Gibt es im Jahr 2024 noch Bahnhofsbuchhandlungen? Ich frage deshalb, weil ich – einst passionierter Bahnfahrer – die deutsche Staatseisenbahn seit gut 10 Jahren mit Ignoranz strafe. Die Gründe dafür sind, sagen wir: vielfältig, und bedürfen keiner Vertiefung.
In meinem früheren Pendlerdasein ergab sich öfters die Gelegenheit, mir die Zeit bis zur Abfahrt im Bücherangebot auf dem Hauptbahnhof zu Frankfurt am Main zu vertreiben. Meist landete ich in der Ecke mit Reiseführern und Kartenmaterial. Doch auf dem Weg dorthin kam ich nicht umhin, die Titel typischer Trivialliteratur zur Kenntnis zu nehmen.
Das ging etwa nach diesem Schema: „Die Mumie aus dem Moor„, „Der Heiler vom Berg“ „Das Grauen im Spiegel“ usw. Sollte ich jemals in die Verlegenheit geraten, meinen Lebensunterhalt mit der Fließbandproduktion von Kriminal-, Geister- oder Ärzteromanen verdienen zu müssen, weiß ich schon einmal, wie man einen zugkräftigen Titel findet.
So sind sie doch auch schon ganz begierig zu erfahren, was es mit dem „Rätsel vom Furka-Pass“ auf sich hat, nicht wahr?
Sie werden es nicht bereuen, darauf hereingefallen zu sein und können sogar eine hübsche Aufgabe lösen, an der ich aus Zeitmangel gescheitert bin. Das ist tatsächlich der einzige Preis, den Sie bisweilen bezahlen müssen, um weiter in den kostenlosen Genuss meiner nächtlichen Berichte aus der Wunderwelt der Vorkriegsautos zu gelangen.
Los geht’s – wir haben noch einen hübschen Weg vor uns, also ist nur Zeit für einen kurzen Schnappschuss, bevor wir uns zum Furka-Pass aufmachen:

Na, würden Sie hier bereits Hersteller und Typ des Autos erkennen, dessen Frontpartie so wirkungsvoll in diese Gruppenaufnahme einbezogen wurde?
Rein von der Chronologie her betrachtet, liefert uns der seitlich weit heruntergezogene Kotflügel eine grobe Orientierung. Solche Kotflügel“schürzen“ finden sich erstmals beim amerikanischen Graham „Blue-Streak“ des Modelljahrs 1932.
Schon ab 1933 findet man kaum noch ein deutsches Fabrikat, das etwas auf sich hielt, welches nicht ebenfalls dieses neue Detail aufwies, das einer von vielen kleinen Schritten zur modernen Karosserie war, wie sie noch vor Kriegsende in den Staaten definiert wurde.
Bloß bei der Identifizierung hilft uns diese Beobachtung nicht weiter. Doch vielleicht haben Sie das schemenhaft erkennbare geflügelte „W“ auf der Radkappe des Ersatzrads bemerkt – Hinweis auf einen „Wanderer“ aus dem deutschen Auto Union-Verbund.
Jetzt wissen wir schon einmal, wo wir weitersuchen müssen. Zwei Dinge liefern die entscheidenden Hinweise. Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Modellen von Wanderer, zuletzt dem Typ W21 bzw. W22 von anno 1933, wartete der Hersteller ab 1936 mit einem komplett neugestalteten Sechszylinderwagen auf.
Dieses neue Modell W51 (2,3 Liter, 55 PS) bzw. später W52 (2,6 Liter, 62 PS) bot neben autobahntauglicher Dauergeschwindigkeit von deutlich über 100 km/h eine Karosserielinie, die sich am Vorbild damaliger US-Vorbilder orientierte.
Dazu gehörte eine bullige Kühlerpartie, die nichts mehr mit der klassischen Formgebung der Vorgänger gemein hatte. Wie das von vorne aussah? Geduld, wir kommen am Ende dazu.
