Auf Tour durchs Tibertal – ein NAG “Puck”!

Wem der Titel meiner heutigen Bildergeschichte ein wenig abenteuerlich erscheint – “Durch’s wilde Kurdistan” von Karl May lässt grüßen – liegt ganz richtig.

Denn was ich heute präsentiere, ist das Dokument eines geradezu unglaublichen Abenteuers, doch im Unterschied zu Karl May musste ich nichts dazudichten.

Die besten Geschichten schreibt ohnehin das Leben, vor allem wenn man Fortuna walten lässt. Was mir der Zufall diesmal zugespielt hat, daran will ich Sie gern teilhaben lassen.

Kürzlich erwarb ich wieder einmal einen Stapel alter Autofotos für einen überschaubaren Betrag – der eigentliche Preis für solche Schnäppchen ist der, dass man erst einmal nicht genau weiß, was sich auf den meist verblichenenen oder unscharfen Bildern verbirgt.

Bei der ersten Durchsicht blieb mein Blick kurz an diesem vergilbten Abzug hängen – naja, dachte ich, vermutlich ein schwer identifizierbares frühes Mobil irgendwo in Südeuropa:

NAG “Puck” bei Todi (Umbrien); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Eigentlich wollte ich mich erst später damit beschäftigen, doch die Silhouette der Stadt im Hintergrund interessierte mich aus irgendeinem Grund.

Also tat ich, was ich auch sonst in solchen Fällen tue – ohne dass Sie das mitbekommen: Ich stellte die Bilddatei auf “Schwarzweiß” um, erhöhte den Kontrast, entfernte einige störende Flecken und Kratzer.

Und auf einmal sah das Ganze schon vielversprechender aus:

Zwar kann man von dem Wagen noch nicht allzuviel erkennen, doch immerhin ist jetzt zu ahnen, dass er ein deutsches Kennzeichen trägt.

Noch war mir nicht bewusst, wo der Wagen aufgenommen worden war, doch war schon an dieser Stelle klar – da waren deutsche Reisende vor 1910 irgendwo im Süden unterwegs!

Da mir dieser Drang prinzipiell sympathisch ist, zumal er heute ohne die meist rein destruktiven Eroberungsgelüste unserer germanischen Vorfahren daherkommt, war ich elektrisiert. Was war das für ein Wagen und wo war er unterwegs?

Also schaute ich genauer hin und plötzlich sah ich den runden Kühlerausschnitt und (wenn ich mich nicht irre) die Kennung “IA” für Berlin – das muss ein NAG sein!

Der Wagen besitzt zwar einen Tourenwagenaufbau für vier bis fünf Personen – anfangs noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – dennoch sind seine Abmessungen sehr kompakt.

Im Programm der Berliner NAG gab es aber neben den beeindruckenden mittleren und großen Typen, die damals zur deutschen Spitzenklasse gehörten, tatsächlich auch ein solches Kleinauto – den NAG “Puck”.

Dieser 1908 eingeführte Wagen ist auf der folgenden Originalreklame zu sehen:

NAG 6/12 PS “Puck”; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Der Vorteil des Drucks liegt darin, dass er den Blick für’s Wesentliche schärft, auch wenn die zugrundeliegenden Zeichnungen selten in allen Details präzise waren.

NAG-typisch war bis zum Ende des 1. Weltkriegs der runde Kühlerausschnitt – er ist also weder baujahrs- noch modellspezifisch, erlaubt aber in der vorliegenden Form schon einmal die Ansprache der Marke.

Einprägen sollte man sich die Ausführung der Vorderkotflügel – eher dünn, nach hinten breiter werdend und nahezu rechtwinklig an das Trittbrett anschließend. Auch die weit auskragenden, nur wenig gebogenen vorderen Rahmenausleger kann man sich merken.

Dann wäre da noch die kurze Motorhaube und der im Vergleich zum Lenkrad sehr kompakte Vorderwagen, was für ein kleines Modell spricht.

Haben Sie noch alles parat? Dann schauen wir jetzt, so ein NAG “Puck” in der Realität aussah:

NAG 6/12 PS “Puck”; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Erkennen Sie die Übereinstimmungen, auch wenn allerlei Accessories und die Insassen natürlich für ein anderes Gesamtbild sorgen?

Jetzt stellen Sie sich nur noch vor, dass auf der Fahrerseite zwei Reservereifen in einer gemeinsamen Hülle mitgeführt wurden und außerdem auf dem Trittbrett der Beifahrerseite ein Gepäckkoffer angebracht war – denn einen Kofferraum gab es damals ja noch nicht.

Mit diesen Extras versehen war nämlich der NAG “Puck” auf meinem Foto:

Sind Sie einverstanden mit der Identifikation dieses Wagens als NAG “Puck”?

Ich unterstelle, dass ich hier richtig liege. Nun kann es an die noch spannendere Frage gehen, wo dieser NAG unterwegs war, als er auf Fotoplatte verewigt wurde.

Die Antwort fällt sensationell aus, wenn man bedenkt, dass der NAG “Puck” einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor besaß, der gerade einmal 12 PS Spitzenleistung abwarf.

Tatsächlich ist dieser Wagen einst über die Alpen nach Italien gefahren, was an sich schon ein Abenteuer der besonderen Art war. Doch haben es die Insassen nicht dabei bewenden lassen, die Großstädte Oberitaliens Turin, Mailand und Bologna zu besuchen.

Nein, liebe Leser, diesen Leuten stand der Sinn nach etwas anderem.

Wir kennen die genaue Route nicht, doch vermutlich sind sie über Florenz weiter südlich in die Toscana vorgestoßen, sind dann am Trasimenischen See vorbei nach Osten abgedreht in Richtung Perugia, der Hauptstadt der angrenzenden Region Umbrien.

Von dort muss es dann durch das mittlere Tibertal weiter nach Süden gegangen sein – vielleicht war Rom das Ziel. Ein Halt auf dem langen Weg dorthin ist dokumentiert, nämlich auf dem Foto, das ich heute vorgestellt habe.

Darauf fiel mir links am Rand etwas auf, das wie eine Vision der venezianischen Kirche Santa Maria della Salute im flimmernden Licht am Horizont zu schweben schien:

Als ich das sah, war ich mit einem Mal 30 Jahre jünger! Damals fuhr ich zum ersten Mal nach Umbrien. Ich war Student und hatte in den Semesterferien eine hübsche Summe verdient.

Eine Woche war ich mit Bahn und Bus in der Valle Umbra zwischen Spoleto und Assisi unterwegs; eine Woche lang gönnte ich mir einen Mietwagen (Ford Escort) für die entlegeneren Höhepunkte dieser für mich schönsten Region Italiens.

Den Namen der mir so bekannt vorkommenden Kirche hatte ich nach dieser langen Zeit natürlich nicht mehr parat – Santa Maria della Consolazione heißt sie.

Doch eines wusste ich plötzlich wieder: Das ist in Todi!

Todi (Umbrien); Panoramafoto von Giuseppe Marzulli

Kurios, dass diese Aufnahme an fast derselben Stelle entstand wie einst das Foto mit dem NAG “Puck”, nämlich an der südlich stadtauswärts führenden SS79Bis “Via Angelo Cortesi” kurz vor der scharf nach Osten drehenden Kurve.

Wie so oft in Umbrien hat sich das Stadtbild in mehr als 100 Jahren kaum verändert. Es wird mit hierzulande kaum vorstellbarem Stolz gepflegt und mit authentischen Baumaterialien und -techniken bis ins Detail erhalten.

Wie bei allen umbrischen Hügelstädten haben wir es mit Siedlungen zu tun, die seit mindestens 2.500 Jahren existieren und schon Stadtcharakter hatten, lange bevor die Römer Italien unter ihre Herrschaft brachten.

Diese noch heute erlebbare kulturelle Kontinuität, welche auch die Nutzung der Landschaft umfasst, ist phänomenal und auch in Italien in dieser Breite wohl einzigartig.

In Deutschland sagt Umbrien dennoch bis heute nur wenigen etwas, allenfalls von der Pilgerstadt Assisi hat man schon einmal gehört. Doch anstatt ebendort durch die Valle Umbra zu fahren, entschieden sich die Insassen des NAG “Puck” einst, dem westlich davon gelegenen Tibertal nach Süden zu folgen.

Dabei kamen Sie an Todi vorbei und waren offenbar gebannt von dem Stadtbild, obwohl es in Umbrien noch weit grandiosere gibt. Diese Leute müssen jedenfalls Kenner des Besonderen und mit einem Hang zum Abenteuer ausgestattet gewesen sein.

Mit 12 PS von Berlin nach Todi – allein das waren schon 1.500 Kilometer auf oft nur mäßig befestigten Straßen. So etwas machte man auch dann nicht nebenher, wenn man sehr gut situiert war, wie dies bei allen frühen Automobilisten zwangsläufig der Fall war.

So gehört heute meine Sympathie wieder einmal den Pionieren des Autowanderns im Süden. Und weil mir gerade der Sinn danach steht, werde ich es ihnen für ein gute Woche nachtun – mit mehr als 12 PS, aber derselben Leidenschaft und natürlich: in Umbrien!

Nach meiner Rückkehr geht es weiter im Blog, es gibt ja so viel zu erzählen. Sollte Ihnen unterdessen langweilig werden, unternehmen Sie doch mal einen Spaziergang durch Todi

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Fund des Monats: Ein NAG Elektrowagen um 1910

Elektromobilität kann eine tolle Sache sein – das weiß ich sogar aus eigener Erfahrung.

Gerade heute war ich mit meiner Akku-“Vespa” in meinem Heimatstädtchen Bad Nauheim unterwegs. Man ist wieselflink als erster von der Ampel weg, während mancher Autofahrer noch nach dem Gang sucht, sofern er überhaupt schon bemerkt hat, dass “grün” ist.

Im Akkufach unter der Sitzbank ist Platz für zwei tragbare Batterien, die zusammen für 80 km/h Reichweite gut sind. Meist habe ich nur eine installiert, der Platz daneben reicht, um kleine Einkäufe und Postsendungen unterzubringen.

Die Leute mögen das Teil, sieht es doch fast so aus wie eine klassische Vespa von Piaggio aus den 1960er Jahren. Der Chinamann macht’s möglich – und einige Umbauten von eigener Hand.

“Vespa” und “50 Special” steht am Heck, was passt, denn knapp 50 Sachen schafft das Teil, das mit Moped-Kennzeichen unschlagbar günstig im Unterhalt ist.

Die wohlgeformte Karosserie ist aus Kunststoff – somit leicht und billig. Bloß die Akkus gehen ins Geld – 1.500 EUR waren dafür zu berappen, mehr als für den Roller selbst, der ein achtbares Fachwerk, passable Reifen und zupackende Scheibenbremsen besitzt.

Das Beste aber ist: Ich habe das Gerät zu 100 % selbst bezahlt! Dagegen mit dem Geld anderer Steuerzahler sich ein Elektrofahrzeug sponsern lassen – das ist das Gegenteil von sozial, wenn Sie wissen, was ich meine.

Dies als Vorrede für den Fall, dass einer meint, ich sei ein notorischer Verbrenner-Fanatiker. Das stimmt zwar, ist aber nur die halbe Wahrheit. Auch bei meinen Scalextric-Rennautos schwöre ich auf Elektrovortrieb…

Es kommt aber noch besser: Ich liebe die Ästhetik von Elektrowagen! “Nun ist auch er zur “Alles-mit-Strom”-Sekte übergelaufen“, mögen Sie jetzt denken.

Tatsächlich, aber unter einer Bedingung – jetzt können Sie aufatmen – es muss ein Vorkriegsmodell sein! Denn das sieht doch einfach umwerfend gut aus, oder?

NAG-Elektrowagen um 1910; originale Postkarte aus Sammlung Stefan Rothe

Dieses Dokument verdanke ich Stefan Rothe, in dessen Sammlung sich diese Postkarte von 1911 befindet, die ein gewisser W. Friedländer an einen Herr Fröbus in Berlin sandte.

Was er ihm schrieb, das erfahren Sie gleich, doch zuvor noch ein Blick auf das Gefährt mit der schön gestalteten “Motorhaube” im Stil früher französischer Fabrikate.

Darunter befand sich so gut wie nichts, immerhin hatte man dort einigen Stauraum bei Bedarf. Das mächtige “NAG”-Emblem lässt keinen Zweifel daran, dass dies ein Fabrikat der gleichnamigen Berliner AEG-Tochter war.

NAG war längst als Hersteller hocklassiger Wagen mit Benzinmotor etabliert, als man 1907 ein Elektrofahrzeug vorstellte, welches einige Jahre im Programm blieb.

Diese Ausführung dürfte ab 1910 entstanden sein, vorher gab es den schräg nach oben weisenden “Windlauf” nur bei Sportfahrzeugen:

Sonderlich viel ist über die NAG-Elektroautos nicht in Erfahrung zu bringen – sie scheinen vor allem als Taxis im relativ ebenen Berlin unterwegs gewesen sein, blieben aber selbst dort gegenüber Benzin-Droschken in der Minderzahl.

Die Hauptgründe waren – kaum überraschend – die geringe Reichweite, die langen Ladezeiten und die Alterung der Akkumulatoren, die übrigens mittig im Chassis untergebracht waren.

Hier haben wir eine entsprechende Abbildung aus “Das Weltreich der Technik” von Artur Fürst, veröffentlicht 1924 (offenbar war der NAG damals immer noch repräsentativ für Elektrowagen):

Zurück zur Fotokarte aus der Sammlung von Stefan Rothe.

Dort suggeriert der Absender, dass er die Insassen des abgebildeten NAG-Elektroautos kenne, doch das scheint mir ein Scherz zu sein – es gibt nämlich weitere Aufnahmen desselben Wagens nur mit der Dame am Steuer (siehe hier).

Aber lesen Sie selbst, was er umseitig in lässigem Ton heruntergeschrieben hat:

NAG-Elektrowagen um 1910; originale Postkarte aus Sammlung Stefan Rothe (Rückseite)

Ich vermute, dass es sich bei dem Foto des NAG um ein beliebtes Motiv handelte, das eine bekannte Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin als Werbeikone am Steuer zeigt.

Für eine durchschnittliche Berlinerin – Lokalpatrioten überlesen das besser – sieht sie nämlich entschieden zu hübsch aus. Wer sie und ihre Beifahrerin gewesen sein mögen, das mag vielleicht jemand sagen können.

Der afrikanischstämmige Diener auf dem hinteren Notsitz scheint mir nachträglich retuschiert zu sein – evtl. war sein Kopf verwackelt wiedergegeben. Jedenfalls wirkt sein Gesicht ein wenig wie hineinmontiert – womit er erkennbar nicht glücklich war:

Wie gesagt, kann ich zu dem Wagen selbst wenig sagen, außer dass er mir sehr gut gefällt. Auch in den USA sahen solche Elektroautos (für kurze Distanzen und vorwiegend für Damen bestimmt), oft sehr ansprechend aus.

Ihnen fehlte das Maschinenhafte, nirgends tropfte Öl, es roch nicht nach Benzin und die Geräusche beschränkten sich auf die, welche das Abrollen der Reifen verursachte.

Doch das alles genügte nicht, solange die Mobilität von Elektrofahrzeugen eingeschränkt war oder – wie in den besten Exemplaren heute – annähernd ebenbürtig ist, aber für Normalsterbliche selbst mit heftigsten Subventionen unbezahlbar bleibt.

Fazit: Elektromobilität kann eine wunderschöne Sache sein, wie der heute vorgestellte NAG beweist. Doch nach über 100 Jahren sollte sie sich schon von selbst dort durchsetzen können, wo sie wirklich Vorteile bietet.

Intensiver Wettbewerb unter Marktbedingungen – mit allen Chancen und Risiken auf privater Seite – ist die Voraussetzung für die Entwicklung und Durchsetzung überlegener und nutzerorientierter Technologie, nicht staatliche Planung und Reglementierung.

Unser gesamter Wohlstand, unser gesamter Alltag basiert darauf, doch das scheint in unseren Tagen hierzulande in Vergessenheit geraten zu sein.

Elektromobilität muss sich im freien Spiel der Kräfte beweisen – ihr immer noch drastisch erhöhter Preis signalisiert, dass sie unnötig Ressourcen kostet, damit ist sie das genaue Gegenteil von Ökologie.

Mit meiner elektrischen Pseudo-Vespa made in China fühle ich mich wohl, und ihre Schönheit ist unbestritten. Aber ich habe noch nie eine andere gesehen. Und das sagt eigentlich alles.

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Wunsch oder Wirklichkeit? Ein NAG B2 um 1910

Überwiegend fällt die Wirklichkeit nicht so aus, wie man sich das wünscht – eine Grundkonstante des Daseins und Basis des Geschäftsmodells von Trittbrettfahrern aller Art – Glaubensstifter, Heiratsschwindler und Visagisten.

Doch bisweilen übertrifft auch die Wirklichkeit die Welt der Wünsche, nämlich dann, wenn sich etwas ereignet, was man nicht für möglich gehalten hat. Das von Ludwig Erhard initiierte deutsche “Wirtschaftswunder” der 1950/60er Jahre war so etwas.

