Charakterkopf der 1920er Jahre: Renault KZ 10 CV

Wirft man einen Blick in die Bildergalerien auf diesem Vorkriegs-Oldtimerblog oder erst recht in die Schlagwortwolke rechts unten, wird man auf eine Vielzahl von Marken wie wohl sonst nirgends im deutschen Sprachraum stoßen.

Wenn sich dort gewisse Schwerpunkte abzeichnen, liegt das daran, dass hier bevorzugt historische Originalfotos besprochen werden. Sie liefern ein ungefähres Abbild der einstigen Verteilung von PKW-Typen im deutschen Sprachraum.

Ausländische Hersteller, die weder auf deutschem Boden produziert noch dorthin in nennenswerten Stückzahlen exportiert haben, sind daher weniger stark vertreten.

Ab und zu findet sich dennoch Gelegenheit, Wagen aus benachbarten Ländern vorzustellen, die hierzulande kaum präsent waren. Anlass dazu gibt uns die folgende Ansichtskarte des Bahnhofs von Beauvais aus den 1920er Jahren:

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© Bahnhofsvorplatz in Beauvais um 1925; Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger

Der harmonische Bau im Stil französischer Chateaus sieht heute noch fast genauso aus, nur die Autos davor sind inzwischen unerheblich.

Wer mit Beauvais nichts verbindet, ist nicht allein. Auch der Verfasser wurde auf einem hessischen Gymnasium einst intensiver mit den “vorbildlichen” Verhältnissen in Nicaragua vertraut gemacht als mit dem kulturellen Erbe der eigenen Nachbarn…

Daher einiges Wissenswertes in Kürze: Das in römischer Zeit gegründete Beauvais liegt in Nordfrankreich auf dem Weg von Paris nach Calais. Von seiner Bedeutung als Bischofsstadt kündet die mächtige, wenn auch nie vollendete gotische Kathedrale.

In der Neuzeit erlangte die altehrwürdige Stadt traurige Berühmtheit, als dort im Oktober 1930 das überladene britische Luftschiff R101 verunglückte und infolge einer Wasserstoffexplosion fast alle Passagiere ums Leben kamen.

Zurück zu unserer Ansichtskarte. Dort sieht man neben einem Pferdegespann ganz rechts einige Motorkutschen, von denen sich zumindest zwei aufgrund ihrer Frontpartie als Wagen von Renault ansprechen lassen.

Hier der entsprechende Bildausschnitt:

renault_kz_bahnhof_beauvais_ausschnittBeim Fahrzeug vorne links kann man auf der Frontpartie das rautenförmige Emblem der traditionsreichen Marke ahnen, das 1926 eingeführt wurde. Direkt vor dem Bahnhofseingang steht ein weiteres Auto des gleichen Typs.

Mitte der 1920er Jahre dürfte Renault der letzte Hersteller gewesen sein, der an der eigenwilligen Platzierung des Kühlers hinter dem Motor festhielt. Diese Anordnung erklärt das Fehlen eines Kühlergrills.

Stattdessen wies die Frontpartie eine nach vorn und seitlich schräg zulaufende Haube auf, die im englischen Sprachraum als “Coal Scuttle Bonnet” bezeichnet wird. Das war zwar bereits ab 1910 aus der Mode, sicherte den Renault-Wagen aber nach dem 1. Weltkrieg ein einzigartig markantes Erscheinungsbild:

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© Renault Typ KZ1 10 CV; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir es mit einem Renault des Typs KZ 10 CV zu tun, der von 1923 bis 1933 in äußerlich unterschiedlichen Versionen gebaut wurde. Technisch scheint es während der Bauzeit keine grundlegenden Änderungen gegeben zu haben.

Der Wagen hatte einen 4-Zylindermotor mit 2,1 Liter Hubraum, dessen tatsächliche Leistung interessanterweise schwer zu ermitteln ist. Vielleicht kennt ein Leser eine Quelle im Netz, die mehr als nur die Steuer-PS nennt. Viel kann es jedenfalls nicht gewesen sein, da als Höchstgeschwindigkeit 50-80 km/h angegeben werden.

Attraktiver ist ohnehin das Erscheinungsbild des Renault 10 CV, dessen Frontpartie an zeitgenössische luftgekühlte Tatras erinnert: 

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Die Gestaltung der Frontpartie mit geometrischen Elementen verweist auf die Richtung des Art Deco. Das war der letzte auf klassischer Tradition basierende Stil vor der funktionalistischen Ideologie, die sich seit über 90 Jahren als modern ausgibt. Wir sehen an dem Renault, wie raffiniert sich Technik verkleiden lässt, wenn man keiner Zwangsvorstellung wie “form follows function” anhängt.

Über die Insassen des abgebildeten Renaults wissen wir nichts. Auch das Nummernschild mit der Ziffernfolge “320” auf weißem Grund bleibt rätselhaft. Französischer oder deutscher Konvention entspricht es jedenfalls nicht.

Wohlgenährt und zufrieden schauen uns die Passagiere an, lediglich der Chauffeur des Rechtslenkers macht einen sehnigeren Eindruck:

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Es fällt schwer zu glauben, dass der leistungsschwache Renault einst als Chauffeurswagen fungierte. Doch muss er die einstigen Besitzer stolz gemacht haben, sonst hätten wir heute keinen Abzug des Fotos aus der Mitte der 1920er Jahre.

Uns trennen bloß drei Generationen von der Welt, in der diese Aufnahme entstand; und doch wirkt sie merkwürdig fremd. Die Fahrzeuge jener Zeit verraten vielleicht mehr von den seither erfolgten Umbrüchen, als uns bewusst ist…

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