich auch, denn uns interessiert noch mehr die Frage, was das für ein Wagen ist, bei dem der Windlauf so merkwürdig aufgesetzt wirkt:

Nun, auch hier haben wir den klassischen Fall des Grenzgängers – ein Windlauf muss schon sein, denn das ist ab 1910 Mode, aber er kaschiert noch nicht den Übergang zwischen Motorhaube und Innenraum, sondern setzt erst hinter der vertikalen Schottwand an.

In strömungstechnischer Hinsicht nicht ideal, aber das musste man bei einem Alltagswagen mit moderater Motorisierung auch nicht so eng sehen.

Wichtiger ist ohnehin die Markenplakette auf dem Kühler des Wagens, die das Auto als Stoewer aus Stettin in Pommern (heute zu Polen gehörend) ausweist. Bis 1909 scheint der Markenschriftzug direkt in das Kühlergehäuse eingeprägt gewesen zu sein

Hier haben wir die m.E. früheste aufgesetzte Stoewer-Kühlerplakette, die sich noch von der später verwendeten, stärker ovalen zu unterscheiden scheint.

Da das Foto auf 1911 datiert ist, spricht viel dafür, dass wir einen Stoewer von 1909/10 vor uns haben. Denn mir ist keine Abbildung eines später gebauten Stoewer mit dieser noch wie nachträglich aufgesetzt wirkenden Windkappe bekannt.

Aus meiner Sicht kommen mit Blick auf die geringe Größe des Stoewer zwei Möglichkeiten in Betracht, was das abgebildete Modell angeht:

Entweder wir haben es mit dem von 1908-10 recht oft gebauten Typ G4 in später Ausführung zu tun oder mit dessen direktem Nachfolger LT4, den es nur 1910 gab.

Beide besaßen einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor, dessen Leistung während der Produktionsdauer von 16 auf 18-20 PS stieg. Vielleicht spricht der Radstand eher für das 20cm längere Modell LT4, aber aus dieser Perspektive ist das schwer zu sagen.

Ob sich die Identität dieses Grenzgängers noch genau aufklären lässt, sei dahingestellt.

An dem Wagen und seinen Insassen lässt sich so oder so ein Zeitenwandel ablesen, welcher die Beschäftigung mit frühen Automobilen über die rein technische Ebene hinaus spannend und lehrreich macht.

Denn letztlich sind wir alle Grenzgänger, ob wir wollen oder nicht und müssen mit dem Übergang aus dem verblassenden Gestern und dem vertrauten Jetzt in die Welt von Morgen zurechtkommen, ob uns der Ausblick gefällt oder nicht.

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Geheimnisvoller Grenzgänger: Ein Stoewer von 1910

  1. Da einem als erst 70- jährigen zu dem 112- jährigen Stoever nicht viel einfallen kann nur zu Herrn Schlengers sonstigen Feststellungen folgendes:
    Als die ersten vier Lebensjahre
    In Krailling wohnhaftem Ex- Bayern möchte ich feststellen:
    Bei der Neuordnung des Postwesens nach der Reichsgründung orientierte man sich (vernünftigerweise) weniger an den,alten Zöpfen der Kleinstaaterei sondern mehr an den verkehrstechnisch und topo- grafischen Gegebenheiten der Regionen und da Krailling eben der südwestlichste Ausläufer des damaligen Großraum München war eben der postalische Zuschlag zu Pasing. Krailling liegt im (ehemals idyllischen ?) Würmtal
    welches sich vom Ausfluß des Würmsees (so die alte Bezeichnung) ohne weitere dörflichen Ansiedlungen bis Krailling- Stockdorf und westlich an München vorbei schlängelt.
    Das die ältere Dame im Stoever
    deutlich reservierter auf das Abenteuer der Fahrt im neuen Verkehrsmittel blickt als die weibliche Jugend ist wohl nur natürlich !
    Der jungen Beifahrerin einen „leeren“ Blick zu unterstellen finde ich nicht gerechtfertigt, ist sie doch zweifellos die Tochter der „Lehrererin“ (physiologische Übereinstimmung eindeutig – oder?) und beweist ihre Geistesgewart durch das Halten ihres Hütchen auf dem Schoß
    In Erwartung des gewaltigen Brausens, welches Sie gleich umströmen wird, wenn der Wagen Fahrt aufnimmt…

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