Vorkriegsautos spielen in der Klassikerszene hierzulande kaum noch eine Rolle. Von einigen prestigeträchtigen Wagen abgesehen, ist die Vielfalt an Marken und Typen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich Spezialisten geläufig.
Bei unseren europäischen Nachbarn sieht das anders aus. Dort gibt es für wirklich alte Fahrzeuge eine alle Altersgruppen umfassende Szene. So springt der Funke über!
Dieses beim Goodwood Revival in England entstandene Foto zeigt eine britische Familie und einen alten Herrn vor einem der legendären Auto-Union Grandprix-Rennwagen der 1930er Jahre.
In Deutschland haben es viele Oldtimerbesitzer versäumt, ihre Kinder so an unser automobiles Erbe heranzuführen. Auch die verbreitete Geringschätzung des eigenen Herkommens spiegelt sich im Mangel an einschlägiger Literatur wider.
Während britische Autoren im 21. Jahrhundert frohgemut Bücher über eine ultrarare Vorkriegsmarke wie Squire verfassen, die lediglich eine handvoll Autos gebaut hat, sucht man Vergleichbares für deutsche Hersteller wie Brennabor, Dürkopp, NAG, Protos usw., die einst zehntausende Wagen fertigten, vergebens.
Sofern überhaupt ein paar Zeilen und Bilder zu diesen Marken verfügbar sind, stammen diese aus den 1970/80er Jahren von Autoren, die noch einen persönlichen Bezug dazu hatten. Eine Reaktion auf diese betrübliche Situation ist diese Website.
Hier werden schwerpunktmäßig Vorkriegsautos von Marken aus dem deutschen Sprachraum anhand originaler Fotos vorgestellt. Das sich daraus ergebende Online-Archiv bietet bei einigen Marken schon jetzt mehr Bilder als die Literatur.
Der heutige Neuzugang ist ein schönes Beispiel dafür:
© Presto Tourenwagen der 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Das Foto zeigt in kühner Perspektive einen Presto-Tourenwagen der frühen 1920er Jahre. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen D- oder E-Typ mit 2,4 Liter Vierzylindermotor, der 30 bzw. 40 PS leistete.
Ein ähnliches Fahrzeug haben wir vor einiger Zeit hier bereits präsentiert.
Gebaut wurden die Wagen von Presto in der sächsischen Industriemetropole Chemnitz, die von 1953 bis 1990 ausgerechnet den Namen des “Theoretikers der Arbeit” und notorischen Schnorrers Karl Marx tragen musste…
Ungeachtet der von Marx vom Schreibtisch aus beklagten “Ausbeutung” der Arbeiter blieb die prophezeite Revolution in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg zum Glück aus.
Die Ingenieure und Facharbeiter bei Presto machten unverdrossen dort weiter, wo sie 1914 aufgehört hatten – wohl auch, weil sie nicht wie Marx auf Alimente eines reichen Industrieerben wie Friedrich Engels hoffen konnten…
So folgten die Presto-Wagen formal noch lange nach Kriegsende der um 1914 aufgekommenen Spitzkühlermode:
Die den Kühlergrill oben klar abschließende Sicke und der angedeutete “Schnabel” sind typische Merkmale der Presto-Autos jener Zeit. Für eine Entstehung in den frühen 1920er Jahren sprechen die großen Bremstrommeln vorne, die zuvor keineswegs selbstverständlich waren.
Die wenigen, nur zu erahnenden Luftschlitze in der Motorhaube künden dagegen noch von der Vorkriegszeit. Spätestens Mitte der 20er Jahre wiesen Presto-Wagen die allgemein üblich lange Reihen schmaler Luftschlitze auf.
Das Kennzeichen ist nicht genau lesbar, doch scheint es mit dem Kürzel “IM” zu beginnen, das für den Zulassungsbezirk Sachsen stand.
Die nicht markenspezifische Kühlerfigur zeigt wohl einen kleinen Hund, der dem Fahrer zugewandt ist – ein schönes zeitgenössisches Detail.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf den übrigen Wagen nebst Insassen:
Die Seitenansicht stimmt in den wesentlichen Details mit einer Aufnahme eines Presto D-Typs in Werner Oswalds Standardwerk “Deutsche Autos 1920-1945” überein. Wir dürfen uns der Identifikation des Wagens als Presto recht sicher sein.
Die sieben Insassen lassen erkennen, wieviel Platz diese Tourer einst boten. Der achte Mann an Bord dürfte der Fotograf gewesen sein. Vermutlich entstand unser Foto einst bei einem Familienausflug, denn die weiblichen Insassen unterschiedlichen Alters weisen große Ähnlichkeit auf.
Mehr wissen wir nicht über die Besitzer des Presto sowie Ort und Anlass der Aufnahme. Von ihnen dürfte nicht viel mehr geblieben sein als dieser Abzug, der eine Situation vor rund 90 Jahren festhielt…