Ein Fall für Forscher: Selve Sport-Zweisitzer um 1925

Haben Sie schon einmal vom Flieger und Forscher Gunther Plüschow gehört? Nein? – Ich auch nicht, bis ich heute auf seinen Namen stieß.

Seine Vita bietet genügend Stoff für einen Roman oder einen Abenteuerfilm – leider ein Genre, auf das man sich hierzulande nicht versteht. Vermutlich gilt es als „nicht intellektuell genug“ im Land der kompliziertesten und unverständlichsten Denker.

Dass ich die oberflächliche Bekanntschaft dieses faszinierenden Charakters machen konnte, der im 1. Weltkrieg das Kunststück vollbrachte, aus der Gefangenschaft in England zu entkommen, und der Ende der 1920er Jahre als erster mit dem Flugzeug die Feuerlandregion in Südamerika erkundete, das verdanke ich einem anderen Forscher.

Ich weiß nicht, ob er diese Bezeichnung für sich in Anspruch nehmen würde, aber was Wolfgang Spitzbarth auf seiner Internet-Präsenz zum Automobilkonstrukteur Karl Slevogt zusammengetragen hat, ist für mich jedenfalls das Ergebnis jahrelangen Forschergeistes.

Slevogt hinterließ Spuren bei mindestens acht Autoherstellern aus dem deutschsprachigen Raum und stellt damit ähnlich „bewegte“ Kollegen wie Ferdinand Porsche oder auch Paul Henze in den Schatten.

Mir begegnete er jüngst wieder bei der Beschäftigung mit der heute kaum noch bekannten Marke Selve, unter der in Hameln von 1919-29 Automobile entstanden, die mit Motoren der Muttergesellschaft Basse & Selve (Altena) ausgerüstet wurden.

Einige Reihe von Fotos der frühen Modelle aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre konnte ich bereits präsentieren – hauptsächlich die Vierzylindertypen 6/20 bzw. 6/24 PS.

Man erkennt die Selve-Wagen der frühen 20er Jahre an dem markanten Emblem. welches auf einer geneigten Fläche auf der „Nase“ des Kühlergehäuses angebracht war. Wie das Emblem selbst aussah, das vermittelt vorbildlich die Website von Claus Wulff aus Berlin, dessen Sammlung von Kühleremblemen die wohl am besten für das breite Publikum aufbereitete ist – ich profitiere immer wieder davon.

Hier haben wir nun beispielhaft die Aufnahme eines sochen frühen Selve:

Selve 6/20 PS oder 6/24 PS, Bauzeit: 1919-1923; zugelassen in Westfalen, Originalfoto aus Familienbesitz (Peter Graß)

Für die Identifikation als Selve wichtige Details sind die bei deutschen Autos jener Zeit einzigartigen Parkleuchten am Ende der Motorhaube und die sonst nur bei Hansa zu findenden hoch angebrachten Griffmulden in der Haube. Wie bei deutschen Autos jener Zeit Standard, besaß auch dieser Selve noch keine Vorderradbremsen.

Erstaunlich anders präsentiert sich nun ein Selve, der nur kurz danach entstand – ich datiere ihn auf etwa 1925/26. Das Foto verdanke ich Leser Matthias Schmidt, auf seine Weise ebenfalls ein langjähriger Forscher auf den Spuren deutscher Vorkriegswagen.

Nur das erwähnte Markenemblem sowie dessen Anbringung und Platzierung ermöglichten hier die Ansprache als Selve – ansonsten ist dieser Wagen ohne Vergleich, auf den ersten Blick jedenfalls:

Selve Sport-Zweisitzer von ca. 1925/26; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ein Selve ist das der Kühlerpartie nach zu urteilen eindeutig. Keine Einwände von sachkundigerer Seite? Gut, doch damit verlassen wir auch schon das gesicherte Gelände.

Wenn es an die „terra incognita“ – also die unbekannten Gefilde geht, die noch keiner je zu Gesicht bekommen hat und die auf alten Karten gern mit wilden Phantasiekreaturen bevölkert wurden, dann sind echte Forscher gefragt.

Im vorliegenden Fall gilt das ganz besonders, wie wir noch sehen werden.

Doch zunächst gilt es festzuhalten, was wir hier außer der vertrauten Kühlerpartie sehen: Ins Auge fallen vielleicht zuerst die Bremstrommeln an den Vorderrädern – von wenigen Ausnahmen abgesehen bei deutschen Fabrikaten erst ab 1925 in der Breite verfügbar.

