Jede Generation hat ihre Stil-Heroen und versucht, diesen nachzueifern. Auch heutzutage sind das natürlich nicht die Eltern – die wirken mit kinderbunter Funktionsjacke und obligatorischem Fahrradhelm bei Tempo 15 eher peinlich.
Wie es scheint, nimmt sich die “Jugend von heute” das Erscheinungsbild einer B-Prominenz aus Möchtegern-Gangstern und IS-Kriegern bzw. dem Hungertod entronnenen und zu spät aufgestandenen Models im Hausanzug zum Vorbild…
Genug davon, blenden wir zurück in die späten 1920er Jahre:
© Wanderer Typ W10/II, Bj. 1927-29; Foto aus Sammlung Michael Schlenger
Auch dieser junge Mann hat seine modischen Vorbilder genau studiert. Der Nadelstreifenanzug mit Taschentuch und der elegante Hut sind der “feinen Gesellschaft” abgeschaut.
Gleichzeitig hat er nach britischer Art die Anzugjacke verkehrt geknöpft – will nach alter Dandy-Manier heißen: Natürlich kenne ich die Regeln, ich verstoße aber bewusst gegen diese. Auch die Krawatte ist einwandfrei geknotet – gelernt ist gelernt – doch ihr Muster ist zu verwegen für einen nüchternen Juristen oder braven Bankangestellten.
Genau dieser Stil, der Konventionen gezielt bricht, aber diese damit auch anerkennt, ist Ausweis von Geschmack. Das ist das Gegenteil des “anything goes” unserer Tage, wo jede Entgleisung als Ausdruck von “Vielfalt” gilt.
Jetzt aber zum Automobil auf dem Foto. Man meint zunächst, der nur teilweise zu sehende Wagen sei nicht zu identifizieren. Unser stilbewusster junger Mann posiert schließlich genau vor dem Kühler und verdeckt das Markenemblem.
Gehen wir aber systematisch vor und schauen uns einmal das Umfeld an:
Wer statt künstlicher Urlaubswelten lieber das gute alte Europa bereist, weiß: im Hintergrund ist deutsches Fachwerk zu sehen. Ein Spezialist in dieser Hinsicht könnte sogar die Region näher bestimmen.
Uns genügt aber die Beobachtung, dass das Foto in Deutschland entstanden ist. Die Wahrscheinlickeit spricht dann dafür, dass der Wagen auf dem Foto auch von einer deutschen Marke stammt.
Welcher Autotyp aus Deutschland weist nun die auf folgendem Ausschnitt zu sehenden Charakteristika auf?
Wir sehen genug, um Marke und Typ präzise anzusprechen. Da sind zum einen die einzigartigen Positionsleuchten auf den Schutzblechen. Dann fällt der leichte Abwärtsschwung in der Mitte der Kühlermaske auf. Das findet sich so nur bei Wagen der sächsischen Marke Wanderer, die bis 1945 Teil des Auto-Union-Verbunds war.
Den entscheidenden Hinweis auf den Typ gibt die hinter dem Scheinwerfer zu sehende Unterteilung der Luftschlitze in der Motorhaube in zwei Felder. Das ist ein Kennzeichen des Wanderer W10/II, der von 1927-29 gebaut wurde.
Der Wagen verfügte über einen 2 Liter-Vierzylindermotor mit 40 PS. Die Leistungssteigerung war durch den Erfolg des Ford Model A erzwungen worden, der mit seiner großzügigen Motorisierung auch in Europa Maßstäbe setzte.
Die Automobilindustrie in den USA gab in den 1920er Jahren in praktisch jeder Hinsicht den Ton an: Gestalterisch, technisch und preislich. Die selbstgefälligen Hersteller in Europa mussten auf das Entwicklungstempo der Amerikaner reagieren – zum Vorteil der Kunden.
Und so mag es sein, dass sich der stilbewusste junge Mann auf unserem Foto in modischer Hinsicht auch ein wenig an amerikanischen Vorbildern aus der Film- und Musikindustrie orientiert hat…