Irrfahrt an den Wörthersee: Talbot DC10 Sport-Tourer

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – diese überzeitliche Erkenntniss formulierte einst Goethe – der am vielseitigsten begabte deutsche Kulturmensch aller Zeiten, der im Unterschied zu anderen nur klugen Köpfen Lebensweisheit mit Lebensfreude vereinte.

Mit dem wohlwollenden Segen des Meisters aus Weimar irren, das fühlt sich doch gleich ganz anders an – vor allem, wenn man sich auf gelungene Weise zu korrigieren weiß.

Genau das werde ich heute tun, liebe Leser. Die Abonnenten unter Ihnen hatten kürzlich noch das exklusive, doch letztlich zweifelhafte Vernügen, einen prächtigen Sport-Tourer von Mitte der 1920er Jahre als Austro-Daimler ADM verkauft zu bekommen.

„Unterwegs mit Franzy„, so war der inzwischen gelöschte Blog-Eintrag betitelt und führte unter anderem an den Wörthersee im schönen Österreich. Diesen Teil der Geschichte muss ich nicht neu schreiben, auch die hübsche Franzy wird wieder darin vorkommen!

Doch führt uns die Reise diesmal nicht von Wien – dem Sitz von Austro-Daimler – an den Wörthersee, sondern sie beginnt im französischen Suresnes westlich von Paris. Wie konnte es zu einer solchen Kursänderung kommen?

Nun, ich will sie an meiner Irrfahrt teilhaben lassen, damit Sie sehen, dass ich durchaus meine Gründe hatte, zunächst Wien für den Ausgangspunkt der Tour mit Franzy zu halten.

Auch wenn es die Geschichte geografisch komplizierter macht, muss ich außerdem noch einen Abstecher ins bayrische Augsburg machen. Dort nahm die Sache nämlich auf gewisse Weise ebenfalls ihren Anfang und zwar hiermit:

Austro-Daimler ADM Sport-Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese außergewöhnliche Aufnahme wollte ich eigentlich noch eine Weile für mich behalten – jetzt brauche ich sie, um besagten Irrtum zumindest erklärbar machen zu können.

Dieser sportlich flach gehaltene Tourenwagen mit gepfeilter Frontscheibe und dynamisch wirkendem Türausschnitt ist nämlich eine besonders attraktive Variante des Austro-Daimler Typ ADM, der ab 1922 mit einem hochkarätigen 6-Zylindermotor mit Ventilsteuerung über obenliegende Nockenwelle angeboten wurde.

Der Typ ADM wurde vor allem als klassischer Tourenwagen verkauft, wie hier zu sehen:

Austro-Daimler ADM; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt

Es handelte sich um den ersten Wagen der Wiener Marke, welcher nach dem 1. Weltkrieg ohne den bis dato noch verbreiteten Spitzkühler (Typen AD6-17 und ADV) daherkam.

Anfangs leistete das Modell nur 45 PS aus 2,6 Liter Hubraum, doch legte man rasch nach, da der Motor erhebliche Leistungsreserven bot und das Publikum nach deutlich mehr verlangte, um souverän Fernreisen und Alpenpässe absolvieren zu können.

So könnte das oben abgebildete Exemplar bereits über die Zweivergaser-Ausführung verfügt haben, die den Ansprüchen eher angemessene 60 Pferdestärken bot.

Doch woran ist denn so ein Austro-Daimler ADM zu erkennen, abgesehen vom markentypischen Flachkühler, den auch das spätere Modell ADR besaß?

Nun, ansatzweise ist das für den geschulten Betrachter bereits auf der obigen Aufnahme aus dem Fundus meines Sammlerkollegen Matthias Schmidt zu erkennen.

Besser sieht man es indessen auf der folgenden Aufnahme aus meinem eigenen Bestand:

Austro-Daimler ADM (linkes Fahrzeug); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn diese Aufnahme dazu einlädt, sich mit der unbekannten dunklen Limousine mit sechs Seitenfenstern und drei Sitzreihen zu befassen, widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem Tourer dahinter.

Unverkennbar wieder ein Austro-Daimler, doch diesmal ist das entscheidende Merkmal gut sichtbar, das ihn von seinen äußerlich ähnlichen Nachfolger ADR unterscheidet.

So ist die Hinterachse dieses Wagens am Ende einer Längsblattfeder angebracht, deren vordere Aufhängung sich weit vorne befindet. Diese sogenannte Cantilever-Aufhängung findet sich bevorzugt bei Wagen jener Zeit mit sportlicher Charakteristik.