Da wir in unseren Tagen von Vergleichbarem mangels qualifiziertem Regierungspersonal nur träumen können, müssen wir uns damit begnügen, dass uns im Privaten ab und zu etwas begegnet, das über unsere Vorstellungen und Erwartungen hinausgeht.

Ich weiß nicht, ob das bei dem Automobil der Fall ist, das ich Ihnen heute präsentieren möchte. Jedenfalls regt es dazu an, über Wunsch und Wirklichkeit zu sinnieren.

Man kann dieses rund 110 Jahre alte Dokument aber auch einfach so auf sich wirken lassen und sich seine ganz eigenen Gedanken darüber machen:

NAG um 1910; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Fremd wie ein Geschöpf aus einer fantastischen Urzeit schaut uns dieser Wagen an, und doch würde jeder dieses Fahrzeug sofort als Automobil ansprechen. So furchtbar viel hat sich nämlich an dieser genialen Erfindung nicht geändert.

Ja, aber inzwischen gibt es doch auch Elektroautos und die sehen schon anders aus, mag jetzt einer denken. Gewiss, das taten die Elektroautos aber damals auch.

Der Hersteller dieses Tourenwagens – NAG aus Berlin – hatte sogar selbst welche im Programm. Sie verkauften sich eine Weile recht gut, und das obwohl deren wohlhabende Käufer nicht einen Teil des Preises von ihren Mitbürgern zwangserstattet bekamen.

Einen solches NAG-Elektroauto stelle ich gelegentlich hier vor und ich darf schon jetzt sagen, dass ich mich darin verliebt habe – was mir beim Batteriewagenangebot unserer Tage bislang unmöglich erscheint (nicht nur wegen der aberwitzigen Kosten).

Wie gesagt, die altehrwürdige Berliner NAG war der Schöpfer des oben gezeigten recht großzügig dimensionierten Fahrzeugs. Zwar sind die Autos der seit 1903 mit Eigenkonstruktionen sehr erfolgreichen Marke an dem Rundkühler leicht zu erkennen.

Doch der genaue Typ ist meist nur anhand von Größenvergleichen einzugrenzen. Im vorliegenden Fall würde ich schon einmal das Einstiegsmodell N2 6/12 PS “Puck” ausschließen – es war im Vergleich wesentlich kompakter:

NAG Typ N2 6/12 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Zudem scheint der NAG auf meinem eingangs gezeigten Foto über eine etwas modernere Karosserie zu verfügen.

So besitzt sie bereits über einen “Windlauf”, also eine zur Frontscheibe bzw. zum Fahrerabteil hin ansteigende Blechkappe am hinteren Ende der Motorhaube.

Ab 1910 taucht dieses Element bei deutschen Serienautos auf, vorher fand es sich nur bei speziell für Sporteinsätze vorgesehene Wagen.

Genau dieses Detail wird uns noch einmal beschäftigen. Wir werfen erst einmal einen näheren Blick auf die Vorderpartie des aus idealer Perspektive fotografierten NAG:

An sich ist hier alles so, wie man es bei einem NAG aus der Zeit ab etwa 1905 erwarten würde. Ins Auge sticht jedoch die Plakette vorne am Kühlwassereinfüllstutzen.

Sie ist mir schon einmal begegnet, doch ist mir entfallen, auf welche Vereinigung sie hinweist – hier sind wieder sachkundige Leser gefragt.

Eventuell handelt es sich um einen Club von Sportsleuten, die bei Beginn des 1. Weltkriegs ihre Automobile dem Heer zur Verfügung stellten. Darauf deutet das auf dem Windlauf aufgemalte Kürzel und das Fehlen eines zivilen Kennzeichens hin.

Jetzt sind wir dem Punkt angelangt, an dem wir uns zwischen Wunsch und Wirklichkeit entscheiden müssen.

Schauen Sie sich doch einmal die Kühlerpartie direkt unterhalb des Einfüllstutzens an. Bilde ich es mir ein oder ist da tatsächlich “B2” zu lesen gefolgt von einer nicht zu entziffernden Kombination aus Ziffern, die durch einen Schrägstrich getrennt sind?

Mag sein, dass mir mein Gehirn einen Streich spielt und der Wunsch in meinem Kopf etwas Wirklichkeit werden lässt, was es gar nicht gibt. Dabei mag eine Rolle spielen, dass es andere Fotos von im 1. Weltkrieg auf deutscher Seite eingesetzter PKW gibt, bei denen auf dem Kühler die offizielle Typbezeichnung aufgemalt war – warum auch immer.

Nun gab es von NAG ab 1907 einen Typ “B2” mit (je nach Baujahr) variierenden Leistungsbezeichnungen: 40-45 PS, 31/50 PS, 29/55 PS, 26/45 PS. In jedem Fall handelte es sich dabei um einen großvolumigen Vierzylinder mit anfänglich 8, später 6,7 Litern.

Auch bei den Angaben zur Bauzeit geht es durcheinander (frühe NAG-Wagen sind wie bei vielen deutschen Autos üblich schlecht dokumentiert). Teilweise wird ein Bauzeitende von 1908 angegeben, teilweise aber auch 1909/10.

Denkbar ist nun Folgendes: Wir haben es entweder mit einem älteren NAG “B2” zu tun, der 1910 einen modernen Aufbau mit “Windlauf” erhielt – was öfters vorkam. Oder es handelt sich um ein Exemplar des ganz späten Typs B2a von 1910.

Vielleicht irre ich mich aber auch völlig und wir sehen hier doch einen der kleineren NAG, also einen N2 6/12PS “Puck” oder einen frühen Vertreter seines Nachfolgers K2 6/18 PS.

Letztlich ist es aber auch gar nicht so wichtig, denn Aufnahmen solcher NAG-PKW im Kriegseinsatz sind keineswegs ungewöhnlich. NAG lieferte daneben vor allem Lastkraftwagen an das deutsche Militär, aber das ist eine andere Geschichte.

Mich interessiert am Ende Ihr Urteil, was die von mir wahrgenommene Beschriftung des Kühlers angeht – Wunsch oder Wirklichkeit bzw. Typvermerk oder Straßenschmutz?

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Wir kriegen Dich irgendwann! NAG D6 12/60 PS

Wenig ist für den Vorkriegsauto-Enthusiasten aufregender, als einem bisher unbekannten Modell auf die Spur zu kommen. Das Dumme daran ist, dass man sich letztlich nicht sicher sein kann, was man da entdeckt hat, denn definitionsgemäß weiß keiner etwas darüber.

Am Ende hat man es “nur” mit einem Einzelstück zu tun, das andernorts nirgends Spuren hinterlassen hat – das folgende Foto könnte einen solchen Kandidaten zeigen:

unbekanntes Automobil vor der Berliner Siegessäule um 1920; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Eine ziemlich spannende Kreation ist das. Die Frontpartie mit dem Spitzkühler scheint auf den ersten Blick gut zum Entstehungszeitpunkt dieser Aufnahme zu passen – um 1920, das verrät uns das Erscheinungsbild der Insassen.

Die Scheinwerfer könnten aber noch gasbetrieben sein, dann würde sich in dem Kasten auf dem Trittbrett keine Batterie, sondern ein Karbidentwickler verbergen. Sicher elektrisch betrieben sind nur die Standlichter vor der Windschutzscheibe.

Die Frontpartie wäre demnach typisch für deutsche Fabrikate von 1913/1914. Dazu will jedoch etwas ganz anderes nicht passen: Der Kettenantrieb an den Hinterrädern!

Zwar findet man das kurz vor dem 1. Weltkrieg vereinzelt noch bei Daimler-Wagen mit starker Motorisierung (22/50, 28/60 bzw. 38/80 PS), aber der Kasten mit dem vorderen Kettenritzel sah dort nicht so kolossal aus.

Der Wagen bleibt somit rätselhaft, es sei denn, einer meiner Leser hat eine Idee.

Unterdessen wenden wir uns der zweitinteressanteste Kategorie zu: Vorkriegswagen, deren Existenz in der Literatur belegt ist, von denen aber bisher keine Abbildung zu finden war. Einem solchen Fall kommen wir heute zumindest ein ganzes Stück näher.

Zunächst möchte ich an meinen Blog-Eintrag mit dem Motto “So ziemlich das Letzte” erinnern, der dem Typ D 10/45 PS der Berliner Marke gewidmet NAG war.

Ich hatte den Titel seinerzeit mit Bedacht gewählt, denn ich wusste: dieses ab 1924/25 gebaute Modell war einer der letzten NAG mit dem typischen Ovalkühler, aber noch nicht der allerletzte.

Zur Erinnerung darf ich ein zwischenzeitlich neu aufgetauchtes Foto dieses Typs vorstellen, das mir Leser René Liebers in digitaler Kopie zur Verfügung gestellt hat:

NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto: Sammlung René Liebers

Von seinem 1920 eingeführten Vorgänger Typ C 10/30 PS unterscheidet sich der NAG D4 10/45 PS vor allem durch die Vorderradbremsen.

Zudem scheinen die sonst sehr ähnlichen C-Typen häufiger einen lackierten Kühler besessen zu haben; vereinzelt findet sich das aber auch beim Modell D 10/45 PS. Vielleicht konnten Käufer zwischen den beiden Varianten wählen.

Jedenfalls fand ich kürzlich in einem 1927 erschienen Buch (Joachim Fischer, Handbuch vom Auto) die folgende Abbildung eines NAG Typ D 10/45 PS:

NAG-Typentafel aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927; Original: Sammlung Michael Schlenger

Neben der geschmackvollen Zweifarblackierung fiel mir auf, dass auch dieses Exemplar noch über Rechtslenkung verfügt – ungewöhnlich im Jahr 1927.

Natürlich könnte die Abbildung selbst noch von 1925/26 stammen und einen späten NAG D 10/45 PS zeigen. Interessanter ist aber etwas anderes: Obige Typentafel ist unten mit dem in Klammern gefassten Zusatz “NAG 12 PS Typ 1927” versehen.

Das würde bedeuten, dass der gezeigte Aufbau grundsätzlich auch mit der Motorisierung 12/60 PS verfügbar war, die 1926 neu eingeführt wurde. Bei diesem Antrieb handelte es sich um einem Sechszylinder, weshalb das Modell als Typ D6 firmierte.

Nach den Daten in der Literatur war der Radstand nur geringfügig länger als beim D4, sodass man die beiden Modelle anfänglich äußerlich kaum unterscheiden konnte.

Kurz danach wurde jedoch das Erscheinungsbild des D6 modernisiert und der nunmehr als NAG-Protos 12/60 PS firmierende Wagen nerhielt einen Flachkühler, womit die traditionelle Markenoptik endgültig passé war.

Beim überarbeiteten NAG 12/60 PS findet sich dann auch der Hinweis auf Linkslenkung. Ich kann mir aber vorstellen, dass der noch traditionell mit ovalem Spitzkühler ausgestattete NAG D6 12/60 PS ebenfalls bereits linksgelenkt war.

Ein solches Exemplar, das ich bislang als D4 10/45 PS angesprochen hatte, könnten wir dann auf meiner folgenden Aufnahme sehen:

NAG D4 10/45 PS oder D6 12/60 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Bis hierher bin ich auf plausible Annahmen angewiesen – bewiesen ist noch nichts.

Aber in meinem Fundus gibt es ein Dokument, mit dem wir dem NAG D6 12/60 PS noch ein ganz erhebliches Stück näherkommen. Es handelt sich um eines von zwei Glasnegativen des Instituts für Kraftfahrwesen in Dresden, die ich vor Jahren erstand.

Ich nehme an, dass es sich um Ausschussexemplare handelt, denn sie zeigen zwar zwei Karosserievarianten eines NAG D6, enthalten aber einen Fehler bei der PS-Angabe (20/60 PS statt 12/60 PS) – hier das Positiv des zweiten (besser erhaltenen) Dias:

NAG D6 als Pullman-Limousine; Abbildung von originalem Glasnegativ aus Sammung Michael Schlenger

So faszinierend dieser Fund auch ist – so ganz sind wir noch nicht am Ziel. Der Zeichner hat sich bei der Arbeit für einen Prospekt (vermute ich) hier einige Freiheiten genommen.

Sehr wahrscheinlich besaß der 1926 parallel zum D4 eingeführte NAG D6 serienmäßig Vorderradbremsen – anderes ist nach 1925 und bei dieser Motorisierung kaum vorstellbar.

Zudem dürften die sechs kleinen Luftschlitze in der Haube kaum zur Ableitung der Wärme im Motorraum ausgereicht haben – wahrscheinlicher ist eine lange Reihe hoher Schlitze wie beim D4.

Bei allen Vorbehalten lässt sich heute als vorläufiges Fazit festhalten: NAG D6 – wir kriegen Dich, irgendwann!

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Ende einer großen Historie: NAG-Protos 18/100 PS

Zu meinen historischen Interessen gehört neben der Welt der Vorkriegs-Automobile vor allem die römische Epoche. Wenn man wie ich in der hessischen Wetterau aufwuchs, liegt das nahe – die Römer haben hier reiche Spuren hinterlassen.

Zwar währte die Zeit nur kurz, in welcher die fruchtbare Region zwischen dem Main im Süden und dem Gießener Becken im Norden ein kleiner Zipfel des Imperium Romanum war.

Doch in den Wäldern findet man immer noch eindrucksvolle Reste der Grenzbefestigung “Limes” mit ihren Kastellen und Wachtürmen. Auch das römische Straßennetz ist vielerorts noch gut erkennbar und unter den Feldern ruhen die Fundamente hunderter Landgüter mit komfortabler Ausstattung.

An der Ausgrabung einiger davon habe ich einst in meinen Semesterferien teilgenommen. Auch später war ich noch öfters als ehrenamtlicher Grabungshelfer tätig, zuletzt 2016 auf dem Areal dieser “Villa Rustica” bei Gambach in Sichtweite der Münzenburg:

Fundamente der Villa rustica “Im Brückfeld” bei Gambach (Wetteraukreis); Bildrechte: Michael Schlenger

Während die römische Besiedlung in meiner Region schon 260 n.Chr. ein geordnetes Ende fand – die nachrückenden Germanen vegetierten dann in Grubenhäusern und plünderten die römischen Friedhöfe auf der Suche nach Verwertbarem – blieb die Hochkultur Roms andernorts auf deutschem Boden viel länger präsent.

Das gilt vor allem für die römischen Städte enlang der Donau. Dort hielt das Imperium den ständigen Angriffen germanischer Horden noch über 100 Jahre stand. Erst nach dem Jahr 375 brach die Finanzierung der Grenzsicherung zusammen.

Doch selbst danach ist für ein weiteres Jahrhundert ziviles römisches Leben an einem Ort dokumentiert, der für uns heute auch in anderer Hinsicht interessant sein wird – in Passau:

NAG-Protos 16/80 PS Sport-Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme entstand in den 1930er Jahren vom nördlichen Donauufer aus mit Blick den zweitürmigen Dom. Auf der dahinterliegenden Landspitze, an der Donau und Inn zusammenfließen, befand sich das römische Passau (“Batavis”).

Erst gegen 480 nach Christus musste die verbliebene romanisierte Bevölkerung Passaus dem zunehmenden Siedlungsdruck germanischer Völker weichen.

Beschrieben wird das in einem der letzten Schriftdokumente der Spätantike, der Lebensbeschreibung des Heiligen Severin. Er war ein gebildeter Mann der Kirche und zugleich lebenstüchtiger Organisator des spätrömischen Lebens in der Region.

Mit ihm und der Aufgabe Passaus endete nach über 400 Jahren die große Historie der römischen Zivilisation an der Donau, die Barbaren übernahmen das Regiment.

Dazu passt der am Donauufer abgestellte Wagen – denn auch er markiert annähernd das Ende einer langen und bedeutenden Geschichte, und als die letzten Exemplare 1933 entstanden, hatte die germanische Barbarei Deutschland abermals erfasst:

Dieser auffallend flach bauende Wagen mit der markanten Zweifarblackierung war eines der letzten in Serie gebauten Automobile der traditionsreichen Berliner Marke NAG – vielleicht auch das großartigste.

Die Details des Hecks, darunter die farblich kontrastierenden Kanten des angesetzten Koffers, die doppelten Stoßstangen und die Gestaltung des Reserverads finden sich genau so beim Sport-Cabriolet 208, das auf Basis des NAG-Protos 16/80 PS von 1930-33 entstand.

Ich habe bereits mehrere Aufnahmen davon bei früherer Gelegenheit präsentieren können (hier), daher sei an dieser Stelle nur eine davon wiedergegeben:

NAG-Protos 16/80 PS Sport-Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Doch so wie sich in Passau Ende des 5. Jahrhunderts eine romanisierte Restbevölkerung zäh gegen den Untergang ihrer Zivilisation wehrte, wollte auch NAG Anfang der 1930er Jahre nicht ohne weiteres aufgeben.

Nach dem hinreißenden 16/80 PS Sport-Cabriolet mit seinem 4 Liter großen Sechszylinder wollte man noch einmal seine ganze einstige Größe demonstrieren.

Dazu ließ man Chefkonstrukteur Paul Henze, der früher bei Simson und Steiger brilliert hatte, Deutschlands ersten V8-Motor im unveränderten Chassis des NAG-Protos verbauen.

