Als man noch ins Auto ein“stieg“: Ein Benz von 1912

Dieser Oldtimer-Blog ist schwerpunktmäßig Vorkriegsautos gewidmet, die anhand originaler Fotografien vorgestellt werden. Die besondere Sympathie des Verfassers gilt dabei Veteranenwagen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.

Zwar gibt es aus jener Zeit jede Menge interessanter Aufnahmen von Automobilen. Nur die Literatur lässt bezüglich der Typen bedeutender deutscher Marken wie Adler, Brennabor, Dürkopp und Opel zu wünschen übrig.

Das macht die Identifikation deutscher Autos aus der Frühzeit der Benzinkutsche schwierig. Selbst bei der Marke Benz, zu der es solide Literatur gibt (z.B. „Benz & Cie.“, Stuttgart 1994), wird man einen Wagen wie folgenden vergeblich suchen:

benz_landaulet_um-_1912_galerie

© Benz Landaulet um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses majestätische Fahrzeug ist ein Benz aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Doch keine dem Verfasser bekannte Abbildung eines Benz zeigt genau diesen Aufbau. Es handelt sich um eine Landaulet-Karosserie, bei der Passagiere in einem separaten Abteil saßen, dessen Dach bei schönem Wetter geöffnet werden konnte.

Der Chauffeur steuerte den Wagen von einer davorliegenden Sitzbank außen, die wie bei einer Kutsche anfänglich unüberdacht war (sog. Außenlenker). Später wurde der Arbeitsplatz des Fahrers ebenfalls überdacht wie auf unserem Foto.

Dass wir es mit einem Benz aus der Zeit vor 1914 zu tun haben, lässt die Frontpartie mit der markentypischen Kühlermaske vermuten, die das Firmenemblem trug:

benz_landaulet_um-_1912_kuhlerpartie

Vor dem 1. Weltkrieg dominierten noch gasbetriebene Frontscheinwerfer, erst später setzten sich dort elektrische Lampen durch. Flacher Kühler und Form der Schutzbleche sprechen ebenfalls eher für einen Benz vor 1914.

Danach kamen bei Benz die modischen Spitzkühler auf, wenngleich vereinzelt auch noch Flachkühler verbaut wurden – vielleicht weil ein Käufer einen konservativen Aufbau bevorzugte; so könnte es hier ebenfalls gewesen sein.

Der Benz auf dem Foto könnte also prinzipiell auch eine frühe Nachkriegsversion handeln. Dagegen sprechen aber die seitlichen Laternen am Fahrgastraum, die leider außerhalb des Schärfebereichs liegen:

benz_landaulet_um-_1912_fahrgastraum

Solche Positionslampen waren schon bei Fahrzeugen der Baujahre 1913/14 elektrisch beleuchtet, nur bei den Frontscheinwerfern verließ man sich noch auf Gas.

Anhand dieses Befunds und Bilder von Benz-Modellen der Vorkriegszeit lässt sich der Benz auf etwa 1912 datieren. In jenem Jahr baute die Firma in Mannheim erstmals über 3.000 Fahrzeuge, das waren rund 15 % der gesamten Automobilproduktion im Deutschen Reich.

Benz bot damals eine große Typenvielfalt, von den verfügbaren Karosserieaufbauten ganz abgesehen. Erhältlich waren Wagen mit 20, 30, 40, 55, 60, 75 und 100 PS – alles Vierzylindermodelle übrigens.

Welche Motorisierung der Benz auf unserem alten Abzug hatte, muss mangels vergleichbarer Aufnahmen offen bleiben. Der aufwendige Landaulet-Aufbau und die eindrucksvollen Dimensionen sprechen am ehesten für ein Modell mit 60 oder 75 PS aus 7,4 bzw. 8,4 Litern Hubraum.

Damit war theoretisch die 100 km/h-Marke erreichbar. Ausprobiert haben wird as aber wohl kaum ein Besitzer, dagegen sprachen schon der Zustand der Straßen und die schwachen Bremsen. Wichtiger waren souveräne Kraftentfaltung bei voller Beladung und gute Steigfähigkeit am Berg.

Der junge Mann neben dem Benz ist sichtlich stolz, einen solchen großzügigen und starken Wagen fahren zu dürfen:

benz_landaulet_um-_1912_chauffeur

Mit Lederhaube, Staubmantel und Handschuhen ist er gut für eine längere Ausfahrt über Land gerüstet, während sich die Herrschaften im dahinterliegenden Abteil um etwaige Unbilden des Wetters keine Gedanken machen müssen.

Gleichzeitig bietet das Verdeck die Möglichkeit, Sonne und frische Luft genießen zu können, ohne von Schmutz und Staub auf der Straße behelligt zu werden. Wer meint, den reduzierten Komfort des Chauffeurs anprangern zu müssen und reflexartig „Ausbeutung“ wittert, sollte bedenken:

Die Position als Chauffeur bei den vermögenden Besitzern dieses Benz Landaulet wurde sicher gut bezahlt. Fähige Fahrer waren nicht an jeder Ecke zu bekommen und trugen viel Verantwortung für Fahrzeug und Insassen, zu denen sie oft ein enges Vertrauensverhältnis hatten.

Der junge Mann scheint sich seines Glücks durchaus bewusst gewesen zu sein. Die meisten seiner Altergenossen verrichteten harte Arbeit auf dem Feld oder in der Industrie. Erst der Kriegsausbruch 1914 brachte es mit sich, dass das Leben plötzlich für fast alle Männer unabhängig von ihrem Status einem Roulettespiel glich.

Denkbar ist, dass unser Foto erst kurz nach dem Krieg entstanden ist. Dann konnte sich der Fahrer dieses Benz doppelt glücklich schätzen…

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