Der auf den Austro-Daimler ADM folgende Typ ADR besaß dieses Detail nicht, seine Pendelachse wies Querblattfedern auf.

Besagte Cantilever-Federung findet sich auch an dem raffinierter geschnittenen Austro-Daimler ADM Sport-Tourer, der einst in Augsburg abgelichtet wurde. Möglich, dass es sich um die ab 1924/25 angebotene 3-Liter-Version handelt, die 70 PS (später 100 PS) leistete:

Studieren Sie noch einmal die Kühlerpartie, behalten Sie die Drahtspeichenräder mit den mächtigen Bremstrommeln vorn im Hinterkopf und prägen sich die Form von Windschutzscheibe und Türausschnitt ein.

Abgespeichert? Gut, dann geht es jetzt von Augsburg gedanklich über Wien weiter, wo einst Austro-Daimler das Modell ADM fertigte.

Mit dieser naheliegenden Reiseroute im Kopf ist man dermaßen beschränkt, dass man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch den folgenden Wagen gleich als Austro-Daimler ADM mit sportlichem Tourenwagenaufbau einsortiert, oder?

Talbot DC10 Sport; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dass es sich ebenfalls um eine Variante des Austro-Daimler ADM handeln dürfte, diese Vermutung liegt auch deshalb nahe, weil der Wagen auf einer einst in Österreich versandten Postkarte abgebildet war.

Adressatin war die fesche „Franzy“, die im Wagen zu sehen ist. Sie war die Gattin eines österreichischen Majors namens Dvorak, mit dem sie in Pörtschach am Wörthersee residierte – in der großartigen Villa Seehort, die noch existiert (gönnen Sie sich ruhig einen Blick darauf, so etwas kann heute keiner mehr).

Ebendorthin schickte anno 1929 ein gewisser Fredy die Postkarte:

Die Frau Major – also Franzy – wird hier als „tapfere Schlachtenbummlerin“ während irgendwelcher Manöver im Jahr 1929 angesprochen.

Ich vermute, dass Sie ihren Gatten bei dieser Gelegenheit im Wagen begleitete. Außerdem nehme ich an, dass sie im Haushalt Dvorak in der Villa Seehort die Hosen an und die Hand auf dem Portemonnaie hatte.

Denn ein Major – wenn es kein Generalmajor ist – ist kein hoher Offiziersrang, mit dem ein Einkommen verbunden war, welches den Besitz eines derartigen Luxuswagens ermöglichte wie dem, in dem sich Franzy offensichtlich sehr wohl fühlte:

Ein kurioses Detail auf dieser Aufnahme ist nebenbei die Schiefertafel, auf die jemand in expressiver Schrift „Heute keine Probe“ geschrieben hatte – das bezog sich auf den örtlichen Männer-Gesang-Verein.

Wenn ich es richtig lese, befand er sich in Friedberg (Steiermark), aber vielleicht irre ich mich, da ich selbst in Friedberg zur Schule gegangen bin, wenngleich in Hessen.

Ob der Soldat, der Franzy anschaut, ihr Ehemann Major Dvorak war? Und in welcher Beziehung mögen die übrigen Herren zu ihr und zueinander gestanden haben?

Wichtiger ist indessen etwas anderes: Der Kühler erweist sich trotz gleicher Grundform als nicht zu einem Austro-Daimler zugehörig. Das typische verschlungene Markenemblem fehlt, stattdessen sieht man ein unlesbares Firmenzeichen mit einer hell gehaltenen Diagonale.

Diese Gestaltung findet man nicht bei Austro-Daimler, sondern bei einer anderen Marke:

Talbot Typ DC10; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Darauf kam ich allerdings erst, als mich ein französisches Mitglied meiner englischsprachigen Vorkriegsauto-Gruppe bei Facebook darauf aufmerksam machte.

Tatsächlich handelt es sich bei dem Auto, mit dem Franzy in Österreich die Manöveraktivitäten ihres Gatten Major Dvorak verfolgte, um ein französisches Fabrikat – einen Talbot!

Damit ist klar, dass unser Ausflug an den Wörthersee im Talbot-Werk in Suresnes bei Paris begann – Augsburg und Wien hatte ich irrtümlich als Zwischenstationen angesehen.

Sehr wahrscheinlich war es ein Modell DC10, ein Vierzylindertyp mit zwar nur 1,6 Liter Hubraum, der aber dank im Zylinderkopf hängenden Ventilen eine Charakteristik aufwies, die mit 2-Liter-Wagen mithalten konnte.

