“Es gibt kein schlechtes Wetter – nur falsche Kleidung.” So lautet eine Weisheit aus deutschen Landen, deren Ursprung ich nicht kenne. Sie muss aber mindestens so alt sein wie Rudi Carells legendärer Schlager “Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“
Der Gassenhauer hat 2023 unerwartet neue Aktualität gewonnen, denn der von den Klimamodellierern prognostizierte “Hitzesommer” ist leider völlig ins Wasser gefallen, obwohl man sich medial größte Mühe gab, ihn dennoch herbeizubeten.
Nach vielversprechendem Anfang enttäuscht der Sommer in der hessischen Wetterau (und nicht nur dort) seit Wochen mit endlosem Regen und zunehmend kühlen Tagen.
Uns soll das aber nicht verdrießen, denn uns steht der Sinn nach einem Ausflug an den schönen Rhein und wir wollen doch einmal sehen, ob wir nicht doch irgendwie im offenen Automobil und einigermaßen unbeschadet dorthin gelangen.
Eingedank des heutigen Mottos steht freilich am Anfang die Wahl der angemessenen Montur – mit Kopfbedeckung und hohem Kragen kann man dem Kommenden gelassen entgegen sehen:

Beim Fahrzeug haben wir uns für einen Renault entschieden – das wäre aber auch ohne das Emblem auf der Motorhaube zu erkennen gewesen.
Als einr der ganz wenigen Hersteller hielt Renault über den 1. Weltkrieg hinaus an der Anordnung des Kühlers hinter dem Motor fest. Dieser schaute bei frühen Exemplar noch beiderseits der Haube hervor – was hier nicht mehr der Fall ist.
Stattdessen wurde über die in Fartrichtung offenen “Kiemen” beiderseits der Haube gezielt Frischluft dem im Verborgenen liegenden Kühler zugeführt. Das gesamte Konzept hatte eine eigenwillige Gestaltung zur Folge, die dem Erfolg von Renault aber keinen Abbruch tat.
Die Traditionsfirma deckte schon immer ein breites Hubraumspektrum ab, doch mit dem populären neuen 5CV-Modell von Citroen ergab sich Anfang der 1920er Jahre die Notwendigkeit, auch wieder im Segment unter 1 Liter tätig zu werden.
So führte Renault Ende 1922 den neuen Kleinwagentyp 6CV mit Vierzylindermotor ein.
Damit war die Firma jahrelang ziemlich erfolgreich, selbst im Ausland. So kam auch der oben vorgestellte Renault auf deutschen Boden. Hier haben wir dasselbe Auto in der Seitenansicht:

Der Beifahrer hat sich hier der jungen Dame zugesellt, die für das Foto noch auf eine Kopfbedeckung verzichtet hat, welche aber auf den zugigen hinteren Rängen eines Tourenwagens unverzichtbar war – speziell an einem kühlen Tag wie diesem.
Vom bereits 1919 eingeführten deutlich stärkeren Modell 10CV mit gut 2 Litern Hubraum unterschied sich der 6CV fast nur durch die geringeren Dimensionen. Speziell mit Insassen lässt sich recht gut abschätzen, mit welchem der beiden Typen man es zu tun hat.
Auch die Reifengröße unterschied sich, doch die ist hier nicht lesbar. Dennoch bin ich sicher, dass unser heutiger Ausflugswagen ein Renault des Kleinwagentyps 6CV war, hier jedoch auf verlängertem Chassis (Type NN), wie ab 1925 erhältlich.
Achten Sie einmal auf die Position des (nicht verstellbaren) Fahrersitzes in Relation zum Hinterkotflügel – da sind noch rund 20 cm Platz.
Mit diesem Gefährt machen wir uns hoffnungsfroh auf den Weg – den Wetterbericht ignorierend haben wir uns ein kühnes Ziel gesetzt: den Loreley-Felsen am Mittelrhein! Und unser Optimismus wird belohnt, denn dort lacht uns tatsächlich die Sonne!
Offenbar hat die sonst so trügerische Loreley hier mit ihrer Magie ein kleines Wetterwunder vollbracht. Doch ach, sie hat bei der Gelegenheit auch die Insassen weggezaubert:

Was ist hier geschehen?
Die ganze Situation ist zu schön, um wahr zu sein: Der Wagen steht mit einem Mal in der hellen Mittagssonne und im Hintergrund rauscht ein mächtiger Schaufelraddampfer mit Ausflüglern vorbei – Kaiserwetter nannte man das ein paar Jahre zuvor noch.
Aber der Renault ist doch genau der Gleiche, oder? Nun, ein 6CV mit Tourenwagenaufbau ist auch er, kein Zweifel. Bei näherer Betrachtung allerdings fallen einige Unterschiede auf.
Da wäre zunächst der große Koffer auf dem Trittbrett, welcher den Fahrer nötigt, auf der anderen Seite auszusteigen. Dann weicht die Anbringung der Windschutzscheibe ab und merkwürdigerweise ist das Krümmerrohr nicht zu sehen, obwohl der Fotograf den Wagen aus niedrigerer Perspektive aufgenommen hat.
Zu erklären ist das so: Dieser Renault 6CV war ein deutlich früheres Modell, bei dem der Tourer noch einen um 20 cm kürzeren Radstand aufwies. Daher sitzt der Fahrer auch entsprechend weiter hinten, wenn man den Abstand zum Hinterkotflügel zugrundelegt:

Fahrer und Beifahrer saßen etwas versetzt nebeneinander und der dritte Mann im Heck hatte so zumindest etwas Beinfreiheit.
Wer aber hat dann das Foto geschossen? Nun, auch hier geht es mit rechten Dingen zu, da die Aufnahme von einem Profi angefertigt wurde, der an der Loreley über viele Jahre genau aus dieser Perspektive auf Wunsch Reisende festgehalten hat.
So findet unsere unter trüben Vorzeichen begonnene Reise doch ein gutes Ende ausgerechnet an der von Schiffern gefüchtete Loreley, auch wenn uns unterwegs die Besatzung von Bord gegangen ist.
Wie fast immer wissen wir nichts über die Herren, die uns hier nach rund 100 Jahren entgegenblicken, doch dass Sie diesen Moment eines prächtigen Sommertags mit uns teilen, wie er sein sollte – dafür bedanken wir uns posthum bei ihnen.
Denn so können wir letztlich doch behaupten “Es gibt kein schlechtes Wetter!”
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.