Äußerlich war der daraus resultierende NAG-Protos 18/100 PS kaum vom Sechszylindertyp 16/80 PS zu unterscheiden. Folgende Aufnahme von letzterem war einst das erste Foto eines Vorkriegsautos überhaupt, das ich erwarb – zu meiner Studentenzeit, als ich meine Freizeit noch überwiegend der antiken Historie widmete:

NAG-Protos 16/80 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn man auf dem Original genau hinschaut, kann man auf dem Kühleremblem “NAG Protos” lesen, andernfalls wäre es nicht so leicht gewesen, den Hersteller zu identifizieren.

So tat sich auch Leser Matthias Schmidt schwer mit der Ansprache der grandiosen Limousine auf einem seiner Fotos, mit denen er und einige Sammlerkollegen uns immer wieder Freude und Genuss bereiten.

Denn dort ist das Markenemblem nicht lesbar und die Kühlerform ist nicht so spezifisch, dass einem gleich NAG-Protos als Marke einfallen dürfte. Doch ich erinnerte mich an meinen frühen Fotofund und konnte anhand der identischen Kühlergestaltung den Hersteller rasch ermitteln:

NAG-Protos 18/100 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Einen kleinen Unterschied – abgesehen vom Aufbau als sechs- statt nur vierfenstrige Limousine – hatte ich zunächst übersehen.

Daher war ich bis heute der Meinung, dass es sich bei diesem Prachtstück ebenfalls um einen NAG-Protos des Sechszylindertyps 16/80 PS handeln müsse. Dazu passend hatte ich bereits das Passauer Foto der Sportlimousine auf derselben Basis herausgesucht.

Erst bei näherem Hinsehen stellte ich nun fest, dass der NAG-Protos auf dem Abzug von Matthias Schmidt eine “8” auf der Scheinwerferstange trägt. Das war der Hinweis darauf, dass wir es hier tatsächlich mit dem letzten in Serie gebauten NAG-Protos mit erwähntem V8 zu tun haben, der noch ein Jahr länger als der Typ 16/80 PS gebaut wurde.

An sich hätte dieser grandiose Wagen die Präsentation als Fund des Monats verdient, doch will ich heute spendabel sein.

Die diesjährige Vorweihnachtszeit ist für viele von uns durch Sorgen und Zukunftsängste überschattet. So kann ich mir vorstellen, dass in dieser dunklen Zeit manchem jede kleine Freude willkommen ist.

Und ist es nicht ganz wunderbar, was NAG am Ende einer langen und großen Historie der Nachwelt hinterlassen hat?

Analog zu den Menschen im Europa der untergehenden Antike sind wir heute berufen, diesen Teil unseres kulturellen Erbes zu bewahren, am Leben zu erhalten und die Hoffnung auf eine neue Blüte nicht aufzugeben…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Öfter mal was Neues… NAG Typ C4 10/30 PS

Langjährige Leser meines Blogs mögen sich vielleicht verschaukelt fühlen, wenn ich unter dem Motto “Öfter mal ‘was Neues” ausgerechnet mit einem alten Kameraden wie dem NAG-Typ C4 10/30 PS komme.

Apropos “alte Kameraden” – auch diese Herren von der Reichswehr schätzten einst die Qualitäten des 1920 von dem Berliner Traditionshersteller eingeführten Modells:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So präsentierte sich der bis 1924 in etlichen tausend Exemplaren gebaute Vierzylinderwagen meistens – als vier- bis sechssitziger Tourer. Entsprechend oft finden sich zeitgenössische Aufnahmen davon.

Dieses Foto gehört dabei zu den schwächeren aus meiner Sammlung. Dennoch will ich es der Vollständigkeit halber zeigen. Nur selten verzichte ich darauf, Bilder von mäßiger Qualität zu präsentieren – denn auch sie helfen das Bild von der Vorkriegsmobilität vervollständigen.

Einen wesentlich besseren Eindruck von der konventionellen Tourenwagenausführung bekommt man auf diesem “neuen” Foto aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Die Aufnahme zeigt den NAG aus sehr willkommener Perspektive – sieht man hier doch einmal den spitz ausgeführten Ovalkühler, den es so nur bei NAG gab.

So ist unterhalb des auf eine Zulassung in Sachsen verweisenden Nummernschilds der Unterteil des Kühlerausschnitts zu sehen, der genau dem Oberteil entsprach (gespiegelt natürlich).

Dies ist nebenbei ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu dem auf den ersten Blick recht ähnlichen Kühler der D-Typen von Stoewer, welche unten horizontal abschlossen.

Die typische NAG-Plakette auf der Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern unterstreicht die Markenidentität. Sie ist in manchen Fällen das entscheidende Element, welches die Ansprache als NAG erlaubt – so etwa hier:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei dieser Aufnahme, die ich schon vor Jahren vorgestellt habe, hatte ich mich von dem Greif-Kühlerfigur zunächst verleiten lassen, in dem Wagen einen Stoewer aus Stettin in Pommern zu sehen, da der Greif das pommersche Wappentier war.

Doch bei näherem Hinsehen erkannte ich vor dem mit einer Kunstledermanschette verkleideten Kühler besagtes NAG-Emblem.

Ja, schön und gut, wo aber bleibt das Neue, Genosse? Gemach, man muss nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

Wenn Sie noch etwas Zeit haben, will ich Sie erst einmal mit einer weiteren Aufnahme eines NAG Typ C10/30 PS belästigen:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Prinzipiell haben wir es hier mit dem gleichen Modell zu tun, bloß wirkt der Tourer hier dynamischer. Das liegt an der expressiven Ausführung des Aufbaus als sogenannte Tulpenkarosserie.

Nur selten sieht man das opulent auskragende Oberteil so schön wie hier. Wie eine Blüte wird der Aufbau nach oben hin immer breiter – auf eine enge “Taille” folgt zuletzt eine breite “Schulter”.

Dieser Mode folgten die Linien vieler deutscher Tourenwagen für eine Weile nach dem 1. Weltkrieg, bevor sich sachliche und auf mich beliebig wirkende Formen durchsetzten:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch dieses Exemplar hatten wir schon vor Jahren – höchste Zeit also für die eingangs angekündigten Novitäten aus dem Hause NAG.

Nun, wie wäre es zur Abwechslung einmal mit einer geschlossenen Version des NAG Typ C4 10/30 PS? Das wäre doch ein Fortschritt nach allen diesen Tourenwagen, oder?

Ganz neu in meinem Blog ist aber auch das nicht.

Vor längerem konnte ich diese Aufnahme aus der Sammlung von Matthias Schmidt präsentieren:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Was es mit der Situation auf sich hat, können Sie im zugehörigen Blog-Eintrag nachlesen.

So eindrucksvoll diese Ausführung des NAG Typ C4 10/30 PS als Chauffeur-Limousine (ein Außenlenker, um genau zu sein) auch wirkt, ist sie noch nicht ganz das, wohin ich will.

Der Wagen ist mir nämlich nicht luxuriös genug. Jetzt spinnt er aber, mögen Sie jetzt denken – exklusiver geht’s doch kaum, oder? Zugegeben: ich hätte das auch nicht gedacht.

Aber das ist ja das Magische bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautomobilen. Es tauchen immer wieder aus den Tiefen der Vergangenheit neue Fundstücke auf, die einen erst einmal sprachlos dastehen lassen – auch wenn man schon viel gesehen hat.

Und jetzt schauen Sie sich einmal das an:

NAG C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Kann natürlich sein, dass Sie so etwas bereits kennen, dann müssen Sie halt zur Konkurrenz wechseln (wenn es eine gibt).

Ich jedenfalls habe so etwas Großartiges auf Basis des NAG C4 10/30 PS noch nirgends gesehen. Ja, Raffiniertes und Sportliches durchaus, aber ein solches “Raumschiff” – das sucht meines Erachtens seinesgleichen.

Solche hocheleganten Aufbauten als Chauffeur-Limousine mit riesigen Fensterflächen kennt man eher aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg – und sie waren mit Abstand das Teuerste, was man sich überhaupt als Karosserie vorstellen konnte.

Die vier Personen davor wirken vor dem wohl mehr als 2,10 m hohen NAG eher klein – doch “kleine Leute” waren das mit Sicherheit nicht.

Dieses Manufakturfahrzeug war ungeheuer kostspielig – ich pflege den Besitz solcher Wagen mit dem heutigen Besitz eines Privatflugzeugs zu vergleichen.

Wie so oft muss ich feststellen, dass sich die enorme Wirkung dieser Aufnahme mindestens genauso aus der phänomenalen Präsenz der vier Individuen davor ergibt:

Geben Sie es doch zu, meine Herren:

So aufmerksamkeitsstark das Muster auf dem Kleid der Dame ist, die bestens gelaunt auf dem Werkzeugkasten auf dem Trittbrett sitzt – Sie schielen doch auch heimlich bloß nach der verschwörerisch dreinblickenden jungen Frau ganz links…

Mir geht es jedenfalls so – wir Männer sind seit Urzeiten auf so etwas programmiert, ganz gleich was einem freudlose Verfechter der politischen Korrektheit zu erzählen versuchen. Intelligente Frauen wissen das und setzen es zu ihrem Vorteil ein.

Um der Geschlechtergerechtigkeit willen möchte ich aber auch den Herrn nicht unerwähnt lassen, der in lässiger Pose am Ersatzrad lehnt.

Er sieht dem Hausarzt meiner Kindheit ähnlich, Dr. Gundermann, der in seiner kargen Freizeit mit Hund und Pfeife spazierenging und der ebensolche Reithosen mit Stiefeln trug.

Seine Pose ist makellos und sein abgeklärter Blick ist der eines durch das Leben zum Philosophen gewordenen Mannes. Da kann der Jüngling weiter links nicht mithalten, der vielleicht Sohnemann war.

Er tut nämlich genau das Gegenteil von dem, was mir mein Großonkel Ferdinand – stets wie aus dem Ei gepellt mit gestärktem Oberhemd und Krawatte, ein guter Klavierspieler, brillianter Fotograf, launiger Unterhalter und großer Frauenfreund – früh beibrachte: In der Gegenwart von Damen hat ein Mann niemals die Hände in den Hosentaschen!

“Öfter mal was Neues” – vielleicht dachte sich das ja dieser Bursche mit dem dreisten Seitenblick auf seine Nachbarin…

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So ziemlich das Letzte… NAG Typ D4 10/45 PS

Ich weiß: Sonderlich positiv mutet der Titel meines heutigen Blog-Eintrags nicht an. Doch wie so oft enthält er Spuren von Ironie.

Es geht natürlich nicht um Dinge, bei denen beispielsweise unsere Republik so ziemlich das Schlusslicht in der EU ist, etwa Eigenheimquote, Rentenniveau, Median-Vermögen, Mobilfunkabdeckung usw.

Nein, dergleichen Lappalien wären der Laune nur abträglich. Wie ich kürzlich notierte, müssen wir uns in Anbetracht der Nachrichtenlage mehr denn je mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigen, um nicht verrückt oder zumindest griesgrämig zu werden.

Also bleiben Sie heute dabei – es bereitet nämlich durchaus Vergnügen, wenn man sich mit einem Vorkriegsautomobil beschäftigt, das einst “so ziemlich das Letzte” war…

Mir fällt es bekanntlich leicht, mich für die klassischen Modelle der Berliner Marke NAG zu erwärmen – damit meine ich diejenigen, die mit dem typischen Ovalkühler daherkamen, den man über die Zäsur des 1. Weltkriegs beibehalten hatte.

Bis 1914 und während des Kriegs war er noch flach ausgeführt wie bei diesem K-Typ:

NAG K-Typ; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dieser Wagen mit Limousinenaufbau und gleichzeitig über den ganzen Innenraum gehendem Verdeck war bei einer deutschen Militäreinheit im Einsatz – sicher kann ein sachkundiger Leser anhand der Beschriftung mehr dazu sagen.

Nach dem 1. Weltkrieg erfuhr der Ovalkühler von NAG eine Veränderung, die ihn für mich erst richtig attraktiv machte – er wurde nämlich nunmehr als Spitzkühler ausgeführt, was nach meinem Eindruck in dieser konsequenten Form kein anderer Hersteller so machte.

Damit wurde als erstes NAG-Modell der ab 1920 gebaute Typ C4 10/30 PS ausstaffiert, der zu den häufigsten Fahrzeugen in meiner Fotosammlung und in meinem Blog gehört.

Hier haben wir ein frühes Exemplar, noch mit expressiver “Tulpenkarosserie” und sportlich gepfeilter Frontscheibe – so musste ein deutscher Tourenwagen Anfang der 1920er Jahre aussehen:

NAG C4 10/30 PS Tourenwagen, Bauzeit: 1920-24; Werbepostkarte der Pianofabrik Bogs & Voigt, Berlin; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Von diesem für seine Qualität hochgeschätzten Modell gab es vielfältige Aufbauten – eine eindrucksvolle geschlossene Variante will ich bei anderer Gelegenheit vorstellen.

Heute halten wir uns nicht länger mit dem NAG Typ C 10/30 PS auf und wenden uns stattdessen seinem Nachfolger zu – dem Typ D 10/45 PS.

Dieses ab 1924 gebaute Modell war motorenseitig modernisiert worden. Der Hubraum war zwar nur von 2,5 auf 2,6 Liter gesteigert worden, doch der Wechsel von seitlich stehenden zu im Zylinderkopf hängenden Ventilen machte eine um 50 % höhere Leistung möglich.

Dieses Aggregat war meines Wissens “das Letzte”… welches von Ingenieur Christian Riecken für NAG konstruiert worden war, nachdem er bereits mit dem 50 PS starken Sportmodell NAG C4m von 1925/26 gezeigt hatte, dass er sein Geschäft verstand.

Der von Riecken entwickelte NAG Typ D 10/45 PS (zunächst mit 40 PS) unterschied sich äußerlich anfänglich nur geringfügig vom Vorgängermodell C 10/30 PS:

NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Die Gestaltung der Frontpartie war nahezu identisch, wenngleich die Dimensionen eindrucksvoller ausfielen.

Dass wir hier tatsächlich einen D-Typ sehen, verraten die Bremstrommeln an den Vorderrädern – beim C-Typ waren nur die Hinteräder gebremst, außerdem wirkte die Fußbremse wie damals üblich auf die Kardanwelle.

Als weiteres typisches Merkmal festzuhalten ist hier der Abwärtsschwung der Seitenlinie hinter der Windschutzscheibe. Außerdem ist zu vermerken, dass sich das Lenkrad hier noch auf der rechten Seite befindet wie bei vielen deutschen Wagen vor 1925.

Praktisch identisch stellt sich ein weiteres Exemplar des NAG Typ D 10/45 PS auf der folgenden Aufnahme dar:

NAG Typ D4 10/45 PS, Bauzeit: 1924-27; Firmenfahrzeug der A. Dankelmann GmbH, Niedersedlitz (Sachsen); Originalfoto aus Besitz der Familie Dankelmann (via Erik Dünnebier)

Auch auf diesem brillianten Dokument sehen wir das Lenkrad auf der rechten Seite, die Vorderradbremsen und die gleiche Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube. Die Trittschutzbleche am Schweller und der Verlauf der Seitenlinie sind ebenfalls identisch.

Nun könnte man der Ansicht sein, dass diese Ausführung “so ziemlich das Letzte” war, was im klassischen NAG-Stil gebaut wurde. Denn danach ging man zu Wagen mit Flachkühlern über, die neu entwickelte 6-Zylindermotoren besaßen (12/60 und 14/70 PS).

Der unverwechsellbare Charakter der NAG-Automobile ging damit aus meiner Sicht verloren, wenngleich diese Fahrzeuge schon aufgrund ihrer Seltenheit interessant sind.

Doch in der Kategorie “so ziemlich das Letzte” findet sich dann doch noch eine Variation der klassischen NAG-Wagen, die ich bisher nur gestreift habe. Die zu entdecken, nahm allerdings einige Zeit in Anspruch.

So hatte ich meinem Fundus schon vor längerem diese schöne Aufnahme einverleibt, mit der ich zunächst wenig anzufangen wusste:

NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Erst bei der x-ten Wiedervorlage erinnert ich mich daran, wo ich die hinter der Frontscheibe abfallende Seitenlinie und die Trittschutzbleche in genau dieser Ausführung gesehen hatte – beim NAG Typ D 10/45 PS natürlich!

Unter der Lupe ließ sich dann auf dem Originalabzug auch das markante NAG-Logo auf der hinteren Nabenkappe erahnen.

Was aber ist von den völlig anders gestalteten Luftschlitzen zu halten, die nun weit schmaler und zahlreicher sind? Auch diese waren mir schon einmal begegnet, wie ich mich erinnerte.

So hatte ich vor einigen Jahren bereits einen NAG mit dieser modernisierten Gestaltung der Haubenpartie vorgestellt:

NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto von 1929 aus Sammlung Michael Schlenger

Ich hatte anhand der anderen Ausführung der Haubenpartie geschlussfolgert, dass es sich hier um einen NAG des modernisierten Typs D4 10/45 PS handeln müsse. Da die Vorderräder im Dunkeln liegen, war nicht zu erkennen, ob dort Bremsen verbaut waren.

Zwei Unterschiede sind hier jedoch zu vermerken: Die Türen sind anders gestaltet und vor allem: die Lenkung befindet sich immer noch auf der rechten Seite.