Erst einmal gilt es, zum Furka-Pass zu gelangen, welcher die Verbindung von der südwestlichen Schweiz in Richtung Andermatt und Gotthard herstellt. Dort sehen wir den eingangs noch etwas scheuen Wanderer nun auf gesamter Länge:
Moment einmal, mögen Sie jetzt sagen: Der Wagen hat hier ja ganz andere Felgen und auch die Chromradkappen sind abhandengekommen.
Gewiss, aber die beiden Damen sind dieselben wie die in der Mitte auf dem ersten Foto, nicht wahr? Rätselhaft..
Ich habe diese Fotos zusammen mit einem dritten erworben, und sie alle zeigen einen Wanderer W51 bzw. W52 (äußerlich kaum zu unterscheiden) von 1936/37.
Es müssen einige Jahre zwischen den Aufnahmen liegen. Die zusammengewürfelte Kleidung der jüngeren der beiden Damen sowie der Zustand des Autos sehen mir nach früher Nachkriegszeit aus.
Nun fragt man sich: Woher kam dieser Wanderer, als er auf der Furka-Pass in der Schweiz fotografiert wurde?
Einen Hinweis gibt der umseitige Stempel eines Fotoladens aus Schönheide in Sachsen. Das war freilich in der Ostzone, die man auch vor dem Bau der Mauer nicht ohne weiteres verlassen konnte, außerdem brauchte man für so eine Auslandstour rare Devisen.
Sie verstehen nun sicher, warum ich mich für den Titel „Das Rätsel vom Furka-Pass“ entschieden haben – oder Sie haben eine Erklärung, auf die ich nicht gekommen bin.
Den Schlüssel zur Lösung sollte letztlich das dritte Bild aus dieser kleinen Reihe enthalten, das jedoch zugleich ein neues Rätsel aufgibt:
Was meinen Sie? Ein großartiges Foto auf jeden Fall, meine ich, auch wenn es für mich mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Sicher kann jemand über das Nummernschild herausfinden, wo dieser alte Wanderer zugelassen war. Als Datierung der Situation würde ich „um 1960“ vorschlagen, wobei ich mich vor allem an der Frisur der jungen Dame ganz links orientiere.
Das Auto war zum Aufnahmezeitpunkt rund 25 Jahre alt, es muss aber noch so zuverlässig gewesen sein, dass seine Besitzer ihm eine solche Fernreise in den Süden zutrauten. Dass wir uns irgendwo in einer großen Hafenstadt in Südfrankreich oder Italien – vielleicht Ligurien – befinden, das ist meine vorläufige Einschätzung.
Aber wo entstand dieses Foto wirklich? Das Gebäude im Hintergrund mit den orientalisch anmutenden Spitzbögen sollte den entscheidenden Hinweis geben.
Ich bin gespannt, was an Lösungsvorschlägen für das heutige „Rätsel vom Furka-Pass“ eintrudelt – nutzen Sie bitte dazu die Kommentarfunktion. Und wenn Ihnen auch sonst noch etwas ein- oder auffällt, nur zu!
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Dankesehr!
Vermutlich ist es ein Wanderer W51 Spezial Limousine 6-Fenster 02/1936 von Reutter/Stuttgart.Bei den ersten Fahrzeug sind noch die alten Radkappen vom Wanderer W50 verbaut.
Am Furka sehen auch die Lampentöpfe dunkler aus …
Die Umbenennung in K.-M.-St. (ausgesprochen KaMSt) erfolgte 1953, und ab 1956 genügte der eine Buchstabe T nicht mehr, daher kann das Bild in Genua frühestens 1956 entstanden sein. Vielleicht sind die älteren, schöneren originalen Felgen hier erst später montiert worden, nachdem das Furkapaßbild schon ein paar Jahre früher entstand ?
Sehr schön erzählt und plausibel!