Der Typ DC10 besaß wie der Austro-Daimler Vorderradbremsen eine Cantilever-Hinterradfederung (oft verdeckt, aber nicht immer), zudem waren Drahtspeichenräder mit Rudge-Zentralverschlussmutter als Extra erhältlich.

Vor allem aber gab es ihn mit einem sportlichen Tourenwagenaufbau, welcher dem des Austro-Daimler ADM sehr ähnlich sieht (Beispiel hier).

So ist am Ende der kuriose Befund zu konstatieren, dass „Franzy“ einst mit einem Franzosen unterwegs war, während ihr Mann im Dienst des Vaterlands irgendwelche Truppenübungsplätze frequentierte.

Festzuhalten bleibt: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – aber Goethe macht im Faust aus der Not gewandt auch eine Tugend, indem er sagt: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen. Ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Genauso verhält es sich: Alles vermeintliche Wissen ist vordergründig und vorläufig – daher traue man keinem Hohenpriester, der drohend ewige Wahrheiten verkündet, und auch keinem „Experten“, der selbstgewiss und mit schönen Worten bisweilen Irrtümer predigt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Macht Appetit auf mehr: Talbot 11CV „Six“

Nanu, nach dem letzten Blog-Eintrag zum Citroen 8CV schon wieder etwas zu einem „Franzosen“wagen? Warum nicht – das Gefährt aus Kölner Produktion war ja fast schon ein deutsches Auto.

Außerdem habe ich als Besitzer einiger französischer Vorkriegsmobile durchaus ein Faible für die große Tradition unserer linksrheinischen Nachbarn. Da bekommt man schnell Appetit auf mehr.

Einige Leser erinnern sich bestimmt an diese charmante Aufnahme, die ich vor einiger Zeit hier besprochen habe:

Talbot DC10; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Solche historischen Fotos voller Leben sind das Salz in der Suppe für den Liebhaber von Vorkriegsautomobilen – da kann einem das technisch perfekteste Werksfoto gestohlen bleiben.

Bei dem Talbot mit der Reifenpanne handelte es sich um das Modell DC 10 der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Es verfügte über ein Vierzylinderagreggat mit 1,6 Liter Hubraum, das dank hängender Ventile eine für damalige Verhältnisse lebhafte Charakteristik aufwies.

Wer dennoch Appetit auf mehr Leistung hat, kommt heute auf seine Kosten. Doch zuvor will das Thema anhand der folgenden Aufnahme vorbereitet und vertieft werden.

Zugegeben, auf den ersten Blick ist das eine etwas blass daherkommenden Limousine, die im September 1926 abgelichtet wurde:

Talbot Typ DC10; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nur mit Mühe ließ sich der Wagen anhand des schemenhaft erkennbare Kühleremblems als Talbot identifizieren. Die Historie der Marke, die zu den kompliziertesten überhaupt gehört, lasse ich heute außen vor, denn wir haben Appetit auf mehr Material.

Passend dazu hält der Bursche am linken Bildrand zwei prächtige Weißbrote im Arm – man kann sich auch nach fast 100 Jahren noch den Duft vorstellen, der ihm in die Nase steigt, wenn er gerade vom Bäcker gekommen ist.

Auf dem Heimweg hat er sich noch rasch auf das Foto geschmuggelt, sofern er nicht einen uns unbekannten Bezug zu dem Wagen oder seinen Insassen hatte.

Technisch verdrahtete Männergehirne mögen bei zwei Baguettes vielleicht die Assoziation zweier zusätzlicher Zylinder produzieren und nun entsprechenden Appetit verspüren.

Die Hirne hinter der Marke Talbot müssen ähnlich gedacht haben, denn 1927 brachte man einen 2-Liter-Typ auf den Markt, der nun sechs statt vier Zylinder aufwies und damit in Konkurrenz zu den US-Wagen trat, die damals auch am französischen Markt einschlugen.

Die offizielle Bezeichnung dieses neuen Typs M 67 lautete TALBOT 11 CV Six. Er wurde bis etwa 1930 kaum verändert gebaut, weshalb ich mich schwer damit tue, das Exemplar auf folgender Aufnahme zeitlich näher einzugrenzen:

Talbot 11CV „Six“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zur Identifikation muss ich in diesem Fall keine Worte verlieren, der Schriftzug auf dem Kühler sagt alles. Nicht immer hat man es so leicht, nicht immer auch will man es so leicht haben – doch ergibt man sich gern der Leichtigkeit, wenn sie so lässig daherkommt wie hier.