Auch wenn es in der mir vorliegendn Literatur nicht festgehalten ist: Offenbar modernisierte NAG den Typ D4 10/45 PS zunächst äußerlich, behielt aber noch die Rechtslenkung bei. Erst in einem nächsten Schritt wanderte dann die Lenkung auf die linke Seite:

Das ist aber nun wirklich “so ziemlich das Letzte”, was ich zum NAG Typ D 10/45 PS beisteuern kann – danach begann ein neuer Abschnitt in der Markengeschichte, der NAG rasch seinem Finale näherbrachte.

Kann sich diese schöne Momentaufnahme als würdiges “Adieu” für den letzten klassischen NAG sehen lassen? Ich meine schon.

Zur Klarstellung: “So ziemlich das Letzte” zu diesem Hersteller in meinem Blog war das natürlich nicht – es gibt auch zu NAG noch viel Material, das aufgearbeitet und präsentiert werden will. Und wenn es sonst derzeit wenig Anlass gibt: Freuen Sie sich darauf!

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Ein Sommernachtstraum: NAG 6/12 PS “Puck”

Bald haben wir Mitte Juli und die Sommernächte sind so warm, wie ich das liebe. Das Träumen vom ewigen Süden stellt sich da bereits vor dem Schlafengehen ein.

Mit “Sommernachtstraum” verbindet mancher das gleichnamige Theaterstück von Altmeister Shakespeare – übrigens hinreißend verfilmt 1999 mit Michelle Pfeiffer, Kevin Kline und Rupert Everett.

Darin taucht eine mythische Gestalt auf, die uns heute beschäftigen wird, der Puck! Die Figur entstammt der germanischen Volkstradition und ist in England bis in die Neuzeit lebendig geblieben.

Der Puck gehört zur weitverzweigten Familie der Elfen (auch: Elben) und zeichnet sich durch seinen zwielichtigen Charakter aus: Als Hausgeist ist er gutmütig bis großzügig, solange man ihn mit kleinen Gaben bedenkt – tut man das nicht, bringt er Unheil.

Wer fühlt sich da nicht an Automobile erinnert? Auch sie wollen mit Aufmerksamkeit bedacht werden, dann danken sie es einem mit Treue. Vernachlässigt man sie, werden sie bockig und brandgefährlich.

Ich weiß nicht, welche dieser Assoziationen der Berliner Autohersteller NAG im Sinn hatte, als er 1908 den neuen Kleinwagentyp N2 6/12 PS mit dem Beinamen “Puck” bedachte:

NAG-Reklame um 1909; Faksimile aus Sammlung Michael Schlenger

Auf den ersten Blick haftet dem viersitzigen Tourenwagen – damals oft noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – nichts Kleinwagenhaftes an.

In der Tat war die Konstruktion kein fauler Kompromiss, sondern stellte ein vollwertiges Automobil dar, an dem bloß alles etwas kleiner war als bei den großen NAG-Typen, die seinerzeit mit Leistungen bis zu 55 PS erhältlich waren.

Betrachtet man indessen zeitgenössische Fotos des Modells “Puck” mit Insassen, erkennt man schnell, dass es sich tatsächlich um ein recht kompaktes Gefährt handelte:

NAG “Puck” Typ 6/12 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Diese reizvolle Aufnahme aus dem Fundus meines Sammlerkollegen Matthias Schmidt (Dresden) habe ich hier bereits vorgestellt.

Wie es seinem Charakter entspricht, hat der Puck die ihm seinerzeit geschenkte Aufmerksamkeit dankend zur Kenntnis genommen und revanchiert sich heute bei uns.

Selbstverständlich bleibt der sagenhafte Puck selbst unsichtbar, doch hat er uns ein weiteres Konterfei seines Namensvetters aus dem Hause NAG herbeigezaubert:

NAG “Puck” Typ 6/12 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Macht sich der Puck ansonsten in der (ohnehin dürftigen) Literatur zur Automarke NAG rar, erweist er sich als durchaus großzügig, wenn man sich auf ihn einlässt.

Hier dient er gleich vier Personen als zuverlässiger Begleiter. Man erkennt übrigens, dass auf der Rückbank tasächlich nur Platz für zwei Erwachsene war – größere Modelle mit diesem Aufbau ließen sich ohne weiteres als Fünfsitzer nutzen.

Wie in der Frühzeit des Automobils häufig zu sehen, hat der in die Ferne schauende Fahrer eine Hand am Ball der Hupe, welcher hier in Griffweite neben Handbrems- und Schalthebel angebracht ist.

Gut gefällt mir auf dieser Aufnahme die Beifahrerin, die sich weniger steif als die beiden Damen im Fonds gibt und eine lässige Haltung einnimmt, als sei es das Natürlichste der Welt, in einem Automobil unterwegs zu sein.

Das war es vor über 110 Jahren gewiss nicht und auch wenn der “Puck” in der damaligen Automobilhierarchie am unteren Ende stand, handelte es sich bei ihm um einen Luxusgegenstand, der nur einem verschwindend kleinen Teil der Deutschen zugänglich war.

Auch von daher sind wir gut beraten, uns jedem “Puck” mit Ehrfurcht zu nähern. Denn Kleinwagen wie dieser standen am Anfang eines langen Wegs, der später zum erschwinglichen Automobil für jedermann führte.

In Zeiten zunehmenden Staatsversagens im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere öffentlicher Verkehrsmittel wie der Bahn, wird der Wert der individuellen Mobilität in Zukunft aus meiner Sicht eher noch zunehmen.

Also stellen Sie sich gut mit ihrem “Puck” – oder wie auch immer Sie Ihren vierrädrigen Familienangehörigen nennen mögen. Lassen Sie ihm unbedingt die nötige Aufmerksamkeit zukommen – er wird es Ihnen danken und er könnte künftig zu den rarer werdenden Dingen gehören, auf die Sie sich noch verlassen können.

Im übrigen genießen Sie die warmen Sommernächte – der Winter wird hart und grausam werden, wenn in der Hauptstadt nicht bald der gute Geist der kalten Vernunft einzieht…

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Ein Riese im Gebirge: NAG-Protos 14/70 PS

Nach über fünf Jahren (siehe hier) kehre ich zu einem Automobil zurück, das Ende der 1920er Jahren zu den “Riesen” am deutschen Markt gehörte – zwar nicht in Stückzahlen gemessen, wohl aber in punkto Hubraum, Leistung und Platzangebot.

Die Rede ist vom NAG-Protos 14/70 PS in der eindrucksvollen Ausführung als Pullman-Limousine. Dieser Sechszylindertyp war von der altehrwürdigen Berliner NAG entwickelt worden, wurde aber aus markenpolitischen Gründen nach Übernahme des Konkurrenten Protos als NAG-Protos angeboten.

Es gab daneben auch eine schwächere Ausführung mit Motorisierung 12/60 PS, die jedoch mit einem Aufbau als Sechsfenster-Limousiner wie dieser überfordert gewesen wäre:

NAG-Protos 14/70 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wie es scheint, wurden diese Pullman-Limousinen von NAG-Protos stets mit der stärkeren Motorisierung 14/70 PS ausgeliefert.

Ob das zutrifft, ist gar nicht so wichtig, denn auch im Fall der schwächeren Ausführung hätten wir es auf jeden Fall mit einem fünf Meter langen Koloss zu tun – der wäre so oder so ein “Riese im Gebirge” gewesen, um den Titel zu bemühen.

Wir werden noch sehen, was mich zu dieser Titelwahl bewogen hat.

Doch erst einmal darf ich ein Fundstück von Leser Matthias Schmidt (Dresden) präsentieren, bei dem es sich ebenfalls um die 14/70 PS-Version des NAG-Protos vom Ende der 1920er Jahre handeln dürfte:

NAG-Protos 14/70 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Auch das ist eine Sechsfenster-Limousine, welche mit waagerechten Luftschlitzen, Doppelstoßstange und Scheibenräder zwar an den Adler Standard 6 erinnert, doch anhand des Kühlers ganz klar als NAG-Protos identifiziert werden kann.

Wer bei der Kühlergestaltung an den zeitgenössischen Lincoln denkt, liegt nicht falsch. Die deutsche Autoindustrie beschränkte sich Ende der 1920er Jahre weitgehend auf das Kopieren von Erfolgskonzepten der US-Konkurrenz – insbesondere äußerlich.

Genützt hat es angesichts der fehlenden Voraussetzungen für eine kostengünstige Massenproduktion zwar nichts – aber was spektakuläre Symbolhandlungen angeht, war und ist man hierzulande bekanntlich gerne groß.

So blieb auch der NAG-Protos 14/70 PS das, was damals jeder nüchterne Betriebswirt hätte vorrechnen können – in kommerzieller Misserfolg. Dass diese Autos überhaupt entstanden, erkläre ich mir mit der hierzulande von “Intellektuellen” diktierten Verachtung des puren Gewinnstrebens und der damit einhergehenden Ignoranz, was Ökonomie angeht.

Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren unzählige deutsche Hersteller heroisch gegen die nüchterne Realität der Kostendegression bei Großserienproduktion und gegen die Bedürfnisse der Käufer angerannt und fast ausnahmslos gescheitert.

So kam es, dass auch ein unfassbar teurer Luxuswagen wie der NAG-Protos 14/70 PS irgendwann als Taxi endete – spätestens in den 1930er Jahren wie dieser hier:

NAG-Protos 14/70 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein trauriges Ende für ein majestätisches Automobil wie dieses, welches einst im Landkreis Hirschberg (Schlesien) zugelassen war und somit im Riesengebirge zuhause war.

Der Wagen war tatsächlich ein Riese im Gebirge, denn mit 3,6 Litern Hubraum und 70 PS Leistung war er den Anforderungen der dortigen Topografie gewachsen, welche Kleinwagen damals an ihre Grenzen brachte und mangels Drehmoment zumindest eifriges Schalten erforderte.

Der Hakenkreuz-Wimpel gibt uns einen Hinweis auf die Entstehung dieser schönen Aufnahme irgenwann ab 1933. Wie stets in solchen Fällen sehe ich davon ab, reflexartig entsprechende politische Überzeugungen des Fahrers daraus abzuleiten.

Das Motiv des Opportunismus ist zwar nicht das erhabendste, aber ein verständliches. Wir sehen in unseren Zeiten genügend Beispiele für das Phänomen der freiwilligen Selbstgleichschaltung und Unterwerfung.

Im Gebirge ein Riese sein, aber im Alltag ängstlich auf Anpassung achten, Beispiele für solche Zeitgenossen finden sich auch in unseren Tagen – bloß sehen die Autos und das Outfit ihrer Insassen heute meist nicht annähernd so schick aus…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Berliner Familienbande: Die K-Typen von NAG

Von den zahlreichen Automarken, die es einst in Berlin gab, war die vom AEG-Konzern 1901 mit viel Weitblick gegründete Neue Automobilgesellschaft (später: Nationale Automobilgesellschaft – NAG) die bekannteste und langlebigste.

Leider gibt es weder in der Literatur, noch im Netz eine wirklich umfassende Würdigung dieser einst so bedeutenden deutschen Automarke – im Berlin des 21. Jh. scheint man andere Sorgen bzw. Neigungen zu haben, was man so hört und liest…

Schon die ersten NAG-Wagen besaßen den runden (später ovalen) Kühler, der bis in die Mitte der 1920er Jahre markenypisch bleiben sollte – hier ein Exemplar von 1903/04 (aufgenommen in Berlin Anfang 1905):

NAG von 1903/04; Abbildung aus Braunbecks Sportlexikon von 1910

Binnen weniger Jahre rückte NAG in die Riege der renommiertesten deutschen Automobilhersteller auf – was mangels Traditionspflege heute so gut wie unbekannt ist.

Früh begann man daneben mit dem Nutzfahrzeugbau, der neben Lastkraftwagen auch Omnibusse umfasste – hier ein ganz frühes Exemplar mit Münchener Zulassung, das im Alpenraum zum Einsatz kam:

NAG-Omnibus von 1906/07; Ausschnitt aus zeitgenössischer Postkarte (Sammlung Michael Schlenger)

Für die Güte der NAG-Kraftwagen sprachen frühe Exporterfolge in alle Welt und die Tatsache, dass selbst der anspruchsvolle deutsche Hochadel Autos der Berliner Marke fuhr.

Wie bei fast allen deutschen Herstellern kam es ab 1910 auch bei der NAG zu einer gestalterischen Zäsur – erstmals erhielten Serienwagen einen sogenannten “Windlauf”, ein kappenartiges Blech, das für einen strömungsgünstigen Übergang von der Motorhaube zur Windschutzscheibe sorgte.

Hier sehen wir ein Beispiel dafür anhand einer NAG-Reklame von 1911:

NAG K-Typ; originale Reklame aus Sammlung Michael Schlenger

Mit der neuen Formgebung ging bei NAG auch eine Modernisierung der Fahrzeugpalette einher, deren Typen seit Einführung des Kardantriebs 1908 den Zusatz “K” trugen.

Das untere Ende markierte der NAG K2 6/18 PS mit der hübschen Bezeichnung “Darling”. Er unterschied sich von den übrigen größeren Typen der K-Familie im Wesentlichen nur durch seine kompakteren Abmessungen.

Möglicherweise war dieser NAG ein Exemplar dieses kleinen Modells K2:

NAG K-Typ um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Eventuell haben wir es auch mit dem etwas stärkeren NAG K3 8/22 PS zu tun, der ab 1912 gebaut wurde. Dafür könnten die etwas stärker ausgeführten Vorderschutzbleche sprechen.

Daneben waren ab 1912 die noch leistungsfähigeren Typen K5 13/35 PS, K6 22/50 PS und K8 33/75 PS verfügbar, wobei die beiden letztgenannten noch auf älteren Konstruktionen basierten.

Jedenfalls stellte die NAG 1912 zur Reklame für ihre runderneuerte Typenpalette der Schokoladenfirma Stollwerck acht ihrer Autos zur Verfügung – vielleicht weiß jemand mehr etwas über diese Aktion, die hier dokumentiert ist:

Abbildung aus einer zeitgenössischen Illustrierten; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Auch abseits solcher öffentlichkeitswirksamen Aktivitäen waren die K-Typen von NAG ein vertrauter Anblick, zumindest in größeren Städten.

Jedenfalls haben sich jede Menge entsprechender Aufnahmen erhalten, weshalb es unverständlich ist, warum es abseits meiner NAG-Bildergalerie keine eingehender Fotodokumentation dieser Marke gibt – jedenfalls kenne ich keine allgemein zugängliche.

Hier haben wir ein 1913 aufgenommenes Exemplar, bei dem es sich um einen mittleren Vertreter der K-Palette – einen K3 8/22 oder K5 13/35 PS – handeln dürfte:

NAG K3 oder K5 von 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Unterdessen hatte die NAG auch schon einige Jahre Erfahrung im Bau von Flugmotoren gesammelt und wenn ich mich nicht irre, ist auf folgenderAbbildung von 1913/14 ein sechszylindriges Exemplar im Schaufenster der NAG in Berlin “Unter den Linden” zu sehen.

Der Wagen daneben ist auch wieder ein K-Typ – vermutlich eine Chauffeur-Limousine:

NAG-Verkaufsausstellung in Berlin; Abbildung aus einer zeitgenössischen Illustrierten von 1913/14; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Übrigens war allen K-Typen gemeinsam, dass sie keinen runden Kühler mehr, sondern einen ovalen besaßen. Ob der Wechsel bereits vor 1911 erfolgte, konnte ich bisher nicht ermitteln, da auch ein runder Kühler aus einem spitzen Winkel betrachtet oval erscheint.

Dummerweise sind frontale Aufnahmen früher NAGs die Ausnahme, weshalb das folgende Foto aus der Sammlung von Matthias Schmidt (Dresden) eine Besonderheit darstellt:

NAG K-Typ; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dieses in jeder Hinsicht herausragende Foto zeigt den ovalen Kühler der NAG K-Typen in wünschenswerter Deutlichkeit.

Allerdings ist es aus dieser Perspektive so gut wie unmöglich, den Radstand des Wagens abzuschätzen, weshalb hier die “K-Frage” offenbleiben muss. Das kleine Modell K2 6/18 PS darf man wohl ausschließen, aber mehr lässt sich kaum sagen.

Aus demselben Jahr, in dem dieses NAG in Berlin fotografiert wurde – 1913 nämlich – stammt diese hübsche Reklame, die eine der zeittypischen Chauffeur-Limousinen zeigt, bei denen das Passagierabteil vom Fahrerbereich abgetrennt war:

NAG-Reklame von 1913; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der Zeichner des Wagens hat diesen wohl mittleren bis großen NAG K-Typ gut getroffen. Er hat auch die elektrischen Positionsleuchten im Windlauf akkurat wiedergegeben, die damals noch eine meist aufpreispflichtige Neuheit waren.

Dass man der Sache noch nicht so recht traute – die elektrische Zusatzbeleuchtung (quasi das Standlicht) erhielt ihre Energie von Akkumulatoren – zeigen Fotos weitere Typen aus der K-Familie, die entweder noch gasbetriebene Positionslichter besaßen oder beides.