Irgendwie passt da was nicht zusammen. auf dem ersten und dritten Bild hat der Wanderer gelochte Felgen und Radkappen, auf dem Furka-Pass nicht. Man sieht am Furka, der Wanderer ist beladen bis Oberkante Unterlippe. Auf dem 1 Bild tragen Mutter und Tochter ein Kleid aus dem gleichen Stoff und dem gleichen Schnitt, die Frauenzeitungen wimmelten damals von Schnittmuster-Bögen zum Selberschneidern. Das Kleid taucht immer wieder auf. Ich verstehe das nicht und ich komme nicht weiter.
Gut: Wir wissen, es gibt einen Bezug des Wanderers bzw. des Personals zum (Klein-)Industrie- und Kur- Städtchens Schönheide. Das liegt im heutigen Erzgebirgskreis in der westlichsten Ecke des DDR- Bezirks Karl- Marx- Stadt.
Das auf dem dritten Foto der kleinen Familien- Chronik präsentierte Kennzeichen ist jedoch im Kreis K.-M.- Stadt- Land vergeben worden .
Gehen wir also davon aus , die dominierende Dame mit der Vorliebe für geblümte Sommerkleider war Unternehmerin,
vielleicht in der Textilbranche, und hatte eine Hotel- Beteilungung im Städtchen Schönheide und neben der Vorliebe für die weibliche Verwandschaft auch eine solche für das sonnige Italien.
Denn unternehmungslustig war sie ja, die über die Jahre dezent gealterte Dame mit ihrem stolzen und haltbaren Wandererwagen, der neben dem urlaubsfrohen Golde- Schiebedach sogar über einen
Radio- Empfänger verfügte.
Ebenso wie seine Herrin bekam er mit den Jahren nur Probleme mit dem Laufwerk: Wir sehen ihn
mit drei verschiedenen Radsätzen, die von Beschlagnahmung der Räder im Krieg, notdürftiger Inbetriebnahne Ende der Vierzigerjahre und dem Glücksgriff eines guterhaltenen Radsatzes der letzten Serie dieser schönen Wagen der gehobenen Mittelklasse, erkenntlich an den großen Radkappen, erzählt .
Kein Wunder, daß sie die Reisegenehmigungen als Geschäftsfrau mit Kundschaft im westlichen „Ausland“ auch für Vergnügungsreisen in die Sommersonne nutzte….
Danke für die Korrektur in Sachen Motorhaube und den Hinweis auf den möglichen Zulassungsbezirk!-
Ausgezeichnet, vielen Dank!
Ich bin jedes mal begeistert von den Texten und Bildern dieser grandiosen „Groschenromane“ hier, welche mich nicht mal einen Pfennig kosten…Es handelt sich im letzten Bild um die Villa Figari in Genua.
Woher die interessante Damenmannschaft kam, weiß ich jedoch nicht zu entschlüsseln.
Betreffs der Öffnung der Motorhaube ist wie auch beim W23 und W24 noch die Zweiteilung der Motorhaube vorhanden, sodaß das Klappscharnier vom geflügelten W als Kühlerfigur auf die Sprosse der Windschutzscheibenteilung hin verläuft. Der Kühlergrill zeigt breitere Streben sowohl quer als auch längs verlaufend, weshalb ich hier eher den W52 vermute, da der W51 wie ähnlich beim DeSoto SC nur die quer verlaufenden Streben hervorhob. Die Kennzeichenbuchstaben TM legen, sofern der DDR zugehörig, eine Zulassung in oder rundum Chemnitz nahe; so wäre auch Siegmar-Schönau als einstiger Herstellungsort denkbar. Bei örtlicher Zuordnung über den Fotoladen hätte das Kennzeichen TB statt TM gelautet; für den bärenstarken Sechszylinder mit 2,7 Liter Hubraum sind die 50 km kein Hindernis, denn wie eindrucksvoll belegt, kam er auch über den Furkapaß !