Der Talbot ist zwar bei dieser hübschen Picknick-Situation nur ein Statist, doch macht er auch als solcher so gute Figur, dass er unbedingt mit auf’s Foto musste.

Wir sind dem unbekannten Schöpfer dieses wohlinszenierten „Schnappschusses“ dankbar für seinen guten Geschmack und bekommen beim Anblick dieses Familienidylls vielleicht selbst Appetit auf mehr.

Leider kann ich derzeit nicht mehr auftischen, was Fotos dieses Sechszylindermodells von Talbot angeht, doch die Cousins Jarek und Maciek Peda aus Polen können einspringen.

Sie kauften nämlich 2016 ein unrestauriertes Exemplar eines Talbot 11CV Six, überholten das Cabriolet in zweijähriger Arbeit technisch, fertigten das weitgehend fehlende Interieur nach und konservierten das Äußere des Wagens lediglich (siehe hier).

Das Ergebnis ist ganz wunderbar und macht sicher nicht nur den Freunden von Vorkriegs-Talbots Appetit auf mehr: https://www.youtube.com/watch?v=wUjCetbUw6c

© Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Reifenpanne auf französisch: Talbot Typ DC10

Eigentlich stehen in meinem Blog Vorkriegsautos im Mittelpunkt, die einst die Straßen im deutschsprachigen Raum bevölkerten.

Schon dabei zeichnet sich eine geradezu tropische Markenvielfalt ab – in erster Linie aufgrund der unzähligen US-Hersteller, deren Wagen vor allem in den 1920er Jahren einen Großteil der Nachfrage am deutschen Markt absorbierten.

Doch ab und zu erlaube ich mir auch einen Blick ins benachbarte Ausland, wenn es um Fabrikate geht, denen man in den deutschsprachigen Ländern kaum begegnete. Das gilt unter anderem für französische Hersteller der zweiten Reihe.

Während Wagen von Citroen, Peugeot und Renault auch östlich des Rheins gern gekauft wurden und selbst Exoten wie Amilcar und Salmson mangels inländischer Konkurrenz guten Anklang fanden, herrscht bei anderen Herstellern Fehlanzeige.

Der französische Wagen, den ich heute anhand zwei charmanter Originalfotos aus meiner Sammlung vorstellen will, ist ein gutes Beispiel dafür:

Talbot Typ DC 10; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was sehen wir hier? Nun, zunächst eine Limousine mit französischem Kennzeichen, die irgendwo auf einer staubigen Landstraße mit einer Reifenpanne liegengeblieben ist.

Die heitere Atmosphäre, die diese schöne Aufnahme konserviert hat, lässt erkennen, dass man so etwas mit Gelassenheit nahm. Ein Plattfuß gehörte lange Zeit zu den unvermeidbaren Defekten, mit denen der Automobilist zu rechnen hatte.

Wer keinen Fahrer hatte – was nach dem 1. Weltkrieg immer häufiger der Fall war – musste selbst Hand anlegen können. Entweder montierte man ein Ersatzrad oder reparierte den Reifen bzw. Schlauch an Ort und Stelle.

Letzteres scheint hier der Fall zu sein – das Rad mit dem platten Reifen scheint einen neuen Schlauch zu erhalten. Vielleicht war der Defekt am alten Schlauch zu groß, um mit Bordmitteln behoben werden zu können.

Jedenfalls wusste sich der junge Mann mit gestreifter Krawatte zu helfen – vermutlich nahm er die Sache sportlich.

In solchen Fällen war die Rollenverteilung klar: Ein reiner Radwechsel ist eine Sache, doch einen neuen Schlauch einziehen war eine kraftraubende Tätigkeit, die die Damen gern ihrem Begleiter überließen.

Natürlich gab es damals auch Frauen, die das konnten – und mit Sicherheit mehr als heute – aber das waren Sportfahrerinnen, für die solche Arbeiten dazugehörten.

Die beiden feinen Damen, die uns hier über einen Abstand von mehr als 90 Jahren so jugendfrisch und freundlich entgegenlächeln, werden sich dagegen kaum darum gerissen haben, ihrem Begleiter die Gelegenheit zu nehmen, sich zu bewähren.

Dabei gehörten sie einer emanzipierten neuen Generation an. Das war schon an der radikal geänderten Mode der Nachkriegszeit abzulesen. Ausladende Hüte waren passé, man schützte allenfalls auf Reisen die Haarpracht mit Kappen oder Tüchern.