Das erste Beispiel ist diese Aufnahme, die einen mittelgroßen NAG K-Typ von ca. 1914 bei einer deutschen Militäreinheit im 1. Weltkrieg zeigt:

NAG K-Typ um 1914; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dass dieses Foto nicht mehr zu Friedenszeiten und nicht in der Heimat entstanden ist, verrät die Gasmaskendose, die rechts vom Fahrer an dem mit einem Tuch überzogenen Karabiner hängt.

Der Hund könnte das Maskottchen der Militäreinheit gewesen sein oder einem Offizier gehört haben. Ein Artgenosse ist auf einem weiteren Foto eines noch größeren NAG K-Typs (evtl. K6 22/50 PS) zu sehen, der sich auf schlammigem Untergrund festgefahren hat:

NAG K-Typ; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sieht man nun auch den Karbidgasentwickler auf dem Trittbrett, aus dem die Gaslampen ihre Energie bezogen, außerdem elektrische Positionsleuchten, auf deren nächtlichen Einsatz man freilich in Frontnähe tunlichst verzichtete.

Ein letztes Mal begegnet uns ein NAG K-Typ in Kriegszeiten auf folgender Aufnahme aus dem Jahr 1918, die in einem Militärlazarett in Hessen entstanden ist:

NAG K-Typ, aufgenommen 1918; Originalfoto bereitgestellt von Stanislav Kirilits

Damit hätten wir die “Berliner Familienbande” der K-Typen fast durch, wäre da nicht noch ein Foto aus meiner Sammlung, welches das Bindeglied der Vorkriegsmodelle zum Einheitstyp C4 10/30 PS darstellen könnte, der nach dem 1. Weltkrieg gebaut wurde.

Die Aufnahme selbst stammt von 1925 und der Wagen weist einige Details auf, die ihn moderner erscheinen lassen als die bisher gezeigten Exemplare:

NAG (evtl. K4 10/30 PS); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Doppelstoßstange ist ein Zubehörteil nach US-Vorbild, das es serienmäßig bei diesem NAG nicht gab. Auffallend sind ansonsten die stärker gerundeten Vorderschutzbleche und die anderen Proportionen des Ovalkühlers.

Die komplette Beleuchtung ist elektrisch und anstelle von Positionslichternn könnten am Windlauf Hupen montiert sein.

Ich halte es für möglich, dass wir hier ein Exemplar des erst 1914 eingeführten und bis 1919 gebauten NAG Typ K4 10/30 PS vor uns haben. Er wurde 1920 vom NAG Typ C4 10/30 PS mit identischer Motorisierung abgelöst, der sich vor allem an dem markanten Spitzkühler erkennen lässt – aber das ist dann eine andere Familienbande…

NAG C4 10/30 PS, aufgenommen 1922; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

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Bell(in)a Macchina: Ein NAG C4b “Monza”

“Bella macchina!” – so pflegen Italiener seit jeher auszurufen, wenn ihnen ein Automobil besonders gut gefällt.

Vor bald 100 Jahren konnte dies sogar einem Fahrzeug gelten, das aus der deutschen Hauptstadt stammte – heute dagegen wird man im Zusammenhang mit Berlin wohl zuletzt an schöne Autos denken, so ändern sich die Zeiten.

So hat der lautmalerische Titel seine beabsichtigte doppelte Bedeutung. Doch warum überhaupt der Bezug zu Italien? So ein NAG C4 war in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ein zwar ausgezeichneter, aber auch schwerfällig wirkender Wagen:

NAG C4 10/30 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses typische Exemplar wurde einst für eine Postkarte abgelichtet, die umseitig einen Reklamestempel der Berliner Pianofabrik “Bogs & Voigt” trug.

An die 20 Originalaufnahmen dieses technisch konventionellen 2,6 Liter-Modells konnte ich bislang zusammentragen (siehe meine NAG-Galerie); die meisten davon sind klassische Tourenwagen wie der hier gezeigte.

Gemeinsam ist ihnen der spitz zulaufend Kühler mit dem markentypischem ovalen Kühlerausschnitt. Doch ansonsten finden sich im Detail etliche Unterschiede, so auch hier.

Nicht immer war der Kühler in Wagenfarbe lackiert, bisweilen findet man ihn auch in glänzendem Messing. Selten sieht man eine Stoßstange wie beim obigen Beispiel, dieses Zubehör war ab Werk nicht erhältlich, sondern musste im Handel erworben werden.

Ungewöhnlich für das Modell ist auch die recht niedrige, gepfeilte Frontscheibe. Meist war sie plan und etwas höher, mal einteilig, mal mittig oder horizontal unterteilt. Ich konnte hier bislang kein Muster erkennen, vermutlicht standen verschiedene Varianten zur Auswahl.

Alles in allem ein gut durchgestalteter Wagen, aber kaum etwas, was die Leidenschaft eines Gourmets weckt. Dazu passt auch das gediegen-bürgerliche Erscheinungsbild des Eigners, der kein Selbstfahrer war, sondern einen Chauffeur beschäftigte:

Der aufmerksame Betrachter wird auf diesem Ausschnitt die “Chrysler”-Reklame bemerken, mit welcher sich die Konkurrenz ankündigt, die ab Mitte der 1920er Jahre den unterversorgten deutschen Automarkt mit moderneren, stärkeren und oft auch deutlich preisgünstigeren Modellen im Sturm nehmen sollte.

Das soll aber heute kein Thema sein – die von den einheimischen Herstellern vergeblich als “Massenprodukte” verächtlich gemachten “Amerikanerwagen” kommen in meinem Blog oft genug zu ihrem Recht.

Vielmehr widmen wir uns einem Meisterstück der Berliner NAG, das kaum in größerem Kontrast zur gängigen Tourenwagenausführung des Typs C4 10/30 PS stehen könnte. Dabei basiert es auf der gleichen Konstruktion, man kitzelte aus dem Motor lediglich 10 (späer 15) zusätzliche PS heraus.

In Verbindung mit einer hinreißenden und 200 kg leichteren Sportkarosserie wurde aus dem behäbigen NAG C4 mit 75 km/h Spitze ein echtes 100km-Auto.

Exemplare davon habe ich bereits vorgestellt, zuletzt als Fund des Jahres 2020, doch diese Aufnahme aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks ist eine Klasse für sich:

NAG C4b “Monza”; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Der Eindruck, dass hier ein riesiger Sechs- oder gar Achtzylindermotor den Antrieb besorgt, entsteht dadurch, dass man die Motorhaube bis kurz vor die Windschutzscheibe zog.

Statt massiver Kotflügel, die beim Tourer bis weit unter die Radmitte reichten, montierte man dünne und weit nach hinten gezogene Schutzbleche, die oberhalb des Rahmens ausliefen, verzichtete auf eine Verkleidung der Rahmenpartie und hielt das Passagierabteil so niedrig wie möglich.

Dennoch war dort Platz für vier Personen, wie hier zu sehen ist:

Die Beine der jungen Dame, die auf dem Trittbrett sitzend uns hier so entwaffnend anlächelt, befanden sich in bedenklicher Nähe zum heißen Auspuff, den man am Ende des Vorderkotflügels durch diesen abtauchen sieht.

Doch da es ein kühler Tag gewesen zu sein scheint, mag die Abwärme der Auspuffanlage nicht unwillkommen gewesen sein. Für den Nachhauseweg hatte man auf jeden Fall ausreichend Treibstoff an Bord, wie der gewaltige Dreieckskanister auf dem Trittbrett nahelegt. So konnte man den weiteren Verlauf des Ausflugs entspannt angehen.

Auffallend sind hier übrigens die Stahlspeichenräder, mit denen der Besitzer offenbar die beim NAG C4b “Monza” serienmäßigen Drahtspeichenräder ersetzt hatte. Das kostete zwar einige Kilogramm Gewicht, ersparte einem aber das häufigere Zentrieren der Räder bei schlechten Straßenverhältnissen.

Dafür erkennen wir in wünschenswerter Deutlichkeit die Nabenkappe mit dem typischen NAG-Emblem und sehen das in der Literatur überlieferte Reifenformat 820 x 120 bestätigt:

Dem Nummernschild können wir entnehmen, dass dieser NAG C4b “Monza” einst im hessischen Regierungsbezirk Wiesbaden zugelassen war.

Doch woher kommt eigentlich der Namenszusatz “Monza” bei diesem Modell? Nun, damit bezog sich NAG auf den spektakulären Sieg einer Werksrennversion des Modells C4 anlässlich des 24-Stunden-Rennens im italienischen Monza im Jahr 1924.

Damit besaß die bereits seit 1922 gebaute “zivile” Sportausführung, die NAG ab 1924 unter der Bezeichnung “Monza” (ab 1925 sogar mit 50 PS) anbot, gewissermaßen auch einige italienische Gene und dazu passte nicht zuletzt die ungemein rasant wirkende Karosserie.

Das war der Anlass für das Wortspiel im Titel, in dem “Bella” und “Berliner” eine sonst selten anzutreffende glückliche Verbindung eingehen. Übrigens werden wir dem NAG C4b “Monza” bei Gelegenheit in einem ganz anderen Zusammenhang wiederbegegnen, dann sogar auf einem anderen Kontinent…

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Makkaroni machten’s möglich: NAG Typ D 10/45 PS

Italienische Nudeln und ein deutscher Vorkriegswagen – wie soll das zusammengehen? Nun ganz ausgezeichnet, denn als die Berliner NAG 1924 den Nachfolger des verbreiteten Typs C4 10/30 PS vorstellte – das Modell D 10/45 PS – waren Makkaroni fester Bestandteil der deutschen Küche, jedenfalls in großbürgerlichen Kreisen.

So machte ich meine erste Bekanntschaft mit Makkaroni anhand eines Rezepts, das meine aus Schlesien gebürtige Mutter dem Kochbuch meiner Oma entnommen hatte: Dünne Röhrennudeln mit Hackfleisch, Olivenöl, Knoblauch, Nelke, Lorbeerblättern und Oliven, dazu geriebener Parmesankäse.

Besagtes Kochbuch stammte aus den 1920/30er Jahren und ging im Januar 1945 mit auf die Flucht vor der näherrückenden Roten Armee. Meine Mutter war damals 13 Jahre alt und erzählte später, dass sie sich an die Einkäufe in einem Liegnitzer Geschäft erinnern konnte, in dem es bis Kriegsausbruch die Zutaten für solche “exotischen” Gerichte gab.

In meiner Kindheit waren Makkaroni nach dem Rezept meiner Großmutter mein absoluter Favorit und wohl nicht zufällig gilt meine kulinarische Leidenschaft der italienischen Pasta in allen ihren Erscheinungsformen. Kartoffeln kommen mir nur als Gnocchi ins Haus…

Die perfekte Illustration zur steilen Karriere der Makkaroni im Deutschland der Vorkriegszeit kann ich heute zusammen mit dieser Aufnahme eines NAG Typ D 10/45 PS liefern :

NAG Typ D 10/45 PS Tourer; Originalfoto aus Besitz der Familie Dankelmann (heute: Sammlung Johannes Gruß, Gerolstein), bereitgestellt von Erik Dünnebier

Dieser eindrucksvolle Tourenwagen verdient seine Wirkung nicht nur der schieren Größe, sondern auch dem prächtigen Spitzkühler, den die traditionsreiche NAG bei diesem Typ zum letzten Mal einsetzte.

Vom Vorgängermodell C 10/30 PS ist der NAG Typ D äußerlich vor allem durch die vorderen Trommelbremsen zu unterscheiden. Unter der Haube hatte man dem Vierzylindermotor ein wenig mehr Hubraum (2,6 Liter) gegönnt und die Ventile von “seitlich stehend” auf “oben hängend” geändert – das kam der Drehfreude und der Spitzenleistung deutlich zugute.

Gleichwohl scheint sich dieser letzte Spitzkühler-NAG nicht mehr so gut verkauft zu haben wie der Vorgänger, was sich auch in meiner NAG-Galerie widerspiegelt. Wer einen ausgereiften und robusten Tourenwagen mit solider Leistung wünschte und die traditionelle Optik schätzte, war gleichwohl mit dem Typ 10/45 PS ganz auf der sicheren Seite.

Im vorliegenden Fall waren die Besitzer und Insassen Angehörige der Familie Dankelmann. Dieser gehörte im sächsischen Niedersedlitz eine florierende Fabrik für Makkaroni und andere Nudelspezialitäten:

Briefkopf der A. Dankelmann GmbH; Original aus Besitz der Familie Dankelmann (via Erik Dünnebier)

Die eindrucksvollen Fabrikgebäude auf diesem Briefkopf der A. Dankelmann GmbH lassen den unternehmerischen Erfolg ahnen, den man mit der großangelegten Produktion von Weizennudeln am deutschen Markt hatte.

Den NAG der Familie Dankelmann machten letztlich Makkaroni möglich – was im Titel auf den ersten Blick irritieren mochte, wird hier vollkommen plausibel.

Erik Dünnebier, der mir das Foto des NAG als digitale Kopie zusandte, versicherte mir, dass alle darauf abgebildeten Personen bekannt seien – auch der Chauffeur, der in der Familie als “der Urban” bekannt war.

Wie so oft steht der Fahrer nicht abseits, sondern posiert ebenso selbstbewusst wie lässig wie die Mitglieder der Familie, bei der er angestellt war und die ihn zweifellos schätzte.

Er war der Garant dafür, dass der NAG stets einsatzbereit und auch auf Reisen zuverlässig war – eine enorme Verantwortung, denn einen Pannendienst gab es damals noch nicht.

Übrigens sehen wir den NAG hier um 1926 bei einer Ausfahrt ins Erzgebirge und weil es der Situation noch mehr Leben einhaucht, habe ich eine kolorierte Variante erstellt, die ein plausibles Gesamtbild ergibt, wenngleich sich einige Farben nicht genau definieren lassen:

Näher können wir diesem Augenblick im Leben der Angehörigen der Nudeldynastie Dankelmann in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kaum kommen.

Wenn Sie das nächste Mal Makkaroni auf dem Teller haben, haben sie vielleicht einen anderen Blick darauf und mögen denken: “Damit ließ sich auch im Vorkriegsdeutschland ein hübsches Vermögen machen.”

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Ein Entwurf von Meisterhand: NAG C4 Tourer

Der Standard-Typ C4 der Berliner NAG, von dem in der ersten Hälfte der 1920er einige tausend Exemplare entstanden, ist auf den ersten Blick nicht gerade das, was man mit einem Meisterstück verbindet.

Gewiss, was Konstruktion und Verarbeitung angeht, war das Modell über jeden Zweifel erhaben, wenngleich technisch anspruchslos. Doch sieht man einmal vom NAG-typischen Kühler ab, der einen ovalen Aussschnitt mit einer spitz zulaufenden Silhouette verband, waren die meisten Wagen des Typs äußerlich vollkommen konventionell.

Das gilt vor allem für die besonders häufig gebaute Tourenwagenversion, die auch bei den mehr als zwei Dutzend Fotos des NAG C4 in meiner Markengalerie am häufigsten vertreten ist. Hier haben wir einen typischen Vertreter:

NAG C4 Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Aufbau mit dem nach unten schmaler werdenden Querschnitt – auch als Tulpenform bezeichnet – und den nach innen gezogenen Kanten an der Oberseite – bisweilen “Schultern” genannt – war seit etwa 1910 in deutschen Landen sehr verbreitet.

Er findet sich nach dem 1. Weltkrieg noch eine Weile und sorgte für ein antiquiertes, wenngleich durchaus gefälliges Erscheinungsbild, das die ans Beliebige grenzende Nüchternheit des sachlichen Stils mied, welcher in den 1920er Jahren aufkam.

Doch heute kann ich ein Fahrzeug des Typs NAG C4 vorstellen, das zwar ebenfalls mit einem Tourenwagenaufbau versehen war, jedoch einen ausgesprochen sportlich-eleganten Eindruck hinterließ, obwohl unter der Haube vermutlich ebenfalls nur der bewährte 30 PS-Vierzylinder mit 2,5 Liter Hubraum verborgen war:

NAG C4; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Es sind mehrere Elemente, aus denen diese Prachtstück seine Wirkung bezog: Da wäre zunächst die helle Farbgebung des Karosseriekorpus, die mir keinem der gängigen NAGs dieses Typs begegnet ist.

Besonders raffiniert ist hier, dass der Passagieraufbau ungewöhnlich niedrig wirkt – nicht nur wegen der klein gehaltenen Türen, sondern auch weil das Auge die hell abgesetzte Oberseite der seitlichen Staukästen für das Trittbrett hält, welches in Wahrheit weiter unten sitzt.

Die schnittige Linie wird durch die extrem schrägstehende Windschutzscheibe betont – bei einem Tourenwagen in dieser Form eine absolute Ausnahme.

Der NAG C4, der seinen Reiz normalerweise hauptsächlich aus seinem unverwechselbaren Kühler bezog, erscheint in dieser Ausführung geradezu extravagant. Das wundert einen auch nicht, denn der Entwurf stammte von keinem Geringeren als Ernst Neumann-Neander.

In der Schule, in der die musischen Fächer ohnehin in einer Weise behandelt wurden, wie es einer einst führenden Kulturnation unwürdig war, habe ich den Namen dieses bedeutenden Gestalters aus der Zeit des Jugendstils und der 1920er Jahre nie gehört.

