Die einstige Berliner Automarke NAG – eine Tochter der AEG – ist weitgehend dem Vergessen anheimgefallen. Dazu mag beigetragen haben, dass sie bereits 1934 untergegangen ist.
Die markanten, hochwertigen NAG-Wagen verdienen es aber, dass man sich näher mit ihnen beschäftigt. Daher ist ihnen in diesem Blog eine eigene Bildergalerie gewidmet und diverse Modelle sind bereits anhand von Originalfotos vorgestellt worden.
Vor längerer Zeit wurde hier die Sportversion des NAG C4 aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre präsentiert (Bildbericht). Nun ist die Standardausführung des Typs C4 an der Reihe. Anlass ist der Fund folgender Originalaufnahme:
© NAG Typ C4 Tourenwagen, Mitte der 1920er Jahre; Foto aus Sammlung Michael Schlenger
Zunächst ein Exkurs zum Aufnahmeort. Auf der Rückseite des Fotos findet sich der Stempel eines Fotostudios in der oberschlesischen Stadt Kattowitz, allerdings in der polnischen Schreibweise “Katowice”. Auch das Nummernschild ist kein deutsches. Das Foto ist aber von Hand auf deutsch beschriftet – wie passt das zusammen?
Nun, das zu über 85 % von Deutschen bewohnte Kattowitz wurde nach dem 1. Weltkrieg trotz Volksabstimmung auf Betreiben Frankreichs Polen zugeschlagen. Willküraktionen der Siegermächte wie diese trugen zum deutsch-polnischen Konflikt und damit auch zum 2. Weltkrieg bei.
Der Wagen auf dem Foto dürfte einem Deutschen aus der Region Kattowitz gehört haben, der sich ab 1922 auf polnischem Staatsgebiet wiederfand. Nach diesem Ausflug in die Zeitgeschichte schauen wir uns nun das Auto genauer an:
Zwar ist die Aufnahme etwas verwackelt – offenbar ist sie kurz vor Sonnenuntergang entstanden – dennoch gibt die ungewöhnliche Perspektive recht guten Einblick in Details, die die Identifikation eines NAG der 1920er Jahre erleichtern.
Im Unterschied zu den meisten Privataufnahmen der Zeit, bei denen die Insassen meist ebenso wichtig sind wie das Auto, steht hier der Wagen im Mittelpunkt. Der Besitzer hat angehalten, um nur den NAG von seiner schönsten Seite aufzunehmen.
Von diesem Foto werden wir noch bei einigen anderen Bildern desselben NAG-Typs profitieren. Aufschlussreich ist speziell die Kühlerpartie:
NAG-typisch ist der noch aus der Vorkriegszeit stammende ovale Kühlerausschnitt, der auch bei den Spitzkühlermodellen C4 und D4 beibehalten wurde. Hilfreich bei der Identifikation ist auch das sechseckige Markenemblem an der Scheinwerferstange, auf dem wiederum die Buchstaben “NAG” jeweils in drei Sechsecken angeordnet sind.
Ganz selten zu sehen ist die ebenfalls sechseckige Abdeckung der Öffnung für die Anlasserkurbel unterhalb der Kühlermaske, sie wird auf anderen Aufnahmen meist vom Nummernschild verdeckt. Markant sind auch die spitz zulaufenden Kotflügel.
Die Seitenpartie des NAG ist zwar nur schemenhaft zu erkennen – der Fotograf hatte wohl angesichts des schwindenden Lichts eine gr0ße Blendenöffnung gewählt. Doch zwei Elemente sind dennoch gut zu erkennen:
Da ist zum einen der Fahrtrichtungsanzeiger in damals gängiger Pfeilform. Unklar ist, ob er über ein Zugkabel oder elektrisch betätigt wurde. Vielleicht weiß ein Leser mehr. Zum anderen ist vor dem Schutzblech hinten links ein zusätzliches Trittbrett zu sehen, das den Zugang zur Rückbank erleichtern sollte. Hier ahnt man, wie hoch der NAG war.
Am Heck schließlich das übereinandergelegte Gestänge des tourenwagentypischen leichten Verdecks, dessen Schutzüberzug herabzuhängen scheint.
Insgesamt bekommt man trotz technischer Mängel der Aufnahme einen guten Eindruck von der eindrucksvollen Erscheinung dieses Wagens. NAG baute in dieser Form nur besagten Typ C4, und zwar von 1922-24.
Das Auto verfügte über einen 2,6 Liter großen Vierzylindermotor, der 30 PS leistete. Für damalige Verhältnisse war das ausreichend. Wichtig war die Viergangschaltung, die niedrige Drehzahlen sowie einen relativ vibrations- und geräuscharmen Lauf ermöglichte. Die auf die Kardanwelle wirkende Fußbremse dürfte mit den 1,5 Tonnen des Wagens ihre Last gehabt haben, ein Grund mehr, hohe Geschwindigkeiten zu meiden.
Man muss dies alles vor dem Hintergrund sehen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen damals überhaupt kein motorisiertes Fahrzeug besaß, oft nicht einmal ein Fahrrad. Der Gewinn an persönlicher Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit des individuellen Reisens mit mehreren Personen war es, der solche Tourenwagen begehrt machte, vom Prestige solcher Autos ganz abgesehen.
Wer die seltene Gelegenheit hat, einmal vor einem solchen großzügigen Wagen der 1920er Jahre zu stehen oder gar darin mitzufahren, wird auch heute beeindruckt sein.