1916: Ein deutsch-belgischer „Bergmann“ im Krieg

Wer sich nach der Überschrift fragt, ob er auch im richtigen Blog sei, kann beruhigt sein: Auch beim folgenden Eintrag geht es natürlich um ein historisches Gefährt, aber auch um die allgemeinen Verhältnisse in seiner Zeit.

Die Geschichte ist verwickelt, doch spannend genug, um sie ausführlich zu erzählen: Sie beginnt Mitte des 19. Jh. im frankophonen Süden Belgiens, der frühzeitig stark industriell geprägt war, während im flämischen Norden des Landes der Handel dominierte. In jener Zeit gehörte Belgien zu den wichtigsten Industriestandorten Europas, wo zeitweilig auch Motorrad- und Autohersteller florieren sollten.

Nach Gründung der Eisenbahnfabrik La Métallurgique in Belgien baute man ab 1899 auch Automobile, zunächst Wagen mit Kettenantrieb. Doch schon wenig später rückte die Firma zu den führenden Autoherstellern auf dem Kontinent auf.

Dafür sorgte der deutsche Ingenieur Ernst Lehmann, der 1903 von Daimler zu Métallurgique wechselte. Zusammen mit seinem Landsmann Martin Stolle (später bei BMW) schuf er eine Reihe moderner Sportwagen, die mit Motorenleistungen von 80 bis 100 PS aufwarteten. Daneben gab es Modelle mit kleineren Aggregaten mit 18 und 40 PS, die für den Ruf der Marke Métallurgique aber weniger wichtig waren.

Ein Merkmal dieses Produkts deutsch-belgischer Kooperation war der Spitzkühler, wohl der erste seiner Art überhaupt (ab 1906). Unverwechselbar war das pyramidenförmige Oberteil des Kühlergehäuses. Dieses Detail ermöglichte die Identifikation des Wagens auf folgendem Originalfoto: Bergmann-Metallurgique

© Bergmann-Métallurgique, aufgenommen im Jahr 1916, aus Sammlung Michael Schlenger

Bevor wir uns der Aufnahmesituation zuwenden, ein weiterer interessanter Exkurs: Seit 1905 gab es eine Niederlassung der Firma Métallurgique in Deutschland  (Köln). Diese wurde auf Initiative von Herzog Ludwig von Bayern, dessen Schwester mit dem belgischen (!) König verheiratet war, von der Berliner Bergmann Elektrizitätswerke AG übernommen, die auch Elektroautos (ein alter Hut…) baute.

Diese weitere deutsch-belgische Verbindung wurde dadurch unterstrichen, dass der autobegeisterte Herzog sich nicht zu schade war, Mitglied des Aufsichtsrats der neu gegründeten Bergmann-Métallurgique-Gesellschaft zu werden. Sie baute die Wagen von Métallurgique bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs in Lizenz.

Die bis dahin gedeihliche Verbindung deutscher und belgischer Schaffenskraft fand mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 ein jähes Ende. Die deutschen Truppen rückten in Erwartung eines raschen Sieges wie 1870/71 im August durch das neutrale Belgien vor und besetzten dieses.

Zwei Jahre später, im Jahr 1916, war Belgien immer noch vom deutschen Militär besetzt, doch eine Entscheidung des Kriegs war in weiter Ferne. Nach der gescheiterten deutschen Offensive gegen Verdun kam es ab Sommer 1916 zur Schlacht an der Somme, die 1 Million Soldaten das Leben kostete, ohne dass es zu einer Änderung der Lage kam.

In dieser Zeit gnadenloser Stellungskämpfe ist die oben vorgestellte Aufnahme entstanden. Es handelt sich um ein im Postkartenformat abgezogenes Foto. Auf der Rückseite schreibt wahrscheinlich der im Auto sitzende Träger eines imposanten Schnauzbartes mit Datum vom 15. August 1916 an eine ihm nahestehende Person.

Bergmann-Metallurgique_Ausschnitt

Die Ausschnittsvergrößerung lässt erkennen, dass die beiden Soldaten Lederjacken mit doppelter Knopfleiste und Schutzbrillen tragen – sicher waren sie Fahrer hoher Offiziere, denen als einzigen im 1. Weltkrieg Automobile zur Verfügung standen. Die beiden konnten von Glück reden, dass Ihnen der Dienst in den Schützengräben erspart blieb, und sie waren sich vermutlich ihrer privilegierten Stellung bewusst.

Es kann sein, dass dieser Wagen kein in Belgien beschlagnahmter Métallurgique war, sondern ein in Deutschland in Lizenz produzierter Bergmann-Métallurgique. Das auf der Karosserie angebrachte Wappen des bis 1918 existierenden Königreichs Bayern verweist auf eine Einheit der bayrischen Armee, wobei das Kürzel E.K.K.65 auf der Motorhaube vermutlich die Truppenbezeichnung ist (wer weiß mehr darüber?).

Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass ausgerechnet eine Truppeneinheit aus dem Königreich Bayern, das einst für die Verbindung von Bergmann & Metallurgique gesorgt hatte, über einen solchen Wagen verfügt. Könnte dahinter mehr stecken?

Wir wissen es nicht. Jedenfalls ging der Krieg trotz des deutsch-österreichischen Friedensangebots von Ende 1916 erbarmungslos weiter. Erst zwei Jahre später war das Schlachten vorbei, danach wurde der deutschen Firma Bergmann die Lizenz um Bau von Métallurgique-Wagen entzogen. Bergmann baute bis 1939 Elektrofahrzeuge für die Deutsche Post, während Métallurgique 1928 die Autoproduktion einstellte.

Das hier gezeigte Auto ist damit ein Zeuge der komplizierten Verhältnisse, die zwischen den Völkern Europas vor 100 Jahren herrschten und seither nicht einfacher geworden sind. Eine Konstante scheint zu sein, dass die breite Bevölkerung in Europa für Ideale, Konflikte und Projekte einer „Elite“ aus selbstherrlichen Politikern herhalten muss, ohne nach ihrer Meinung gefragt zu werden.

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