Erst bei meiner Beschäftigung mit Vorkriegsautomobilen ist er mir begegnet – und das zunächst auch “nur” als Konstrukteur eigenwilliger Fahrmaschinen. Später lernte ich, dass das Multitalent Neumann-Neander neben seiner künstlerischen Karriere zeitweilig überragenden Einfluss auf die allgemeine Karosseriegestaltung in Deutschland hatte.

Vielleicht war es das und die Tatsache, dass Neumann-Neander zeitweilig sogar Mitbesitzer einer Automobilfirma war – Szabo & Wechselmann – was ihn für die Verfechter der “absoluten” Kunst unmöglich machte.

Woher aber weiß ich nun so genau, dass diesem herrlich eingekleideten NAG C4 ein Entwurf des Meisters zugrundelag? Nun, weil es von alter Hand auf der Rückseite vermerkt ist – ebenso wie die Firma, welcher der Wagen gehörte: der A. Kievernagel GmbH.

Dem Kennzeichen nach zu urteilen und mit Blick auf die Verbreitung dieses seltenen Namens wird sich der Firmensitz in Köln befunden haben. Was Gegenstand der Geschäftstätigkeit war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

Nachtrag: Leser Klaas Dierks hat in alten Adressbüchern aus Köln gestöbert und als wahrscheinlichen Besitzer des Wagens ein unter A. Kievernagel als GmbH firmierendes Säge- und Spaltwerk ausfindig gemacht.

Offenbar galt es für den Firmenbesitzer nicht als unschicklich, mit einem geradezu flamboyanten Automobil wie diesem vorzufahren. Hier sehen wir es zum Abschluss in kolorierter Ausführung:

Wie so oft sind die einschlägigen Programme zur Kolorierung historischer Schwarzweiß-Aufnahmen zuverlässig, was das Erkennen von Gesichtern, Pflanzen und Strukturen wie Zäune und Mauern sind – weshalb diese meist überzeugend wiedergegeben werden.

Doch auf historische Automobile und ihre nur selten überlieferten Farbschemata ist solche Software nicht optimiert. Im besten Fall bleibt es wie hier bei einer zurückhaltenden Kolorierung, die im Wesentlichen die Kontraste berücksichtigt.

Nicht “wissen” können die zugrundeliegenden Algorithmen natürlich auch, ob beispielsweise ein Kühlergehäuse, vermessingt, verchromt oder vernickelt war – immerhin wurde hier anhand des Reflexionsgrads erkannt, dass es nicht lackiert war.

So unvollkommen das Ergebnis im vorliegenden Fall auch erscheinen mag, unterstreicht es doch die phänomenale Wirkung dieser außerordentlichen Karosserie:

Sollte übrigens jemand etwas zu der Kühlerfigur sagen können – wohl ein sitzender Buddha – die mir an einigen Wagen der 1920er Jahre bereits als Zubehör begegnet ist, wäre ich für eine Kommentierung dankbar.

Nachtrag 2: Hier noch die Rückseite des Originalabzugs mit Beschriftung. Zu beachten ist, dass die Jahresangabe 1911 nicht stimmen kann, vermutlich war 1921 gemeint:

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Sekt statt Selters: NAG C4 als Chauffeur-Limousine

Der Typ C4 10/30 PS der altehrwürdigen NAG aus Berlin, welcher von 1920-24 in einigen tausend Exemplaren gebaut wurde, gehört zu den häufigsten “Gästen” in meinem Blog für Vorkriegswagen. Mittlerweile sind rund zwei Dutzend davon auf historischen Fotos in meiner NAG-Galerie versammelt – die nebenbei die größte öffentlich zugängliche ihrer Art überhaupt sein dürfte.

Natürlich gibt es ein Vielfaches an Fotos und Prospekten zu den einst international renommierten NAG-Wagen in privater Hand – und immer wieder erhalte ich von Sammlerkollegen interessante Originale zur Verfügung gestellt, so auch im Fall der Chauffeur-Limousine auf Basis des NAG C4, die ich heute zeigen darf.

Doch erst einmal ein “neues” Beispiel der mit Abstand am häufigsten gebauten Variante des technisch unauffälligen Vierzylindertyps, den die NAG in der ersten Hälfte der 1920er Jahre recht erfolgreich absetzte – der Tourenwagen:

NAG C4 Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Wagen könnte ein x-beliebiger Tourer eines deutschen Herstellers aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg sein, wäre da nicht der auffallende Spitzkühler mit ovalem Ausschnitt (hier nur im oberen Bereich zu sehen. Dass wir es mit einem NAG zu tun haben, bestätigt außerdem die typische Plakette mit dem Firmenlogo auf der Stange zwischen den Scheinwerfern.

Auf Fotos guter Qualität ist das NAG-Emblem außerdem auf den Nabenkappen zu erkennen – hier leider nicht. Zwar ist das Foto, das heute im Mittelpunkt steht, technisch gesehen kein Deut besser, doch ist es von ungleich größerem Reiz, zeigt es doch einen raren Aufbau als Chauffeurlimousine – gewissermaßen Sekt statt Selters gemessen am NAG C4-Standard.

Typisch für diese in die Frühzeit des Automobils zurückgehende Ausführung ist das geschlossene Passagierabteil und der davor befindliche Fahrerraum, der bestenfalls ein Notdach besaß. Hier haben wir also noch dieselbe Situation wie in der Kutschenzeit:

NAG C4 Chauffeur-Limousine; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Trotz der Unschärfe der Vorderpartie kann man hier den NAG-typischen ovalen Kühlerausschnitt erkennen und wiederum das NAG-Emblem auf der Scheinwerferstange.

Besonders eindrucksvoll fällt hier der tiefe Glanz des Lacks aus, der damals noch in einem sehr zeitintensiven, auf Handarbeit beruhenden Prozess in mehreren Schichten aufgetragen und immer wieder poliert wurde.

Das spektakuläre Ergebnis passt ausgezeichnet zur Situation auf diesem Foto, das mir Matthias Schmidt aus Dresden zur Verfügung gestellt hat. Laut umseitiger Aufschrift des Abzugs entstand die Aufnahme nämlich im September 1924 im mondänen Kurort Baden-Baden.

Dort hatte die Dame mit Blumenstrauß im Arm einige Wochen zur Erholung verbracht und ist hier beim Verlassen des Stephaniehotels (heute Villa Stéphanie) zu sehen. Bei ihr handelte es sich um Hermine Schoenaich-Carolath, die zweite Gattin des ehemaligen deutschen Kaisers Wilhelm II.

Die offenbar schwärmerisch veranlagte und zugleich zu kühler Berechnung fähige Hermine hatte Wilhelm binnen kürzester Zeit für sich eingenommen. Nur anderthalb Jahre nach dem Tod von dessen erster Frau heirateten die beiden.

In bestem deutschen Untertanengeist wird wird Hermine auf dem Abzug als “Kaiserin” bezeichnet. Das ist natürlich Unsinn, da in der Reichsverfassung von 1871 der “Kaiser” die Amtsbezeichnung für den obersten Repräsentanten des im übrigen demokratisch verfassten neuen Bundesstaats war, also kein durch Heirat oder Erbe erwerbbarer Titel.

Das galt erst recht nach der Abdankung von Wilhelm 1918. Dennoch ließ sich Hermine als kaiserliche Hoheit anreden und genoss sichtlich die Ehrerbietung, die ihr entgegengebracht wurde:

Vielleicht war man aber bei dieser Gelegenheit auch bloß froh, diesen speziellen Gast wieder los zu sein, nachdem man ihn während des Kuraufenthalts eher mit Selters statt Sekt traktiert hatte.

Jedenfalls stand mit der NAG C4 Chauffeur-Limousine ein hinreichend majestätisches Fahrzeug bereit, um sie zum Bahnhof zu transportieren, wo vermutlich bereits ein Sonderzug auf sie wartete…

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Ein letztes Mal mit Spitzkühler: NAG Typ D 10/45 PS

Vielleicht hätte ich eine andere Überschrift für meinen heutigen Blog-Eintrag wählen sollen. “Ein letztes Mal mit Spitzkühler” ist nämlich angreifbar, was den Typ D 10/45 PS angeht, den die Berliner Marke NAG ab 1924 als Nachfolger des Erfolgstyps C 10/30 PS baute.

Zur Erinnerung: Von 1920-24 baute die altehrwürdige “Nationale Automobilgesellschaft” – eine Tochtergesellschaft des AEG-Konzerns – etliche tausend Exemplare des Typs C, der den NAG-typischen ovalen Kühlerausschnitt gekonnt mit der Spitzkühlermode kombinierte:

NAG Typ C 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Exemplar, mit dem einst Reichspräsident Paul von Hindenburg anlässlich eines Besuchs in Leer anreiste, habe ich bereits besprochen (hier).

Wie bei praktisch allen NAG dieses Typs war die Kühlereinfassung in Wagenfarbe lackiert und die Vorderachse musste noch ohne Bremsen auskommen.

Beides änderte sich mit dem 1924 eingeführten Nachfolger NAG Typ D 10/45 PS. Dieser besaß nicht nur einen neukonstruierten Motor mit im Zylinderkopf hängenden Ventilen, der bei fast identischem Hubraum rund 50 % mehr Spitzenleistung bot. Er war auch serienmäßig mit Vorderradbremsen ausgestattet und sein Kühler war nun vernickelt:

NAG Typ D 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Mitte der 1920er Jahre war dies ein ziemlich eindrucksvolles Automobil. Der Radstand war gegenüber dem Vorgänger auf 3,30 m gewachsen, das Gewicht des Tourers hatte sich auf knapp 1,7 Tonnen erhöht. Rund 90 km/h Spitze erreichte der Wagen nunmehr.

Aber war dies wirklich der letzte NAG mit Spitzkühler? Ich bin da nicht sicher, denn der ab 1925 gebaute NAG Typ D6 scheint anfänglich ebenfalls mit Spitzkühler ausgeliefert worden zu sein.

Darauf bin ich gekommen, nachdem ich vor einigen Jahren ein originales Glasnegativ aus dem Bestand des Instituts für Kraftfahrwesen Dresden bei eBay erworben hatte. Es zeigt zwei Karosserieausführungen des NAG D6, hier ein Ausschnitt mit der besser erhaltenen:

NAG D6 20/60 PS; originales Glasnegativ aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Glasnegativ hat entweder jemand aus dem Bestand des Instituts für Kraftfahrwesen in Dresden “mitgehen” lassen, oder es gab mehrere Kopien davon, etwa für die Herstellung von Werbematerialien.

Fraglich ist nun, ob dieser 60 PS starke NAG D6 überhaupt jemals mit einer solchen Spitzkühlerkarosserie gebaut wurde. Selbst für ein deutsches Auto aus der Mitte der 1920er Jahre wirkt der Aufbau veraltet – man würde hier eher auf die frühen 20er tippen. Zudem ist der Kühler hier ebenfalls in Wagenfarbe gehalten.

Nun darf man nicht vergessen, dass es sich hier um eine Zeichnung handelt, die nicht notwendigerweise das tatsächliche Erscheinungsbild des Wagens wiedergab. Zudem ist mir bislang nirgends ein Foto eines NAG D6 20/60 PS begegnet.

Sicher weiß es einer der NAG-Kenner unter meinen Lesern besser, und über entsprechende Aufklärung würde ich mich freuen (bitte dazu die Kommentarfunktion nutzen, dann haben alle etwas davon).

Unterdessen habe ich das Vergnügen, nach längerer Zeit wieder einmal ein “neues” Foto eines NAG Typ D 10/45 PS zu präsentieren – solche Dokumente sind viel seltener als Aufnahmen des Typs C 10/30 PS, die in meiner NAG-Galerie zahlreich versammelt sind:

NAG Typ D 10/45 PS; Originalfoto aus Familienbesitz (via René Liebers)

Diese schöne Aufnahme aus denkbar günstigem Winkel verdanke ich René Liebers, der mir Fotos aus dem Album seiner Familie zur Bestimmung zusandte.

Das Foto entstand Ende der 1920er Jahre in Rochsburg, einem Ortsteil von Lunzenau (Sachsen). Die oberhalb gelegene eindrucksvolle Anlage von Schloss Rochsburg war und ist noch heute ein beliebtes Ausflugsziel.

Am Steuer des NAG sehen wir mit strengem Blick den erfolgreichen Taxiunternehmer Otto Dorsch mit typischer Fahrermütze, hinter ihm uns kritisch beäugend seine Gattin Paula sowie – sehr modisch gekleidet – die Tochter Asta und ihren Ehemann Erich Liebers, der seinen Hut recht verwegen trägt und der Urgroßvater von René Liebers war.

Neben dieser reizvollen Ausflugsszene, die wie so oft von den Charakteren in dem Wagen lebt, haben wir alles, was die Bestimmung des Autos zum Kinderspiel macht: vernickelter Kühler, Vorderradbremsen, niedrige Schwellerpartie mit Trittschutzblechen

Ein weiteres Erkennungsmerkmale des NAG Typ D 10/45 PS – zumindest in der Tourenwagenausführung – scheint die auffallend niedrige gehaltene und leicht schrägstehende Frontscheibe zu sein.

Auch dazu können NAG-Kenner sicher etwas sagen – leider gibt es ja im Netz oder auch in der Literatur bislang keine Bilddokumentation, die der Bedeutung dieser Traditionsmarke gerecht wird. Das wird sich hoffentlich einmal ändern – bis dahin bleibt meine NAG-Galerie die umfangreichste Online-Bilddokumentation von NAG-PKWs…

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Fund des Jahres: Unterwegs auf der Via Appia…

Am letzten Tag des Jahres 2020 nehme ich meine Leser mit auf eine Reise in den Süden, die eine Zeitspanne von rund 2.500 Jahren umfasst. Was das Ganze mit Vorkriegsautomobilen zu tun hat? Nun, das wird sich am Ende zeigen.

Beginnen wir mit einem der Hauptdarsteller – der antiken Via Appia in Italien. Der Bau der berühmtesten aller Römerstraßen begann ab Ende des 4. Jh. v. Chr.

Zunächst als Militärstraße zur Sicherung der frühen Eroberungen Roms in Italien konzipiert, wurde die Via Appia später zu einer bedeutenden Handelsroute, die bis ins 540 km entfernte Brindisi an der Adria reichte:

Verlauf der Via Appia (weiß) und der späteren Variante (grau); Quelle

Weite Teile der Via Appia existieren noch, entweder unter der modernen Strada Statale 7 (SS7) oder in konservierter Form wie auf den ersten Kilometern außerhalb der römischen Stadtmauer im Parco Regionale dell’Appia Antica (Video).

Wir verlassen Rom und folgen der Via Appia nach Südosten auf ihren ersten 130 Kilometern bis an unser Ziel – die Küstenstadt Terracina. Die letzten 45 Kilometer von Cisterna di Latina bis Terracina sind bis heute eine ununterbrochene Gerade.

In der altehrwürdigen Stadt Terracina, die schon in etruskischer Zeit vor 500 v. Chr. gegründet worden war, schauen wir uns ein wenig um. Am markantesten ist das hoch über der Stadt auf dem Monte S. Angelo gelegene Bauwerk:

Ansichtskarte des Tempio di Giove Anxur in Terracina; Original der 1950er Jahre aus Sammlung Michael Schlenger

Die von der Stadt aus sichtbaren Arkaden sind nur der Unterbau einer bedeutenderen Anlage, die verschwunden ist – des römischen Tempels des Jupiter Anxur.

Das Heiligtum wurde um 100 v. Chr. errichtet, besaß aber weit ältere Vorläufer. Dort befand sich eine Orakelstätte, die seit Urzeiten von den Menschen aufgesucht wurde.

Die religiöse Bedeutung der Anlage erklärt, weshalb die Via Appia in Terracina ursprünglich auch auf den Monte S. Angelo hinaufführte. Nach dem beschwerlichen Aufstieg wurde der Reisende mit dem Anblick des Jupitertempels belohnt, der sich einst weithin sichtbar auf dem Unterbau erhob:

Ansichtskarte mit eine Rekonstruktion des Tempio di Giove Anxur in Terracina; Original der 1950er Jahre aus Sammlung Michael Schlenger

Leider fiel die prächtige Anlage mit Marmorfassade und Skulpturenschmuck dem Wüten christlicher Fanatiker in der Spätphase des weströmischen Reichs zum Opfer.

Die Reste des Tempels sind in späterer Zeit als Baumaterial “verwertet” worden, sodass heute nur noch wenige Grundmauern des Heiligtums zu sehen sind (hier).

Das erklärt, weshalb Johann Wolfgang Goethe – obwohl Verehrer der klassischen Antike – auf der Durchreise durch Terracina 1787 den Tempelberg links liegen ließ.

Habe ich eben “links liegen” geschrieben? Ja, denn zu Goethes Zeiten führte rechts um den Tempelberg von Terracina eine Straße herum, obwohl die alte Via Appia noch über den Monte S. Angelo hinwegzog.

Schauen wir uns dazu den Monte S. Angelo von der stadtabgewandten Seite an:

Postkarte aus Terracina; Original der 1950er Jahre aus Sammlung Michael Schlenger

Oben auf dem Berg ahnt man das Plateau, auf dem in römischer Zeit der Jupitertempel stand.

