Vor über 100 Jahren: Familienausflug im Opel 45/50 PS

Als Klassikerliebhaber, der in den 1970er/80er Jahren aufgewachsen ist, hat man meist keine Vorstellung von den Qualitätsautos, die die Marke Opel einst hergestellt hat – speziell vor dem Ersten Weltkrieg. Beim Verfasser haben das Kindheitstrauma eines D-Kadett-Diesel als Zweitwagen in der Familie sowie die legendären Roster Astra und Omega ihren Teil dazu beigetragen, um die Klassiker der Rüsselsheimer Marke lange einen großen Bogen zu machen.

Die Konfrontation mit einigen großen Opel der Vorkriegszeit – Admiral und Super 6 – hat dagegen den Blick dafür geöffnet, auf welchem Niveau Opel sich einmal bewegte. Nach ersten Gehversuchen mit Lizenzbauten (Lutzmann und Darracq) hat sich Opel ab 1905/06 mit eigenständigen Konstruktionen hervorgetan, die zum besten gehörten, was man damals in Deutschland zu kaufen bekam.

Opel_Darracq

© Originalreklame Opel Darracq vor 1906; aus Sammlung Michael Schlenger

Ein nach Ende des Lizenzvertrags mit der französischen Firma Darracq enstandenes frühes Opel-Modell soll hier anhand eines über 100 Jahre alten Originalfotos vorgestellt werden:

Opel_45_50_PS_1906

© Originalfoto Opel 45/50 PS Baujahr 1906; Bildquelle: Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn keine Markenschriftzüge zu erkennen sind – das berühmte Opel-Auge wurde erst 1910 eingeführt – lässt sich der Wagen als das 1906 gebaute 45/50 PS-Modell von Opel identifizieren. Das legt der Vergleich mit einem zeitgenössischen Bild in Halwart Schraders Standardwerk „Deutsche Autos 1885-1920“ (S. 284) nahe. Der Kühler mit der rechteckigen Plakette und dem hohen Verschluss, die Form der Frontkotflügel, das Profil der Rahmenausleger, die Form von Speichen und Naben der Räder, selbst die Nietenreihe auf der Schottwand entsprechen einander auf beiden Bildern genau.

Der Vierzylinder-Motor des Opel 45/50 PS holte seine Leistung aus heute unvorstellbaren 8 Litern Hubraum. In Verbindung mit dem 4-Gang-Getriebe war für souveränen Vortrieb gesorgt, wenn auch keine genauen Daten überliefert sind. Was damals zählte, war vor allem Steigfähigkeit, ohne dauernd die unsynchronisierte Schaltung bemühen zu müssen – das dürfte gewährleistet gewesen sein. Mit einem Preis von 20.000 Reichsmark bewegte sich das Modell in der Luxusklasse.

Wer sich so etwas leisten konnte, dem konnte auch die kurz zuvor eingeführte Hubraumsteuer gleichgültig sein, die der deutschen Automobilindustrie für Jahrzehnte Fesseln anlegen sollte. Damit wären wir bei den Insassen bzw. den Personen, die auf diesem eindrucksvollen Bild rund um den Opel versammelt sind:

Opel_45_50_PS_1906_Ausschnitt

Sehr wahrscheinlich haben wir es hier mit drei Generationen einer Familie zu tun. Der schnauzbärtige ältere Herr neben dem Chauffeur dürfte der Besitzer sein. Die Damen auf der Rückbank und der im Einsteigen begriffene glattrasierte Herr mit Fernglastasche könnten die 2. Generation repräsentieren, das Mädchen zwischen Chauffeur und Besitzer dürfte die Enkelin sein – offenbar steht ein Ausflug an.

Den stärksten Eindruck hinterlässt die würdevolle ältere Dame, die auf dem Trittbrett Platz genommen hat. Kleidung und Schmuck verweisen auf die Mode des späten 19. Jahrhunderts, sie dürfte um die 50 Jahre alt sein und ist wahrscheinlich die Gattin des Besitzers. In diesem Alter Großmutter zu sein, war seinerzeit Normalität und dass das Leben auch bei Vermögenden kein Zuckerschlecken war, sieht man den Menschen auf diesen alten Bildern an.

Wann genau das Bild entstanden ist, lässt sich kaum sagen. Der nur im Jahr 1906 gebaute Opel 45/50 PS wirkt jedenfalls gut gebraucht – der linke Kotflügel ist bereits reichlich mitgenommen. Damit bewegen wir uns irgendwann zwischen etwa 1910 und dem Beginn des 1. Weltkriegs 1914. Eine spätere Entstehung kann man aufgrund der typischen Hutmode der Damen ausschließen.

Interessant ist, dass man den neben dem Opel stehenden Herrn mit der Schiebermütze für sich genommen ohne Weiteres in die 20er Jahre datieren würde. Er repräsentiert aus damaliger Sicht bereits die Moderne, die sich nach dem Krieg Bahn brach. Die Dame auf dem Trittbrett dagegen ist eine Botin aus einer Zeit, als von Automobilen niemand zu träumen wagte. Dieses Bild lässt ahnen, wie rasant sich die technische Entwicklung vor 100 Jahren vollzog und ist zugleich ein würdiges Zeugnis der Menschen, die dazu einst beigetragen haben.

Kommentar verfassen