1914: Pfingstausfahrt im Benz 8/20 PS mit Chauffeur

Beim Sichten seines Fundus an historischen Originalfotos von Vorkriegsautos musste der Verfasser feststellen, dass sich einiges angestaut hat, was speziell die Freunde der Marke „Benz“ erfreuen dürfte.

Ein Blick in die Schlagwortwolke dieses Blogs spricht ebenfalls dafür, dass es einigen Nachholbedarf in Sachen „Benz-Automobile“ gibt – selbst vom Spätstarter BMW haben wir hier bereits mehr Aufnahmen besprochen.

Den Auftakt zu einer kleinen Zeitreise durch die enorme Typenvielfalt des Pionierherstellers aus Mannheim stellt das folgende Foto dar:

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Benz 8/20 PS; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Bevor wir uns mit dieser technisch wie gestalterisch hevorragenden Aufnahme im Detail befassen, sei angemerkt, dass auch das Entstehungsdatum auf der Rückseite überliefert ist: 1914.

Der beschriftete Streifen auf dem Abzug grenzt Ort und Zeitpunkt näher ein: „Harth Pfingsten“ ist dort vermerkt. Leider ist die Ortsangabe Harth nicht eindeutig, die Bezeichnung ist im deutschsprachtigen Raum recht verbreitet.

Schauen wir nun genauer hin – wie immer ist zuerst die Frontpartie an der Reihe:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_1_Frontpartie

Auf den ersten Blick lässt sich nur folgendes sagen: Das muss ein Auto sein, das um 1912 entstanden ist. 

Bei der Eingrenzung hilft uns die Gestaltung der ansteigenden Haubenpartie und des anschließenden, steileren Windlaufs. Dieses Element, das den Übergang von der Motorhaube zum Innenraum schafft, tauchte bereits früh bei Rennwagen auf.

Bei Serienfahrzeugen setzte es sich erst 1909/10 durch – wobei einzelne Modelle weiterhin eine rechtwinklig auf die vordere Schottwand treffende Haube besaßen. Eine Weile lang existierten also alte und neue Form nebeneinander.

Noch vor Beginn des 1. Weltkriegs beginnen bei vielen Autos die Haube und der Windlauf ein harmonisches Ganzes mit fast identischem Anstiegswinkel zu bilden.

Der Wagen auf unserem Foto liegt evolutorisch zwischen diesen beiden Schritten – daher dürften wir mit ca. 1912 als Baujahr nicht verkehrt liegen. Dummerweise ist vom Kühler fast nichts zu erkennen, er ist von Zweigen verdeckt.

Doch dank der Auflösung des originalen Abzugs lässt sich auf der Nabenkappe des rechten Vorderrads „BENZ“ lesen (auf dem Kopf stehend). Hier zum Vergleich eine moderne Aufnahme von einem Benz des Baujahrs 1906:

Benz_Nabenkappe_1906_Galerie

Benz-Nabenkappe; Bildrechte: Michael Schlenger

Das hilft uns enorm weiter, den nun können wir sogar den Typ recht gut bestimmen.

Um 1912 bot Benz Automobile in mehr als einem halben Dutzend unterschiedlichen Motorisierungen an – vom 20 PS-Typ mit 2 Litern Hubraum bis zum 100 PS-Giganten mit über 10 Litern, auch er ein Vierzylinder. Außer Protos baute kurz vor dem 1. Weltkrieg kaum ein deutscher Hersteller Sechszylinder.

Wie bei anderen Marken jener Zeit auch unterschieden sich parallel gebaute Motorenvarianten meist nur durch die Proportionen – die Grundform war gleich.

Dennoch liefert unsere Aufnahme genügend Indizien, um eine genaue Ansprache des Typs zu wagen, also nochmals genau hingesehen:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_1_Frontpartie2

Neben fünf Luftschlitzen in der Haube fallen vor allem die ungewöhnlich dünnen Schutzbleche auf.

Bei den mittleren bis starken Benz-Wagen hätten solche Bleche früher oder später Vibrationsrisse bekommen, daher sieht man dort durchgehend weit stärkere oder umgebördelte Vorderkotflügel.

Neben dem Benz 12/30 PS, der 1913/14 gebaut wurde, kommt nur noch das Einsteigermodell 8/20 in Frage, das von 1912-20 im Programm war.

Für diesen „Baby-Benz“, der nur einen Radstand von 2,85 m hatte, sprechen die Proportionen des Wagens auf dem Foto. Die fünf Luftschlitze finden sich auch beim 12/30 PS, die noch stärkeren Modelle wiesen mehr Schlitze auf.

Somit sprechen die Indizien am ehesten für den 8/20 PS, der wie der Baby Benz der 1980er Jahre nach denselben Qualitätsstandards wie „die Großen“ gebaut wurde.

Nach der Pflicht folgt nun die Kür – schauen wir uns die Herrschaften an, die einst an Pfingsten 1914 mit ihrem Benz 8/20 PS unterwegs waren, und sich dabei chauffieren ließ, wie das vor dem 1. Weltkrieg noch üblich war:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_1_Besitzer

Dieser Ausschnitt wäre für sich genommen schon preisverdächtig – besser in Szene gesetzt und zugleich so natürlich könnte ein Doppelportät kaum sein.

Vergessen wir nicht: Die beiden, die dort so ungezwungen vor ihrem Benz auf einer Decke lagern, schauen uns über eine Distanz von mehr als 100 Jahren an. Wenn sie gleich aufstünden, würde es einen kaum überraschen.

Man geht wohl auch nicht fehl in der Annahme, dass wir es mit einem Dokument einer wirklich glücklichen Beziehung zu tun haben, in der beide auf Augenhöhe miteinander standen.

Dem aufmerksamen Betrachter entgeht nicht der Ring, den der zufrieden in die Kamera schauende Herr „im besten Alter“ trägt.

Könnte das ein Regimentsring oder ein anderes Andenken an den Militärdienst sein, der damals obligatorisch im Deutschen Reich war? Auffallend ist auch das Emblem an der Schirmmütze – wer weiß mehr dazu?

Nun aber zu der dritten, nicht minder sympathischen Person auf dieser Aufnahme:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_1_Chaufreur

Es spricht sehr für unsere beiden Benz-Besitzer, dass sie ihren Chauffeur mit auf dem Bild haben wollten – und er scheint zu wissen, dass er es gut getroffen hat.

Selten lässt sich eine Chauffeurs-Montur der Zeit vor dem 1. Weltkrieg so detailgenau studieren.

Neben der obligatorischen Schirmmütze, die an Dimension noch die des Brötchengebers übertrifft, fällt der „Vatermörder“-Kragen auf, der aus der zweireihigen (und damit besonders winddichten) Jacke hervorlugt.

Natürlich trägt man als Chauffeur kräftige Lederhandschuhe – die Lenkarbeit war damals noch eine körperliche Herausforderung, die viele Autobesitzer scheuten. Sehr schön zu erkennen sind auch die Ledergamaschen über den Schnürschuhen. 

Sie sehen nicht nur eindrucksvoll aus – auf den ersten Blick wirken sie wie Reitstiefel – sie bieten auch zusätzlichen Schutz vor Luftzug und Verschmutzung.

Damit sind wir noch nicht am Ende – am selben Tag entstand eine weitere Aufnahme, auf der nun der Benz allein mit dem Chauffeur abgelichtet wurde:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_2_Galerie

Benz 8/20 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir auf den ersten Blick dieselbe Situation, nur ohne die Besitzer. Sie waren großzügig genug, um ein weiteres Foto aufnehmen zu lassen, das wohl für den Chauffeur selbst bestimmt war.

Man könnte aus der Existenz der beiden Fotos in einer Hand schließen, dass wir es eher mit dem Nachlass des Fahrers als dem des Paars zu tun haben, dem der Benz gehörte. Leider wissen wir nichts Genaueres darüber.

Zumindest hilft uns diese zweite Aufnahme bei der Bestätigung der Marke, da hier die Kühlerpartie mit dem runden Benz-Emblem etwas besser sichtbar ist:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_2_Frontpartie

Hier ist auch der pilzförmige Deckel des Kühlwassereinfüllstutzens klarer zu sehen, der typisch für Benz-Automobile war.

Deutlicher hervor treten nicht zuletzt die Frontscheinwerfer aus Messing, die mit einem Kunstlederüberzug vor Schmutz und zu schnellem Anlaufen geschützt sind.

Ihre beeindruckende Größe im Vergleich zum Wagen ist ein weiteres Indiz dafür, dass wir es mit einem kleinen Benz-Modell zu tun haben.

Werfen wir bei der Gelegenheit noch einen letzten Blick auf den Fahrer, der hier neben seinem „Arbeitsplatz“ abgelichtet wurde:

Benz_8-20_PS_Harth_Pfingsten_1914_2_Fahrer

Sein ruhiger konzentrierter Blick vereint sich mit einer selbstbewussten Pose, ein weiteres schönes Dokument aus längst vergangenen Zeiten.

Wenige Monate, nachdem diese Fotos aufgenommen wurden, begann der 1. Weltkrieg. „Unser“ Chauffeur dürfte es vergleichsweise glücklich getroffen haben – er wurde vermutlich als Fahrer eines Offiziers eingesetzt.

Mag ihm auch das Elend des Grabenkriegs erspart geblieben sein, war auch seine Welt nach Kriegsende nicht mehr dieselbe. Konnte er in seine alte Stellung zurückkehren? Musste er sich eine neue Arbeit suchen?

Sollte er noch einmal so sichere, glückliche Tage verbringen wie einst an Pfingsten 1914? Wir wissen es nicht.

In solchen Fotos weht einen eine untergegangene Welt an und man fragt sich 100 Jahre später unwillkürlich: wie wird es mit der unseren weitergehen?

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

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