Im Vordergrund sehen wir eine Küstenstraße, die den knappen Raum neben dem Steilhang nutzt und der Uferlinie in Richtung des Hafens von Terracina folgt, dessen Einfahrt links am Rand zu sehen ist.

Auch diese Straße ist Teil der Via Appia – jedoch einer erst unter Kaiser Traian um 100 n. Chr. gebauten Route, die den Anstieg über den Monte S. Angelo meidet. Die Belange des Fernhandels in jener Blütezeit des römischen Reichs hatten Vorrang vor der Erschließung des alten Jupitertempels.

Der Bau der neuen Küstenroute stieß allerdings in römischer Zeit auf ein Hindernis, wie auf diesem Ausschnitt aus einer weiteren Postkarte der 1950er Jahre zu sehen ist:

Man erkennt hier, dass ein beträchtlicher Teil des Felsvorsprungs abgetragen werden musste, um die Via Appia um das Kap herum nach Terracina führen zu können.

Ansatzweise lässt sich das Ausmaß des Felseinschnitts erahnen, der dazu erforderlich war. Wir schauen uns die Örtlichkeit gleich noch genauer an, doch zuvor präge man sich die Formation links der Straße ein, die an das Meer angrenzt und ahnen lässt, wie weit dort der Felsvorsprung vor Bau der Via Appia reichte.

Folgen wir nun der Straße bis zum Felseinschnitt anhand einer Ansichtskarte um 1900:

Ansichtskarte mit der Via Appia bei Terracina; Original um 1900 aus Sammlung Michael Schlenger

Hier wird dieselbe Örtlichkeit als “Taglio della via Traiana” bezeichnet, gemeint ist der Felseinschnitt (ital. “taglio”) der unter Traian angelegten Küstenroute der Via Appia.

Gut zu erkennen ist die senkrechte Felswand, die das Werk der römischen Straßenbauer ist und sich heute noch so darstellt. Was sich allerdings offensichtlich geändert hat, ist das Erscheinungsbild der Partie links der Straße.

Während auf der Postkarte der 1950er Jahre an dieser Stelle nur ein unförmiger Haufen zu sehen ist, haben wir hier einen der typischen Türme vor uns, wie sie die Küste in regelmäßigen Abständen säumen – nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Teilen des Mittelmeeraums. Vielerorts werden sie als Sarazenentürme bezeichnet, was sich auf arabische Piraten bezieht, die über Jahrhunderte die Küsten terrorisierten.

Zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Postkarte hatte der Turm seine einstige Funktion verloren, er gehörte zu einem privaten Anwesen und war von Anbauten umgeben. Hier sehen wir das Ganze von der anderen Seite her betrachtet:

Torre Gregoriana bei Terracina; undatiertes Foto um 1910; Originalabbildung aus “Terracina” von Giovanni Spezzaferro, 1985

Überfällig ist an dieser Stelle der Name dieses Küstenturms: “Torre Gregoriana” hieß er, benannt nach Papst Gregor XIII. In Reaktion auf die Attacken arabischer Piraten ließ er an der Küste der Region, die damals zum Kirchenstaat gehörte, ein Verteidigungssystem errichten, zu dem auch der Torre Gregoriana gehörte.

Der Bau begann 1583, wobei die anfängliche Bezeichnung Torre Nova verrät, dass dieser strategisch wichtige Punkt schon vorher befestigt war. Der Turm besaß ganz oben eine Geschützplattform, er diente also nicht nur Beobachtungs- und Signalzwecken, sondern unmittelbar der Verteidigung des östlichen Zugangs zu Terracina (Quelle).

Wie aber kam es nun dazu, dass vom Torre Gregoriana auf der oben gezeigten Postkarte der 1950er Jahre so gut wie nichts mehr zu sehen ist?

Es ist gar nicht so einfach, etwas darüber herauszufinden. Im heutigen Stadtplan von Terracina gibt es an dieser Stelle noch die Ortsbezeichnung “Torre Gregoriana”, doch auf den Bau selbst deutet scheinbar nichts mehr hin.

Das merkwürdige Verschwinden des Turms lässt sich zeitlich genauer einengen. Den ersten Hinweis darauf gibt das folgende Foto aus meiner Sammlung:

NAG C4 “Monza”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Endlich ein Vorkriegswagen, wird jetzt mancher denken! Tatsächlich war ich ähnlich entzückt, als ich dieses im Original deutlich schlechtere Foto fand. Was mich elektrisierte, war der exotische Wagentyp in Verbindung mit einem zweifellos mediterranen Umfeld.

Das ist doch ein NAG C4 der frühen 1920er Jahre, dachte ich, und das auch noch in der Sportausführung “Monza”, die 45 statt lediglich 30 PS in der Standardversion leistete.

Das Fehlen von Vorderradbremsen verrät, dass es sich noch nicht um die 1925/26 gebaute Ausführung NAG C4m mit nunmehr 50 PS handeln konnte:

Selbst wenn der NAG zum Aufnahmezeitpunkt schon einige Jahre alt war, ist dieses Foto wohl noch in den 1920er Jahren entstanden. Autos waren damals in Italien äußerst rar – von Eseln oder Maultieren gezogene Karren wie im Hintergrund waren der Alltag.

Wenn nicht alles täuscht, trug der NAG ein Kennzeichen aus Thüringen. Demnach hatte der Wagen rund 1.500 km absolviert, um hierher zu gelangen. Berücksichtigt man, dass der Wagen die Via Appia von Osten her kommend befuhr und damit auf dem Weg nach Rom war, kann man sich vorstellen, dass er zuvor noch weiter im Süden gewesen war.

Vielleicht hatte der NAG seine Insassen bis hinunter nach Neapel getragen, wohin es 1787 schon Goethe gezogen hatte, als er durch Terracina reiste. Nun ging es im NAG offenbar wieder heimwärts, und man kann sich kaum vorstellen, was dies für ein Abenteuer für die damaligen Automobilisten gewesen sein muss.

Für mich war dieser Fund spektakulär genug, um mich näher mit der Örtlichkeit zu beschäftigen, die sich als schwer zu fassen erwies. Erst in langwierigen Recherchen offenbarte sich das, was ich hier heute vor meinen Lesern ausbreite.

Auf dieser 1938 gelaufenen Postkarte ist der Turm (von der Westseite) noch zu sehen, lediglich die Straße ist nun besser befestigt:

Postkarte aus Terracina, gelaufen nach Rom im August 1938; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Ein weiteres Belegfoto der 1930er Jahre zeigt die folgende Ansichtskarte, die im November 1940 nach Bari geschickt wurde. Darauf sehen wir den Torre Gregoriana nun wieder von der Ostseite und mit ungewöhnlich vielen Details der Anbauten.

Gut zu erkennen ist das an den Turm angebaute Wohnhaus mit zwei hohen Fenstern beiderseits der Eingangstür, in der jemand zu stehen scheint:

Ansichtskarte des Torre Gregoriana bei Terracina, späte 1930er Jahre; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Aus den vorliegenden Bildern ergibt sich, dass das “Verschwinden” des Torre Gregoriana zwischen den späten 1930er und den 1950er Jahren anzusetzen ist. Den entscheidenden Hinweis lieferte ein Satz in einer italienischen Quelle:

“Durante la seconda guerra mondiale è stata ridotta a rudere.” Somit ist der Turm im Zweiten Weltkrieg zur Ruine geworden. Wann genau das war und unter welchen Umständen, das konnte ich mit einiger Mühe herausfinden.

Begeben wir uns ins Frühjahr 1944, als in Italien die alliierten Truppen gen Norden vorrückten und die deutschen Kräfte nur hinhaltenden Widerstand leisten konnten. Italien selbst hatte schon 1943 die Seiten gewechselt.

Anfang Mai 1944 stellte sich die militärische Lage in der Provinz Latium wie folgt dar:

Lagekarte der Wehrmacht von Anfang Mai 1944 (Quelle)

Weiß umkringelt ist hier Terracina. Wie man sieht, stehen die gegnerischen Verbände (rot markiert) nur noch einige Dutzend Kilometer entfernt im Osten.

Die Bezeichnungen der deutschen Einheiten (dunkelblau) lassen eine Mischung aus Infanterie, Panzergrenadieren und Gebirgsjägern erkennen – Kampfpanzer waren nur wenige vorhanden.

Im Raum Terracina selbst befanden sich im Mai 1944 deutsche Panzergrenadiere (Quelle). Ihnen blieb angesichts der Lage nicht viel Zeit zum Rückzug nach Norden.

Am 22. Mai 1944 erreichten amerikanische Truppen Fondi – nur 20 Kilometer nordöstlich von Terracina. Dort, genau am Abzweig der Via Appia (SS 7) Richtung Terracina (und Rom) entstand an jenem Tag diese Aufnahme einer US-Marschkolonne:

US-Truppen am Ortsausgang von Fondi am 22. Mai 1944 (Quelle)

Am 25. Mai wurde die Einnahme Terracinas durch US-Militär bekanntgegeben. Einen Tag zuvor, am 24. Mai morgens hatte die deutsche Nachhut Terracina geräumt (Quelle: “Parole, Simboli e Segni della Memoria”, Domenico Tebaldi, 2014, S. 79).

Wahrscheinlich erfolgte die Zerstörung des Torre Gregoriana unmittelbar vor Eintreffen der amerikanischen Spitzen oder in Zusammenhang damit. Die US-Truppen müssen mangels Alternativen über die Via Appia von Osten vorgestoßen sein.

Vermutlich befand sich im Torre Gregoriana mit seiner hervorragenden strategischen Lage eine deutsche Geschützstellung nebst Munitionsvorrat. Diese wurde entweder von den US-Truppen vernichtet oder von den Deutschen beim Rückzug gesprengt.

Jedenfalls blieb vom Torre Gregoriana nur ein großer Trümmerhaufen übrig. Hier sehen wir die Stelle auf einem Foto des US-Militärs, das auf den 26. Mai 1944 datiert ist:

Jeeps der US-Armee auf der Via Appia am Torre Gregoriana östlich von Terracina (Quelle)

Der Vergleich mit den Postkarten von 1900 bis 1940 räumt jeden Zweifel aus: Links neben der Straße sieht man im Hintergrund den Unterbau des Anwesens zu dem der Torre Gregoriana gehörte. Der Rest ist völlig zerstört.

Das ist ein wenig erbauliches Ende. Doch fand ich, dass diese neuzeitliche Episode zu meinem Foto mit dem NAG ebenso gehört wie die weit in die Vergangenheit zurückreichende Vorgeschichte. Die außergewöhnliche Aufnahme gab Anlass, sich intensiv mit dem historischen Ort zu beschäftigen, an dem sie entstand.

Wer heute dort vorbeikommt, wo sich einst der Torre Gregoriana befand, sieht diese unscheinbare Stelle mit dem hier zusammengetragenen Wissen mit anderen Augen:

Torre Gregoriana im Jahr 2017; Bildquelle: Google-Streetview

Vorhanden ist nur noch der Stumpf des Turms, der wieder zu einem Privatanwesen gehört, das mit einer neuen Mauer mit vorgeblendeten Bruchsteinen umgeben wurde.

Ein tristes Bild bietet sich einem hier dar – wo einst römische Händler, mittelalterliche Pilger, Johann-Wolfgang Goethe, ein NAG aus Thüringen und zuletzt Soldaten der Wehrmacht im Schatten des Torre Gregoriana vorbeikamen.

Erschöpft von dieser langen Zeitreise, die von menschlicher Schaffenskraft wie Zerstörungswut zeugt, schaut man zur Jahreswende der Zukunft entgegen.

Was uns im Jahr 2021 blüht, weiß niemand. Eines aber ist gewiss: es wird wieder jede Menge Ablenkung in Form von Vorkriegsautomobilen in meinem Blog geben. Für alle die, denen heute die Autos zu kurz kamen und für die der Geschichte zuviel erzählt wurde, zum Abschluss noch ein spezielles Neujahrsgeschenk:

NAG C4 “Monza”; Originalfoto aus Sammlung Jason Palmer (Australien)

Diese schöne Aufnahme hat mir Jason Palmer – ein Vorkriegsenthusiast aus dem fernen Australien – zur Verfügung gestellt. Das Foto zeigt genau einen solchen NAG C4 “Monza”, wie er einst bei Terracina am Torre Gregoriana Halt machte.

Von dieser Sportversion gab es wohl nur wenige hundert Exemplare, genau weiß man das nicht. Wer würde nicht manchen Zumutungen der Gegenwart entfliehen und damit am liebsten auf Italienreise gehen wollen?

Damit wünsche ich allen Freunden historischer Mobilität “buona fortuna” für 2021!

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Lack und Leder im Schwarzwald: NAG C4 Tourer

Wer sich von der Überschrift meines heutigen Blog-Eintrags schlüpfrige Inhalte auf dem Niveau von “Erwachsenenfilmen” der 1970er Jahre erwartet, wird enttäuscht werden.

Mit aufreizenden Bildern lasziver Schwarzwaldmädels in Lack und Leder kann ich nämlich nicht aufwarten, wohl aber mit einem reizvollen NAG-Foto einer moralisch vermutlich einwandfreien Gesellschaft in streng funktionellem Lack und Leder.

Die Hauptrolle spielt dabei ein alter Bekannter – ein verlässliches Schlachtross, das mich schon auf einigen Expeditionen in die Welt des Vorkriegsautomobils begleitet hat. Die Rede ist vom Typ C4 10/30 PS, der von 1920 bis 1924 von NAG in Berlin gebaut wurde.

Hier haben wir einen dieser Wagen in der verbreiteten Ausführung als Tourenwagen in malerischer Szenerie abgelichtet irgendwo im Schwarzwald – soviel verrät die Beschriftung des Abzugs:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Einige tausend Exemplare – genau weiß man es nicht – dieser solide konstruierten und hochwertig verarbeiteten Wagen bevölkerten einst die deutschen Straßen. Entsprechend oft begegnet man ihnen mit unterschiedlichen Aufbauten auf zeitgenössischen Fotos.

In meiner stetig wachsenden NAG-Fotogalerie – der wohl größten überhaupt, die allgemein zugänglich ist – finden sich bereits rund zwei Dutzend historische Aufnahmen dieses Typs bzw. des leistungsgesteigerten Modells D4 10/45 PS, das von 1924-27 äußerlich nur wenig verändert weitergebaut wurde.

Um die typischen Merkmale eines NAG C4 besser studieren zu können, rücken wir dem im Schwarzwald aufgenommenen Exemplar näher auf den Pelz bzw. das Blech:

Der Wagen wirkt hier ungewöhnlich groß, doch das lässt sich leicht mit der Größe der abgebildeten Personen erklären. Nimmt man an, dass der vorn am Kotflügel angelehnte Herr 1,65 Meter maß, würde das zum überlieferten Radstand von 3,10 Meter passen.

Die Insassen dürften ebenfalls nicht so großgewachsen gewesen sein, wie das heute oft der Fall ist. Entsprechend eindrucksvoll wirkt hier der Wagen, dessen Leistung es jedoch nicht mit der vor dem 1. Weltkrieg gebauten Typen mit 35 bis 75 PS aufnehmen konnte.

So musste NAG nach 1918 wie andere deutsche Hersteller kleinere Brötchen backen. Erst ab Mitte der 1920er Jahre war mit dem Typ D6 12/60 PS wieder ein deutlich stärkeres Modell im Angebot. Über den NAG D5 – wenn es ihn gegeben hat – ist mir nichts bekannt.

Der Typ C4 besaß wie die Vorkriegsmodelle einen Kühler mit ovalem Ausschnitt, dieser war jedoch gleichzeitig spitz ausgeführt, wie das seinerzeit in deutschen Landen Mode war. Je nach Bildqualität besteht Verwechslungsgefahr mit den D-Typen von Stoewer aus Stettin, deren Kühlerspitze vorne jedoch leicht schräg verlief.

Hier haben wir es eindeutig mit einem NAG zu tun, übrigens auch erkennbar an den drei unterschiedlich großen Lufteinlässen in der Partie hinter der Motorhaube – sie dienten der Belüftung des Innenraums, der durch die Abwärme von Motor, Getriebe und Auspuffanlage stark erhitzt wurde – kein Vergnügen in der warmen Jahreszeit:

Man findet diese drei Lufteinlässe auf einigen, aber nicht allen Fotos des NAG C4, und ich vermute, dass es sich um eine baujahrabhängige Änderung handelte. Vielleicht weiß jemand mehr dazu (bitte Kommentarfunktion nutzen) .

Da der Lack dieses NAG aufgrund der Körnigkeit des Abzugs und der starken Ausschnittsvergrößerung nicht sonderlich zu glänzen vermag, verlegen wir uns unterdessen auf das Thema “Leder”, das hier eine reizvolle Rolle spielt.

Wie es scheint, trägt der vor dem NAG posierende Herr nicht nur Lederschuhe und darüber lederne Gamaschen – die zusammen die Optik von Reitstiefeln ergeben, sondern auch Lederhandschuhe sowie die typische zweireihige lederne Fahrerjacke, die bereits vor dem 1. Weltkrieg aufkam.