Wie es der Zufall will, war damals der eingangs erwähnte Karl Slevogt als neuer Konstrukteur bei Selve verpflichtet worden (ab Oktober 1924) und er sorgte schon 1925 für neue Modelle mit verbesserten Chassis und Fahrwerken sowie stärkeren Motoren.

Verfügbar waren nun die Motorisierungen 8/35 bzw. 9/36 PS in Verbindung mit Vierradbremsen. Doch auch eine ältere Sportausführung mit Spezifikation 8/40 PS war im Angebot und Karl Slevogt setzte diese persönlich erfolgreich bei diversen Rennen ein.

Das wirft aus meiner Sicht die Frage auf, womit wir es bei dem auf dem Foto von Matthias Schmidt abgebildeten Selve zu tun haben, den wir hier endlich in Gänze sehen:

Selve Sport-Zweisitzer von ca. 1925/26; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

So muss ein Sportwagen aussehen, nicht wahr? Langer Vorderwagen, endlose Motorhaube und ein auf’s Nötigste beschränktes Piloten-Cockpit sowie Tank und Reserverräder in der hinteren Hälfte.

In der gedruckten Literatur konnte ich nichts Entsprechendes finden – nur eines fiel mir auf: der Vorderwagen mit den 10 großen Entlüftungsschlitzen in der Motorhaube findet sich fast exakt so bei den erwähnten neuen Selve-Modellen 8/35 PS bzw. 9/36 PS sowie bei der 6-Zylinderversion 11/45 PS, welche ebenfalls von Karl Slevogt geschaffen wurde.

Aber: Der Radstand des Zweisitzers auf dem Foto von Matthias ist erheblich kürzer als bei den Serienausführungen der erwähnten Selve-Typen.

Das eröffnet aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten: Entweder bot man auf verkürztem Chassis eine sportlich aussehende Ausführung der von Slevogt entwickelten Typen 8/35 bzw. 9/35 PS an oder die bereits vorhandene Sportversion 8/40 PS wurde weitergebaut.

Dazu würde passen, dass diese über einen kürzeren Radstand verfügte (3,10 m statt 3,25), wobei mir diese Differenz immer noch zu gering vorkommt. Überhaupt sieht mir das Gerät stark nach einer Spezialversion aus, wie sie vielleicht nur auf Wunsch gefertigt wurde.

An dieser Stelle kommen wir wieder auf das Thema „Forscher“ zurück. Denn es gibt ein Foto des eingangs erwähnten Gunter Plüschow in seinem Selve-Sportwagen, der über eine identische Karosserie verfügt zu haben scheint.

Allerdings bezieht sich dies nur auf diesen Ausschnitt:

In einer ganz ähnlichen Situation findet sich Flieger und Forscher Gunther Plüschow auf einem Foto, das ihn in seinem Selve zeigt.

Um es zu finden, muss man selbst etwas Forschergeist an den Tag legen, denn es versteckt sich im Abschnitt „Selve 1924-28“ auf Wolfgang Spitzbarths Website zu Karl Slevogt.

Da ich an diesem Punkt das Territorium einigermaßen gesicherten Wissens verlasse, übergebe ich an dieser Stelle an die Forscher unter meinen Lesern – vielleicht kann uns jemand genau sagen, was es mit dem mysteriösen Selve Sport-Zweisitzer auf sich hat.

Es wird doch am Ende nicht Gunther Plüschow selbst darin sitzen? Das wäre ein fabelhaftes Ergebnis von Forschergeist. Aber auch jede andere fundierte Einschätzung ist mir willkommen – bitte dafür wie immer die Kommentarfunktion nutzen.

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

10 Gedanken zu „Ein Fall für Forscher: Selve Sport-Zweisitzer um 1925

  1. Guten Tag,
    es immer wieder spannend, WO überall GUNTHER PLÜSCHOW erwähnt wird. Mein Name ist Gerhard Ehlers und habe 2022 die erste Nachkriegsbiografie des Fliegers von Tsingtau geschrieben.
    In meinem Archiv befinden sich einige gute Fotos von Plüschow mit/in Autos. Kontaktieren Sie mich. Gruß Gerhard H. Ehlers

  2. Bei Selve in Hameln gab es nie eine Motoren-Fertigung, die Motoren wurden bei Basse & Selve in Altona gebaut, mit oft unterirdischer Qualität, wie Karl Slevogt berichtet.
    Die Motoren für seine Rennwagen (und für besondere Kunden) wurden daher in Hameln zerlegt, geprüft, modifiziert und leistungsgesteigert.
    Geld verdienen konnte man aber auf diesem Wege keinesfalls.
    Diese Autos erschienen nie in irgendwelchen Katalogen !