Die Rocklänge hatte sich in erfreulicher Weise verkürzt, doch zugleich hatte ein boshafter Modeschöpfer eine wenig schmeichelhafte Idee durchgesetzt: Die Gürtellinie der Kleider war von der Taille auf die Hüften gerutscht.

Das Ergebnis waren sackartige Kleider, die meist unmöglich aussahen, aber wegen ihrer radikalen Neuigkeit eine Weile Anklang fanden. In unseren Tagen gibt es ja auch verirrte Geister, die die Unterwerfung unter eine bestimmte, von religiösen Fanatikern erfundene Kleiderordnung als „Befreiung“ der Frauen feiern…

Zurück zu unserem Pannenauto: Es handelt sich um einen französischen Talbot – wahrscheinlich um das Erfolgsmodell DC 10 der ersten Hälfte der 1920er Jahre.

Zur verwickelten Geschichte der Marke an dieser Stelle soviel:

Der Markenname Talbot taucht kurz nach dem 1. Weltkrieg auf. Damals hatte die mittlerweile britische Muttergesellschaft der französischen Darracq-Werke eine ebenfalls in England ansässige Firma erworben, die ab 1903 Wagen der französischen Marke Clément importiert hatte und diese als Clément-Talbot vermarktete.  Später baute diese englische Firma eigene Autos unter der Marke Talbot.   

Ab 1920 wurden die weiterhin in Frankreich gebauten Wagen der in britischer Hand befindlichen Darracq-Werke ebenfalls als Talbot angeboten. Neu konstruiert wurde zunächst der spektakuläre Typ A mit V8-Motor, der bis 1922 gebaut wurde.

Doch bot man unter der Marke Talbot parallel das Vierzylindermodell Typ B10 an, das zwar nur 1,6 Liter Hubraum besaß, aber mit im Zylinderkopf hängenden Ventilen eine sportliche Charakteristik aufwies, die mit 2-Liter-Wagen mithalten konnte.

Der Typ B wurde etwas verfeinert und dann als DC 10 gebaut, der sich unter anderem durch Vorderradbremsen auszeichnete. Auch waren hier Drahtspeichenräder mit Rudge-Zentralverschlussmutter als Extra erhältlich.

Mit so einem Talbot Typ DC10 haben wir es hier sehr wahrscheinlich zu tun. Und wir haben Glück, dass ein zweites Foto erhalten geblieben ist, das diesen Wagen zeigt:

Talbot Typ DC 10; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir wieder  – nun aus etwas anderer Perspektive – die beiden Damen und den zu ihren Füßen fleißig am Rad arbeitenden Herrn.

Dass man diese Panne als unterhaltsame Unterbrechung einer Fahrt irgendwo im sonnenverbrannten Fankreich verstand, zeigt diese Aufnahme noch mehr als die erste.

Den Schatten nach zu urteilen stand die Sonne sehr hoch und dürfte unseren Talbot-Passagieren kräftig auf’s Haupt gebrannt haben. Doch wahrte man die Contenance und eine der beiden Damen zeigt sich sogar hilfsbereit an der Luftpumpe.

Möglich, dass gerade die Dichtigkeit des Schlauchs geprüft wurde, der sich noch außerhalb des Mantels befand, sonst ergibt die Aufnahme wenig Sinn. Vielleicht ist die Situation aber auch nur gestellt.

So oder so sind das zwei wunderbare Zeugnisse aus einer Zeit, in der eine Reise mit dem Automobil in Europa noch eine exklusive Angelegenheit war, die einiges Können voraussetzte. Überhaupt war die Alltagskompetenz der Vorkriegs-Automobilisten mangels Navigationsgeräten, Abschleppdienst und Einparkhilfen beachtlich.

Auch wenn der Typ DC 10 mit fast 7.000 Exemplaren das meistgebaute Talbot-Modell war, wäre man als Besitzer im Frankreich der 1920er Jahre „aufgeschmissen“ gewesen, wäre ein Defekt aufgetreten, der nicht vor Ort behoben werden konnte. 

Solche Ausfälle müssen die Ausnahme gewesen sein. Anders sind die vielen Fotos nicht zu erklären, die Automobile jener Zeit auf Ausfahrten fernab der Großstädte zeigen.