Mit den überlappenden Brustteilen bietet das Kleidungsstück guten Schutz gegen Fahrtwind. Bei Bedarf lässt sich mit hochstellbarem Kragen und Revers die Halspartie zusätzlich isolieren. Außerdem ist das Material unempfindlich gegen Staub, Öl und Beschädigungen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass eine solche Jacke – die ähnlich noch heute zu bekommen ist – hervorragenden Schutz bei Wind und Wetter bietet. Außerdem sieht so ein glänzendes und knautschiges Stück einfach gut aus, meine ich. Warum das der Fall ist, dies zu erklären überlasse ich Psychologen und Anthropologen…

Besonders raffiniert finde ich die Kombination mit weißem Hemd und Krawatte, wie sie hier bei dem zweiten Herrn aus der Lederfraktion zu besichtigen ist:

Während er als Kopfbedeckung die legendäre “Prinz Heinrich Mütze” gewählt hat, trägt die Dame am Lenkrad eine Pelzkappe.

Sie fand die Verbindung aus Lack und Leder wohl nicht so attraktiv, während ihre Geschlechtsgenossin im Fond sich immerhin zu einer ledernen Fahrerhaube durchgerungen hat, unter der sie vernügt hervorschaut.

Über das Geschlecht der Person neben ihr dürfen Mutmaßungen angestellt werden – neuerdings finden ja mehr Varianten Verbreitung als die beiden traditionellen, die man mit und ohne Y-Chromosom aus dem Biologieunterricht kennt.

Ich schätze, es handelt sich bei den Insassen des NAG (einschließlich des Fotografen) um drei Paare, die einst an einem kühlen Tag den Schwarzwald im Automobil erkundeten.

Die Verbindung aus Lack und Leder dürfte sich dabei bewährt haben, wenn man die zufriedenen Gesichter der abgelichteten Personen als Maßstab heranzieht.

Wir aber erfreuen uns an einem weiteren Dokument des NAG Typ C4 10/30 PS, der trotz seines auf den ersten Blick nüchternen Erscheinungsbilds einst ein begehrtes Objekt der Leidenschaft war…

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Fast wie Weihnachten – NAG-Protos 16/80 PS Cabriolet

Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2018 habe ich als “Fund des Monats” einen Wagen präsentiert, der aus meiner Sicht zu den schönsten Schöpfungen seiner Zeit gehörte – zumindest am deutschen Markt.

Damals konnte ich gleich fünf Fotos präsentieren, die den 1930 vorgestellten NAG-Protos 16/80 PS in der hocheleganten Ausführung als zweitüriges Sport-Cabriolet (Typ 208) zeigen. Zur Erinnerung hier eine der Aufnahmen:

NAG-Protos 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; originales Pressefoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch die anderen Bilder dieses mächtigen Sechszylinderwagens, dessen 4-Liter-Aggregat das 2 Tonnen schwere Fahrzeug auf 110 km/h beschleunigen konnte, zeigen das Modell mit geöffnetem Dach.

Ich bin der Auffassung, dass viele Cabriolets mit geschlossenem Verdeck harmonischer erscheinen, auch wenn dies nicht der von der Kundschaft bevorzugte Zustand war und man “offen” natürlich das größere Fahrerlebnis hat.

Doch aus rein ästhetischer Perspektive wirken geschlossene Aufbauten bei Automobilen der 1930er Jahre – von reinrassigen Sportwagen einmal abgesehen – auf mich meist stimmiger.

Zur Unterfütterung meiner These habe ich heute das außerordentliche Vergnügen, einen NAG-Protos 16/80 PS in der damals gefeierten Ausführung als Sport-Cabriolet endlich einmal mit geschlossenem Verdeck zu zeigen.

Ich meine, dass der Wagen so noch umwerfender wirkt, woran freilich die gekonnte Perspektive und die charmante Dame daneben nicht ganz unschuldig sein dürften:

NAG-Protos 16/80 PS Typ 208 Sport-Cabriolet; originales Pressefoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch diese Aufnahme von 1930 entstand anlässlich einer der zahlreichen Schönheitskonkurrenzen, bei denen das serienmäßige Sport-Cabriolet auf Basis des NAG-Protos 16/80 PS ausgezeichnet wurde – und auch hier haben wir ein zeitgenössisches Pressefoto vor uns.

Ein solches Bild konnte nur ein akkreditierter Fotograf machen, während das fein gekleidete Publikum hinter einer dezenten Absperrung das Defilee mondäner Fahrzeuge und ihrer Besitzer genoss.

Auch dieses Detail der Aufnahme von 1930 verdient eine nähere Betrachtung – es macht anschaulich, wie stilbewusst man sich in der Öffentlichkeit gab:

Wer der Meinung ist, dass diese damals selbstverständliche Kleidung “einengt” oder sonstwie eine Zumutung darstellt, dem sei ein Besuch beim dreitägigen Goodwood Revival Meeting in Südengland empfohlen, wo fast alle Besucher freiwillig in solchen Outfits erscheinen.

Egal bei welchem Wetter fühlt man sich dort mit Anzug, Krawatte und Hut bzw. mit figurbetontem Kostüm oder tailliertem Kleid mit Pumps binnen kürzester Zeit perfekt gerüstet für ein Spektakel, in dem die Welt von gestern wieder auflebt und die Rennen mit Fahrzeugen der 1930er bis 1960er Jahre für viele Besucher nur Nebensache sind.

Auf obigem Bildausschnitt erkennt man übrigens auch schemenhaft das typische NAG-Protos-Emblem, das sich auf folgender Reklame wiederfindet:

NAG-Protos 16/80 PS Reklame; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Auch hier wirkt der Wagen – in diesem Fall ein seltenes viertüriges Cabriolet – mit geschlossenem Verdeck auf mich überzeugender als in der offenen Variante.

Ein Foto genau dieser Ausführung ist mir bislang noch nicht untergekommen – offenbar ließen sich die Käufer eher vom zweitürigen Sport-Cabriolet hinreißen, von dem nun schon ein halbes Dutzend Aufnahmen in meiner stetig wachsenden NAG-Galerie versammelt sind.

Ein solcher viertüriger Cabrio-Aufbau scheint damit eine noch größere Rarität gewesen zu sein und ich würde mich glücklich schätzen, wenn sich so etwas gelegentlich fände. Das wäre dann vielleicht wieder ein angemessener Fund zu Weihnachten!

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Mächtig selten einst und heute: NAG Typ 10/45 PS

Wer meinen Blog schon länger verfolgt, kennt das Lamento: Bei manchen bedeutenden deutschen Marken der Vorkriegszeit verstehe ich nicht, dass es keine Typengeschichte gibt – auch nicht online – die einfach das reichlich vorhandene Bildmaterial nutzt.

Ein Beispiel dafür ist der einstige Berliner Hersteller NAG, der vor dem 1. Weltkrieg international geschätzt wurde und noch bis Mitte der 1920er Jahre am deutschen Markt sehr präsent war.

Die mir vorliegende Literatur zu dieser Marke ist völlig veraltet und äußerst dürftig, was Abbildungen angeht. Auch im Netz gibt es m.W. keine NAG-Präsenz. Dabei gibt es zeitgenössische Fotos und Werbung ohne Ende, wie ich in den gerade einmal fünf Jahren der Existenz meines Blogs feststellen konnte.

Ohne eigens danach zu suchen, konnte ich zahlreiche Bilder etwa des NAG-Standard-Typs C4 10/30 PS zusammentragen und hier publizieren. Das Ergebnis ist, dass alle Abbildungen dieses Modells in der Neuauflage des Klassikers “Deutsche Autos 1920-45” von Werner Oswald aus meiner Sammlung stammen.

Dazu zählt beispielsweise dieses außergewöhnliche Foto:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Mir ist das unangenehm, da ich als Laie eigentlich gern den Automobilhistorikern hierzulande das Feld überlassen hätte, was Bildmaterial zu der Neuauflage des Werks angeht, die zudem inhaltlich bei mehreren Marken Korrekturen erfordert.

Aus meiner Sicht ist dies ein Indiz dafür, dass die Kommunikation zwischen den Markenexperten in Deutschland und den Autobuch-Verlagen bisweilen nicht so funktioniert, wie das der Fall sein sollte.

Genug davon. Schauen wir, was sich mit dem Vorhandenen machen lässt, heute am Beispiel des NAG-Typs D 10/45 PS, der der Nachfolger des verbreiteten Modells C4 10/30 PS war.

Vorgestellt wurde der NAG D-Typ bereits 1923 in Berlin, in Serie gebaut scheint er ab 1924 worden zu sein, er blieb aber wohl vergleichsweise selten. In der mir bekannten Literatur findet sich genau eine Prospektabbildung davon, die x-mal reproduziert wurde.

Doch natürlich sind auch Fotos dieses Typs verfügbar, wenn man sich umschaut und austauscht. Zuletzt hatte ich hier diese Aufnahme eines NAG Typ D 10/45 PS vorgestellt:

NAG Typ D 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn ich richtig liege – die Literatur verliert kein Wort darüber – unterscheidet sich der D-Typ von NAG äußerlich vom Vorgängermodell C4 unter anderem durch die verchromte / vernickelte Kühlermaske.

Ein weiteres Indiz für den NAG Typ D 10/45 PS mit seinem nunmehr mit hängenden Ventilen ausgestatteten Motor ist der serienmäßige Einsatz von Vorderradbremsen. Außerdem legte der Radstand nochmals zu – auf zuletzt mächtige 3,30 Meter.

Infolgedessen wirkt der D-Typ von NAG noch eindrucksvoller als der Typ C, auf dem er im wesentlichen basierte. Das wird auf folgendem Foto von Leser Klaas Dierks deutlich:

NAG Typ 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Da kann sich der Herr neben dem Wagen noch so strecken und sich wichtig geben – neben diesem mächtigen Automobil wirkt er wenig imposant. Erschrocken von den Dimensionen des NAG wirkt der Bursche im Wagen – ob ihn das riesige Lenkrad hat erblassen lassen?

Mit einem solchen Koloss war theoretisch ein Spitzentempo von 90 km/h erreichbar. Das klingt aus heutiger Sicht harmlos, aber ich möchte den sehen, der das mit so einem Wagen auf meist nur geschotterten Landstraßen ausfährt.

Übrigens scheint der NAG Typ D anfänglich (1924) bloß 40 PS geleistet zu haben, was nur der älteren Literatur (von Fersen: Autos in Deutschland 1920-39; Gränz/Kirchberg: Ahnen unserer Autos, 1975) zu entnehmen ist.

Könnte später eine Hubraumsteigerung erfolgt sein? Kurioserweise wird in der Literatur für den NAG Typ D durchweg eine Bohrung von 75mm und ein Hub von 136mm angegeben, was knapp 2,6 Litern Hubraum entspricht, nur bei Gränz/Kirchberg findet sich bei identischen Maßen eine abweichende Hubraumangabe von 2.640 ccm.

Spiegelt dies die Verhältnisse des ab 1925 über 45 statt 40 PS verfügenden NAG Typ D wider? Und wann wurden eigentlich die breiten Luftschlitze in der Haube durch die hohen schmalen abgelöst, die auf folgende Aufnahme zu sehen sind?

NAG Typ 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Und wieso ist die Kühlermaske hier auf einmal in Wagenfarbe lackiert statt verchromt/vernickelt? Es würde mich wundern, wenn diese Frage nicht mühelos beantwortet werden könnte, wenn man an die richtigen Leute herankommt.

Bislang ist es mir noch nicht gelungen, die womöglich ergiebigen Quellen zu NAG in Berlin anzuzapfen, die es aus meiner laienhaften Perspektive geben muss. Immerhin konnte mir Thomas Ulrich von der Automobilhistorischen Gesellschaft (AHG) – dem ich auch sonst einiges verdanke – anhand des Nummernschilds folgendes sagen:

Der NAG Typ D 10/45 PS auf dem Foto von Klaas Dierks gehörte einst einem gewissen Ernst Kirsch aus Berlin-Lichtenberg, wohl einer der beiden Herren auf der Aufnahme.

Das ist ein schönes Ergebnis, in dem das Potential einer Kooperation zwischen “alten Hasen” und engagierten Laien mit dynamischer Netzpräsenz wir mir aufscheint…

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Sagenhaft auch mit 12 PS: Porträt des NAG “Puck”

Vor dem 1. Weltkrieg zählte NAG aus Berlin zu den renommiertesten Autoherstellern im Deutschen Reich – auch international genoss die 1901 gegründete Neue Automobil Gesellschaft einen exzellenten Ruf.

Eine Ahnung von der Breite der Kompetenz bei NAG vermittelt folgende Reklame von 1910:

NAG-Reklame aus “Braunbecks Sportlexikon”, 1910; Faksimileausgabe aus Sammlung Michael Schlenger

Es gab demnach fast nichts, was die AEG-Tochter NAG im Sektor des Motorantriebs nicht beherrschte. Von kaum zu unterschätzender Bedeutung war dabei der Nutzfahrzeugbau, der damals noch in den Kinderschuhen steckte.

NAG entwickelte sich rasch zu einem der bedeutendsten Hersteller von Lastkraftwagen und Omnibussen – der markentypische Rundkühler wurde rasch zu einem allgegenwärtigen Anblick wie auf dieser Postkarte:

NAG Omnibus um 1908; Ausschnitt aus einer historischen Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Doch auch am anderen Ende der Skala – im Kleinwagenbereich – machte NAG von sich reden.

Während man weiterhin mit Giganten wie dem Typ B2 mit 55 PS aus 8-Litern Hubraum allerhöchste Ansprüche zu erfüllen wusste, brachte man 1908 mit dem Typ N2 6/12 PS ein Kompaktmodell mit gerade einmal 1,6 Litern Hubraum heraus.

Der neukonstruierte Vierzylinderwagen erhielt als erster NAG neben bzw. statt der üblichen PS-Spezifikation eine werbewirksame Modellbezeichnung – “Puck”:

NAG 6/12 PS “Puck”; zeitgenössische Reklame um 1909

Auch wenn dieses Kleinwagenmodell einige Bekanntheit und Verbreitung erlangte, ist es gar nicht so einfach, an eine zeitgenössische Originalaufnahme heranzukommen.

Das ist aber auch kein Wunder, wenn man sich der Bedeutung des Namens “Puck” vergewissert. Denn ein Puck ist in der altgermanischen Tradition ein sagenhafter Angehöriger des Elfen-Geschlechts, der normalerweise unsichtbar ist.

Bisweilen haust er – wie Fotos alter Autos – auf dem Speicher und gibt sich nur bei guter Behandlung den Menschen zu erkennen. William Shakespeare hat dem Puck im “Sommernachtstraum” ein literarisches Denkmal gesetzt.

So darf man darf davon ausgehen, dass die solvente Kundschaft von NAG – auch deren Kleinwagen waren nicht gerade billig – mit “Puck” weit mehr anzufangen wusste als neuzeitliche Eishockey-Enthusiasten…

Dass wir heute den sonst quasi unsichtbaren Puck aus dem Hause NAG zu Gesicht bekommen, verdanke ich Leser Matthias Schmidt aus Dresden. Seine Sammlung von Originaldokumenten der Vorkriegszeit enthält nämlich dieses schöne Foto:

NAG Typ N2 6/12 PS “Puck”; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Der stattliche Besitzer und sein eindrucksvoll dimensionierter Hund lassen den NAG “Puck” hier erst recht zwergenhaft klein erscheinen. Der Vergleich mit der zuvor gezeigten Reklame zeigt eine sonst seltene Übereinstimmung im Detail.

Daher bin ich sicher, dass wir es hier mit einem NAG “Puck” zu tun haben. Doch wie es bei dieser Sagengestalt nun einmal der Fall ist, entzieht sich der Puck gern dem Auge des Menschen oder lässt ihn über seine wahre Natur im Ungewissen.

Ein zweites prachtvolles Foto – diesmal von Leser Klaas Dierks – illustriert das schwer zu erfassende Wesen des Puck auf kaum zu überbietende Weise:

NAG Typ 6/12 PS “Puck” (mutmaßlich); Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Von der Kühlerpartie abgesehen hat sich der “Puck” hier völlig unsichtbar gemacht, wie es ihm seine Natur der Tradition nach erlaubt.

Doch vier wackere Mannsbilder mit vierbeiniger Unterstützung haben zumindest die Kühlerpartie des Puck dingfest gemacht – hier mit grafisch raffiniert ausgeführtem Markenschriftzug.

Wie ein Automobil fast völlig unsichtbar und dennoch auf vollkommene Weise präsent sein kann, das finde ich sagenhaft. Auch die Proportionen des Wagens im Vergleich zu den vier Herren, die hier einem Puck furchtlos zu Leibe gerückt sind, passen perfekt.

Dokumente wie die heute vorgestellten machen für mich – neben den überlebenden Fahrzeugen – den Reiz der Beschäftigung mit Vorkriegsautos aus. Dabei stellen sich bisweilen spontan merkwürdige Assoziationen ein, so auch hier.

Der “Puck” erinnerte mich nämlich an eine Verfilmung von Shakespeares “Midsummernight’s Dream” aus dem Jahr 1999, in dem besagte Gestalt eine nicht unerhebliche Rolle spielt, unter folgendem Link gibt es einen reizvollen Ausschnitt daraus:

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