Gerne bezeichne ich meine Ausflüge in die Welt des Vorkriegsautomobils als Zeitreise. Oft sind für mich entsprechende historische Abbildungen ein Anlass, den Zumutungen des Hier und Jetzt zu entgehen, oft aber auch Konfrontation mit den Zumutungen von damals.
Von diesen Zeitreisen kehre ich zurück mit der einen Erkenntnis, dass wir in der besten aller Zeiten leben, weil wir über das Beste von einst mühelos und ohne die Lebensrisiken von einst verfügen könnten, wenn wir denn wollten.
Paradoxerweise geht damit die andere Erkenntnis einher, dass wir in erbärmlichen Zeiten leben, weil wir so wenig aus der Vergangenheit lernen oder zumindest an Stilsicherheit nachleben.
Eine zum Verlieben schöne Reklame wie die für das Mercedes-Cabriolet 380 in meinem letzten Blogeintrag werden Sie in unseren Tagen vergebens suchen. Schlimmstenfalls wird klassische Schönheit verspottet wie jüngst im Spot einer einst britischen Sportwagenmarke.
Heute lasse ich Sie an einer etwas anderen Zeitreise teilhaben, auch wenn Sie dabei wieder auf Ihre Kosten in Sachen Vorkriegsautofotos kommen, sofern Sie die Einleitung überstehen.
Begleiten Sie mich auf einer echten Reise durch den Zeittunnel und erleben Sie die Begegnungen mit, die ich dabei machte.
An diesem Wochenende stand meine letzte Italienreise für dieses Jahr auf dem Programm. Wie immer ging es in die uralte Kulturregion „Valle Umbra“ – die Region zwischen Perugia und Spoleto, wo sich seit 2.500 Jahren in Sachen Kulturlandschaft wenig geändert hat.
Und wie fast immer handelt es sich dabei um keine Urlaubsreise, denn ich habe meist einen Haufen Arbeit dabei, so auch dieses Mal. Aber Arbeit belastet mich nicht, jedenfalls nicht in der Weise, wie mich andere Dinge bedrücken.
Ich war allein unterwegs, die bessere Hälfte musste nochmals daheimbleiben, um die Betreuung ihrer Eltern einzuweisen, die für einige Wochen aus Breslau (seit 1945 in Polen) angereist kam und in der frisch renovierten Dachwohnung im gleichen Haus residieren wird.
Auf dem langen Autobahnabschnitt von Mailand über Bologna nach Cesena goss es ohne Unterlass. Die Fahrbahn ist jedoch so ausgeführt, dass das Wasser nirgends steht, weshalb einem das peinliche Schild „80 bei Nässe“ wie auf der deutschen A5 ab Basel erspart bleibt.
Man kann also getrost mit 130 Sachen weiterfahren, sofern der Verkehr nicht zu dicht wird. Allerdings geschahen merkwürdige Dinge, je länger ich unterwegs war. Mir war zusehends so, als sei ich in einem Zeittunnel unterwegs.
Der Himmel war grau, links und rechts war alles grau, die Straße war grau und die silberne Motorhaube vor mir ebenfalls. Es gibt schon bei gutem Wetter auf dieser Strecke wenig zu sehen, bei schlechtem Wetter reduziert sich das auf „nichts“ – mit Ausnahme der Scheibenwischer und der roten Rücklichter vor einem.
Nichts wies mehr auf Raum und Zeit hin. Als ich an der Ausfahrt „Cremona“ vorbeifuhr, war ich mit einem Mal wieder Mitte der 1990er Jahre unterwegs – auch damals in strömendem Regen, allerdings mit meinem 1200er Käfer auf dem Weg in die Marken (die östlich an Umbrien angrenzende, hierzulande noch weniger bekannte Region.
Seinerzeit fuhr ich in Cremona ab, suchte mir eine Bleibe für die Nacht – aus meiner Lektüre von Hermann Hesses Italiengeschichten und -gedichten wusste ich, wie schön die Altstadt ist.
Dafür war diesmal keine Zeit und so ging es weiter durch den grauen Tunnel, begleitet von undefinierten roten Lichtern vor mir.