  3. In Kiel gibt es einen „Plüschow-Hafen“ an der Kieler Förde . Und das hat einen Grund :
    Auszug der Internetseite der Seglergemeinschaft der Marineflieger :

    Plüschow wurde am 08.02.1886 als Sohn eines Offiziers in München geboren. Am 01.04.1896 wurde er an der militärischen Kadettenanstalt in Plön aufgenommen, erlangte dort das Fähnrichsexamen und wurde Mitglied der Crew 1904. Bei Beginn des 1. Weltkrieges erwarb er sich durch seine Aufklärungsflüge um den deutschen Flottenstützpunkt in China den Namen „Flieger von Tsingtau“. Später wurde er Leiter der Seefliegerabteilungen Holtenau, Libau und Putzig. Im Jahr 1917 wurde er an die Seefliegerstation Holtenau versetzt und empfing dort 1918 die Kaiserin auf ihrem letzten Besuch bei der Marine. Gunther Plüschow schied am 22.11.1919 als Korvettenkapitän aus der Marine aus und ver

  4. In Kiel gibt es einen Bereich im Hafen , der nach Plüschow benannt wurde . P. war mal Leiter der Seefliegerabteilung in Kiel Holtenau .
    Auszug von der Internetseite der Segelgemeinschaft der Marineflieger in Kiel :

    Plüschow wurde am 08.02.1886 als Sohn eines Offiziers in München geboren. Am 01.04.1896 wurde er an der militärischen Kadettenanstalt in Plön aufgenommen, erlangte dort das Fähnrichsexamen und wurde Mitglied der Crew 1904. Bei Beginn des 1. Weltkrieges erwarb er sich durch seine Aufklärungsflüge um den deutschen Flottenstützpunkt in China den Namen „Flieger von Tsingtau“. Später wurde er Leiter der Seefliegerabteilungen Holtenau, Libau und Putzig. Im Jahr 1917 wurde er an die Seefliegerstation Holtenau versetzt und empfing dort 1918 die Kaiserin auf ihrem letzten Besuch bei der Marine. Gunther Plüschow schied am 22.11.1919 als Korvettenkapitän aus der Marine aus und ver

  5. Klasse, danke, die Ausführung kannte ich noch nicht! Das war dann auch die Grundlage für die Stromlinienversionen, mit denen Slevogt selbst Rennen fuhr, richtig?

  6. der Selve SL80 war eine spezielle „Rennausführung“ des Selve 8/40 mir kürzere Cassis und hochfrisiertem Motor. das Fahrzeug konnte über 160km/h erreichen.

  7. Oh weh !! da muß ich aber viel Schreiben !!
    Eine Art „Plüschow-Museum“ gibt es bei Büsum, wo sein Kutter „Feuerland“ gebaut und restauriert wurde. Man fidet hier auch ein tolles Foto von Plüschow nd seinem Selve:
    https://www.plueschow.de/information/geschichte/gunther-plueschow-1886-1931/
    Als Marine-Offizier und Kapitän lernte er an 1904 fliegen, er war „der Flieger von Tsingtau“ (man kann das Buch in Antiquariaten noch finden).
    Seine Expeditionen kann man nachlesen: „Segelfahrt ins Wunderland“ mit der Parma nach Patagonien, „Silberkondor über Feuerland“ mit dem Kutter nach Feuerland und als erster Mensch dort Fliegen und Filmen.
    Bei einer weiteren Reise stürzt er am „Cerro Paine“ ab und verunfallt tödlich. In Chile und Argentinien wird er hoch verehrt. In D sind seine Bücher antiquarisch zu finden, in Österreich wurden diese sogar nachgedruckt. Nur kurz und in kleiner Auflage gab es ein Buch über das Leben von Günther Plüschow. Das Auto müsste ein Selve SL80 Sport sein.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen