Die Kombination “Chauffeur & Fiat” mag heutzutage merkwürdig anmuten – es ist nur ein Indiz von vielen, dass einige der großen Autohersteller von einst ihre besten Zeiten hinter sich haben.
In den 1920er Jahren irritierte es das Publikum eher, dass die Premiummarke Fiat volkstümliche Wagen zu bauen begann. Immerhin bewies Fiat nach dem 1. Weltkrieg mit dem Erfolg des Typ 501, dass das kein Fehler war.
Gleichzeitig zeigte die Turiner Autoschmiede auch in der Oberklasse, was sie konnte. Der 12-Zylinder-Typ 520 ist sicher ein Extrembeispiel. Die in größeren Stückzahlen gebauten 6-Zylinder-Wagen der 1920er Jahre zeugen aber ebenfalls vom Können und Anspruch der Traditionsmarke.
Mit so einem großzügigen Fiat haben wir es auf dem folgenden Originalfoto zu tun:
© Fiat 512, späte 1920er Jahre; Foto aus Sammlung Michael Schlenger
Zum Glück ist auf der Rückseite von alter Hand vermerkt “Fiat 512”, andernfalls wäre die Recherche des Typs nicht ganz einfach gewesen.
Sicher, die klassische Form des Kühlergrills gab es so bei etlichen Fiat-Typen ab Mitte der 1920er Jahre. Doch die populären 4-Zylinder-Modelle Fiat 503 und 509 waren deutlich kleiner. Stilistische Ähnlichkeit in der Frontpartie weisen auch die 6-Zylinder-Typen von NAG-Protos und NSU der späten 1920er Jahre auf.
Das Stichwort 6-Zylinder ist es schließlich, dass die Identifikation als Fiat 512 nachvollziehbar macht. Denn Fiat bot bereits von 1919-25 einen ansprechenden 6-Zylinder an, den Typ 510.
Der Nachfolger 512 (Bauzeit: 1926-28) war identisch motorisiert (3,5 Liter, 46 PS), hatte aber die nach klassischen Prinzipien neugestaltete Frontpartie, die auch auf unserem Foto zu erkennen ist:
Von den kleineren Vierzylinder-Typen unterschied sich der Fiat 512 äußerlich vor allem durch die höhere Motorhaube, bei der die Luftschlitze nicht so weit nach oben reichen. Dass es kein anderes 6-Zylindermodell (Typen 519, 520, 521, 525) ist, darauf weist unter anderem die Formgebung der Vorderschutzbleche hin.
Schön zu sehen und selten fotografiert ist hier die steckbare Seitenscheibe für den offenen Betrieb, die eine andere Form aufweist als die Variante, die bei geschlossenem Verdeck eingesetzt wurde.
Hinter der Seitenscheibe ist der Chauffeur mit Schirmmütze zu sehen – ein weiterer Hinweis darauf, dass wir es mit einem Oberklassefahrzeug zu tun haben. Der alte Herr ganz links scheint stilistisch in der Kaiserzeit stehengeblieben zu sein, was von einer konservativen Einstellung kündet. In unseren Tagen, in denen viele Dinge in Europa ins Rutschen geraten, vielleicht kein schlechtes Vorbild.
Die Familie auf der Rückbank macht einen bürgerlichen Eindruck. Wenn nicht alles täuscht, ist auch ein kleiner Hund mit von der Partie. Gut zu erkennen ist der am Heck angebrachte Reisekoffer – der Kofferraum musste noch erfunden werden:
Wo ist nun diese schöne Aufnahme entstanden? Das Foto selbst gibt uns einen Hinweis: Im Hintergrund ist eine Dünenlandschaft zu erkennen und das Haus, vor dem der Fiat parkt, trägt den Namen “Schloss am Meer”.
Die erste Annahme, dass es sich um einen Badeort an der Ostsee handelt, bestätigt sich nicht. Zwar gibt es heute noch ein 1902 errichtetes Hotel des gleichen Namens in Kühlungsborn (Mecklenburg-Vorpommern), doch das Gebäude ist weit größer.
Doch die weitere Recherche führt einen dann zu Erfolg. Auf einer historischen Ansichtskarte von Wenningstedt auf Sylt ist rechts dassselbe Gebäude zu sehen wie auf unserem Foto:
© Ansichtskarte von Wenningstedt (Sylt) 1920/30er Jahre; Fotoquelle: Bartko-Reher OHG
Heute trägt nur noch eine gesichtslose Ferienanlage in Wenningstedt den Namen “Schloss am Meer”. Das einst am gleichen Ort befindliche herrschaftliche Gebäude aus dem späten 19. Jh. in der Dünenstraße existiert nicht mehr. Die sogenannte Moderne – ein Begriff für funktionsorientierte Gestaltlosigkeit – hat auch auf Sylt zahlreiche Opfer gefordert.
Und so erzählt ein altes Automobilfoto einmal mehr von einer untergegangenen Welt.