Einem Talbot der 1920er Jahre und seinem Fahrer konnte man sich anvertrauen – es konnte nichts geschehen, das man(n) nicht unterwegs selbst beheben konnte, das verraten diese heiteren Aufnahmen einer Reifenpanne irgendwo in Frankreich…

Quelle der Fahrzeugdaten: Gazoline, 13. Dezember 2017

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Videoporträt: Talbot-Lago T26 Grand-Prix-Wagen

Neben der Pflege der lokalen Klassikerkultur in der Wetterau – zwischen Taunus und Vogelsberg – widmet sich dieser Blog schwerpunktmäßig Automobilen der Vorkriegszeit. Sie sind in der aktuellen Spekulationsblase um Sportwagen der 1950-70er Jahre, die früher oder später enden wird, in den Hintergrund gerückt.

Doch für viele Enthusiasten sind Vorkriegswagen nach wie vor das Salz in der Suppe: eine unglaubliche Markenvielfalt, raffinierte Karosserien, verwegene Konstruktionen und ein intensives Fahrerlebnis selbst bei relativ wenig Leistung, das bieten so nur die Veteranen-und Vintage-Fahrzeuge von der Jahrhundertwende bis Kriegsausbruch.

© Vorkriegsautomobile; Bildrechte: Michael Schlenger

Wer sich für die aus heutiger Sicht untermotorisierten Fahrzeuge deutscher Hersteller jener Zeit nicht erwärmen kann, wird möglicherweise über die Leistungsfähigkeit bezahlbarer amerikanischer Wagen der 1930er Jahre überrascht sein.

Wer es richtig krachen lassen will – allerdings auch auf dem Bankkonto – kann sich einen Rennwagen in Vorkriegstradition anschaffen, falls er einen findet. Ein solches Auto soll hier präsentiert werden, auch wenn es erst nach dem Krieg zum Einsatz kam.

Die Rede ist vom Grand-Prix-Wagen T26 der Marke Talbot-Lago. Wer jetzt an einen der unsäglichen Talbots der 1970er/80er denkt, vergisst das bitte ganz schnell wieder. Die Marken haben außer dem Namen nichts miteinander zu tun.

Begegnet ist der Verfasser den großartigen Talbot-Lago-Rennwagen bereits mehrfach: erst beim Festival de l’Automobile 2013 im elsässischen Mühlhausen und dann auch im scharfen Renneinsatz beim Goodwood Revival Meeting in Sussex (Südengland):

© Talbot-Lago T26 Grand-Prix-Wagen in Mühlhausen (2013) und Goodwood (2015); Bildrechte: Michael Schlenger

Kurz zur Geschichte dieses Typs: Die Rennausführung des Talbot-Lago T26 kam 1948 erstmals zum Einsatz. Der klassische Monoposto trug noch in jeder Hinsicht Vorkriegsgene in sich. Ein Beispiel dafür sind die verrippten Bremstrommeln, die damals Stand der Technik waren.

Der größte Rennfahrer der Zwischenkriegszeit – Tazio Nuvolari – sagte einmal, man gewinne ein Rennen nicht mit den Bremsen, daher jetzt zur Motorleistung: 280 PS aus einem 6-Zylinder mit 4,5 Liter Hubraum sind auch heute noch ein Wort.

Gemessen an der Konkurrenz der Nachkriegszeit war das zwar unterdurchschnittlich, doch der Talbot-Lago machte sich rasch einen Namen durch seine Zuverlässigkeit. Die Wettbewerber von Alfa-Romeo & Co. mögen schneller gewesen sein, doch die Talbots hielten öfter durch, auch ohne Boxenstopp.

Das brachte dem T26 in seiner Glanzzeit bis Anfang der 1950er Jahre etliche Siege bei Grand-Prixs und den 24-Stunden -Rennen von Le Mans ein.

Eine Ahnung von der Leistungsfähigkeit dieser herrlichen Rennwagen vermittelt das folgende Videoporträt. Darin stellt der Niederländer Han Brouwers seinen Neuerwerb vor und erzählt von seiner Leidenschaft für Vorkriegsklassiker:

© Talbot Lago T26 GP-Wagen, gefilmt von CineCarsTV; Videoquelle: youtube.com

Die Fahrszenen belegen, was der sympathische Besitzer sinngemäß auf Holländisch sagt: „Der Wagen ist sauschnell.“ Hoffen wir, dass wir dieses prachtvolle Auto möglichst oft auf Europas historischen Rennstrecken zu sehen bekommen.

Danke in diesem Zusammenhang an Michael Buller, auf dessen Vorkriegs-Oldtimer-Blog der Verfasser auf dieses schöne Video stieß. Michi ist in Sachen Vorkriegs-Sportwagen ein echtes Trüffelschwein, wenn man das so sagen darf.