Doch zwei dieser Lichter auf der rechten Spur erweckten meine Aufmerksamkeit. Sie befanden sich ungewöhnlich niedrig und recht weit auseinander. Zunächst dachte ich an einen alten Mercedes, doch dann trat das kantige Heck eines Ford „Granada“ aus dem Grau hervor. Der Wagen trug ein uraltes italienisches Kennzeichen, das auf „Varese“ verwies.
So einen Wagen hatte ich ewig nicht gesehen und auch wenn die in Europa hergestellten Ford-Wagen damals längst unzeitgemäß waren – man denke an die Blattfeder-Hinterachse des Pseudosportlers „Capri“ (den ich dennoch mag) – so freute sich das junggebliebene Herz.
Die gute alte Tante BRD war damals trotz Kalten Kriegs in Topform – man hielt die Sowjets auf Abstand, kaufte dennoch ihr günstiges Gas und vor allem: man sprach trotz aller ideologischen Gegnerschaft miteinander auf Augenhöhe – der Entspannungspolitik sei Dank.
Für einen weiteren Schritt zurück auf meinem Weg durch den Zeittunnel sorgte dann mein bevorzugter Radiosender in Italien: RAI Musica Tutta Italiana – ganz in Landessprache, ohne Belehrungsanspruch und komplett werbefrei.
Diesmal wurden anlässlich des über 70-jährigen Jubiläums des Musikfestivals in San Remo einige Werke aus den 1950/60erer Jahren präsentiert, als man in Italien einen eigenen Stil pflegte. Die Traditionalisten sangen wie in den 30ern, die „Modernen“ sangen technisch zwar anders und freier, aber noch kaum beeinflusst von Rock und Pop.
Und immer ging es mit schönen Worten und Bildern um „amore“ – das ist auch bei den aktuellsten Werken so, mögen sie noch sehr von internationalen Musiktendenzen beeinflusst sein. Nirgends sonst höre ich „aktuelle“ Musik außer in Italien, wobei auch die Stimmen eine Rolle spielen – speziell die weiblichen, die eine ganz eigene Magie haben.
Wenn Sie nun denken, „Zur Sache, Schätzchen“, dann liegen Sie vom Timing richtig. Denn alles unterwegs Erlebte mündete in die Idee, dass ich diese Reise im Blog fortsetzen muss.
Jetzt geht es in einem Rutsch durch den Zeittunnel zurück in die 1920er Jahre. Plötzlich schält sich aus dem Nebel und dem Grau der Vergangenheit diese Erscheinung hervor:

Die Aufnahme fasziniert mich schon eine ganze Weile – heute sind Zeitpunkt und Stimmung gerade recht, um sie zu veröffentlichen.
Vor gut 100 Jahren entstand irgendwo im damaligen Osten Deutschlands – so meine Vermutung – diese Aufnahme, die auf dem Land drei Generationen einer betuchten Familie zeigt, welche es sich auf drei Sitzreihen bequem machen konnte.
Das setzte in einem der typischen Tourenwagen der damaligen Zeit einen beträchtlichen Radstand voraus, während die Dimension der Motorhaube durchaus zu einem etwas kompakteren Tourer mit nur zwei Sitzreihen passen würde.
Die Gestaltung der Frontpartie mit oben abgerundeter Haube und auffallend niedrigen schmalen, doch zahlreichen Luftschlitzen ist typisch für die Fiat-Großserienwagen, die ab 1919 entstanden und weltweit in Stückzahlen verkauft wurden, wie das sonst kein Hersteller auf dem europäischen Kontinent zustandebrachte.
Neben dem kompakten 501 (1,5 Liter, 23 PS) war es dessen stärkerer und deutlich größerer Bruder 505 (2,3 Liter, 33 PS), der auf vielen Fotos aus deutschen Landen zu sehen ist. Die Anwendung industrieller Massenproduktion machte diese Fiats nahezu konkurrenzlos.
Zu erkennen sind sie aus der Frontperspektive an dem leicht hufeisenförmigen Kühler:
Dieses in Deutschland zugelassen Exemplar des Typ Fiat 505 wurde nachträglich mit größeren Scheinwerfern ausgestattet, als es der Serienausführung entsprach.
Mehr Schein als Sein – ein zeitloses Thema. Vielleicht wollte der Besitzer den Anschein des prinzpiell gleich gestalteten, aber nochmals wesentlich größeren Sechsyzlindertyps Fiat 510 erwecken, den ich hier schon einmal anhand eines deutschen Exemplars vorgestellt habe.
Wie gesagt: diese Fiat verkauften sich in Deutschland mangels Konkurrenz hervorragend, und der Erfolg der Turiner Marke blieb bis Ende der 1930er Jahre ungebrochen.
Interessant wäre es zu erfahren, ob Fiat – eine Marke, die vor dem 1. Weltkrieg sogar in den USA Autos baute – mit ihrer streng rationalen, auf den Weltmarkt ausgerichteten Entwicklungs- und Produktionsphilosopie damals mehr Wagen außerhalb Italiens absetzte als am Binnenmarkt, wo die breite Masse noch ärmer war in Deutschland.
Ich könnte mir das vorstellen, wenngleich sich in meiner Fiat-Galerie immer wieder auch Exemplare mit italienischer Zulassung finden. Hier ein bislang noch nicht gezeigtes Foto, das in Italien entstand und einen Tourer des Typs 501 oder des Typs 505 zeigen könnte:
Diese Aufnahme mit den dürren Buben daneben, die mit aufs Foto wollten – eventuell waren sie Nachbarn oder Kameraden des größeren der Drei – lege ich Ihnen deshalb ans Herz , weil man sich hier den charakteristischen Kühler aller Fiats der frühen 1920er Jahre einprägen kann.
Auch die Form des hier nur schemenhaft erkennbare Markenemblems ist bei der Identifizierung früher Fiats immer wieder hilfreich.
Liebe Leser, nun haben Sie für heute genug erduldet und vielleicht das eine oder andere mitgenommen, das Ihnen die Einordnung vergleichbarer Wagen erleichtert. Das dürfte sich auf alte Fotos beschränken, denn die einst in deutschen Landen sehr präsenten Fiats der 1920er Jahre sind auf heutigen „Oldtimer“veranstaltungen Mangelware.
Erinnern Sie sich an mein eingangs verwendetes Bild des „Zeittunnels“? Ich habe den Begriff nicht nur wegen meiner Erlebnisse im Regen auf der italienischen Autobahn gewählt.
Es gibt auch ein Foto dazu, das zu denen zählt, die lange darauf warten, einen würdigen Rahmen zu erhalten.
Andere würden das fortwerfen, ich hingegen mag so etwas, weil es viel von den Empfindungen transportiert, die man bei der Beschäftigung mit den Automobilen und ihren Besitzern von einst hat, auch wenn sich ihre materielle Existenz längst im Nebel der Zeit verflüchtigt hat.
Wie die hier erörterten Schatten leben sie noch einmal am Zeittunnel auf, merkwürdig schemenhaft. Es liegt nach allem Gesagten an Ihnen, sich einen Reim darauf zu machen…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Großartig, vielen Dank! Solche Fotos „mit Geschichte“ sind mir die liebsten.
Danke!
Bitte den Text “ Tourer des Typs 501 oder des Typs 501 zeigen “ korrigieren, unter dem Foto stehen die Typennummern richtig.
Einen schönen Urlaub und Adventszeit wünsche ich noch.
Liebe Grüße Helmut Kasi
Hallo Herr Schlenger,
beim Anblick der Fiat Tourenwagen 501 und 505 fällt mir ein, vor gut 8 Jahren beim Vermieter einer B&B-Unterkunft in seinem hochherrschaftlichen Gebäude in der Altstadt von Agrigent das Foto eines Fiat 501 gesehen und abfotografiert zu haben, auf dem dessen Großmutter am Lenker dieses Autos zu sehen ist. Auf dem Bild ist auch zu erkennen, dass man damals, in den 1930er Jahren, mit dem Auto noch durch das Ensemble der Tempelanlagen von Agrigent fahren durfte. Der Fiat samt Großmutter und einer Tante steht direkt vor dem Concordia-Tempel.
Mangels Möglichkeit, hier ein Foto anzuhängen, bekommen Sie es per E-Mail für Ihre Sammlung.