Hubraum-Riesen aus Mannheim: Benz-Modelle 1912

Um das Ansehen von Mannheim steht es nicht sonderlich gut. Eine Abkunft aus der einstigen Residenzstadt des Kurfürstentums Pfalz und späteren Industriemetropole gilt heute nicht als sonderlich erstrebenswert.

Doch aus automobilhistorischer Sicht ist Mannheim ein glanzvoller Ruf sicher. Ein gutes Vorzeichen waren die Fahrmaschinen, mit denen dort Karl Freiherr von Drais im frühen 19. Jahrhundert experimentierte.

1885 war das bis heute wohl bedeutendste Datum in der Stadtgeschichte, denn damals unternahm der Benz-Patent-Motorwagen Nr. 1 seine erste Fahrt. Es dauerte aber bis 1888, bis Carl Benz’ bahnbrechende Erfindung als solche wahrgenommen wurde.

In jenem Jahr unternahm seine patente Frau Bertha mit den beiden Söhnen ihre legendäre Fahrt ins über 100 km entfernte Pforzheim.

Ein Jahr später war der Benz-Wagen auf der Weltausstellung in Paris die Sensation – und es begann der unaufhaltsame Siegeszug der Erfindung aus Mannheim. 

Um 1900 war die Automobilproduktion von Benz mit Abstand die bedeutendste im Deutschen Reich, wenngleich international die französischen Hersteller führend waren.

Carl Benz vermochte dem Innovationstempo der Konkurrenz nicht standzuhalten und schied 1903 aus seiner Firma aus – aus heutiger Sicht hatte er seine Mission erfüllt.

Keine zehn Jahre später stand die Firma Benz & Cie. blendend da. Mit der eindrucksvollen Mannheimer Modelloffensive des Jahres 1912 beschäftigt sich der heutige Blogeintrag.

Ausgangspunkt ist folgende Originalaufnahme aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg:

Benz_25-55_oder_33-75_PS_Landaulet_Galerie

Benz Landaulet, 1912-14; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht eine majestätische Erscheinung? Würde man heute noch Hut tragen, so würde man selbigen vor den privilegierten Insassen ziehen.

Der Kenner sieht auf einen Blick, dass es sich um ein Landaulet handelt. Aber nicht alle Leser dieses Blogs sind auch Veteranenspezialisten, daher eine kurze Erklärung:

Beim der Kutschentradition entstammenden Landaulet-Aufbau saßen die Passagiere in einem vom Fahrer separierten Abteil und konnten bei schönem Wetter dort (und nur dort) das Verdeck niederlegen (lassen), um Licht, Luft und Landschaft zu genießen.

Das Verschwinden dieser verbreiteten Karosserieform im Automobilbau ist ein Beispiel für den gesellschaftlichen Wandel der letzten 100 Jahre. Der Exklusivität eines Landaulets vor über 100 Jahren entspricht heute der Besitz eines eigenen Düsenjets.

Mit diesem Vergleich wären wir auch beim Thema Leistung. “Was hat der denn für einen Hubraum, wieviel PS hat der denn, was schluckt der denn?”, das sind die von Oldtimer-Besitzern bekanntlich besonders geschätzten Fragen.

Im vorliegenden Fall ist das gar nicht so leicht zu beantworten.

Wir müssen uns anhand formaler Details erst einmal an mögliche Modellvarianten herantasten. Dabei gibt uns die Frontpartie einige Hinweise:

Benz_25-55_oder_33-75_PS_landaulet_Frontpartie

Beginnen wir mit dem Naheliegenden: Die Plakette oben auf dem Kühlerkasten erweist sich unter der Vergrößerung eindeutig als “Benz”-Emblem. Auf den Nabenkappen der Räder zeichnet sich der Schriftzug ebenfalls ab.

Der schräge Windlauf zwischen Motorhaube und Frontscheibe spricht für eine Entstehung ab 1910, vorher stieß die Haube (nicht nur bei Benz) rechtwinklig auf die Schottwand.

Dass wir es nicht mit einem der kleinen Benz der Jahre 1910/11 zu tun haben, verraten folgende Details:

Der Kühlergrill ist deutlich höher als breit. Beim bereits vorgestellten Benz 8/18 bzw. 8/20 PS sind die Proportionen gedrungener – das kompakte Aggregat brauchte nicht so viel Kühlung. Zudem verfügt unser Fotomodell über Räder mit zwölf Speichen, die kleineren Typen kamen mit zehn aus.

Drei Benz-Modelle kommen für diese Landaulet-Version in Betracht. Warnung: Wer eine Aversion gegen große Hubräume hat, sollte jetzt nicht weiterlesen!

Gut, man liest offenbar weiter. Neu ins Angebot nahm Benz 1912 folgende Typen auf:

Ein 25/45 PS-Modell (später: 25/55 PS) mit über 6 Liter Hubraum, ein 29/60 PS-Modell mit über 7 Liter Hubraum und ein 33/75 PS-Modell mit exakt 8,4 Liter Hubraum – wohlgemerkt alle mit Vierzylindermotoren.

Auch an diesen technischen Relationen lässt sich ablesen, was sich in den letzten 100 Jahren im Automobilsektor geändert hat.

Dabei gefällt zumindest dem Verfasser die Möglichkeit, dank solcher Hubräume aus Schrittempo im 4. Gang bis zur Höchstgeschwindigkeit von 90-110 km/h zu beschleunigen…

Nach so vielen Zahlen und Fakten zum Abschluss ein genüsslicher Blick auf die opulente Unterbringung der Passagiere – und des Fahrers:

Benz_25-55_oder_33-75_PS_landaulet_Seitenpartie

Der Chauffeur genoss zwar nicht das Privileg eines zu öffnenden Dachs, doch wird er es geschätzt haben, dass er nicht mehr bei Regen im Freien sitzen musste, wie das einige Jahre zuvor noch üblich war.

Außerdem konnte er in der warmen Jahreszeit die Frontscheibe ausstellen, um sich vom Fahrtwind kühlen zu lassen – das gewaltige Aggregat im Motorraum wird ihm nämlich ordentlich eingeheizt haben – im Winter natürlich ein klarer Vorteil.

Wer genau hinschaut, erkennt auch, warum es bei diesen Wagen keine Seitenscheibe für den Fahrer gab. Die Betätigungshebel für Gangschaltung und Handbremse lagen noch außerhalb des Karosseriekörpers. 

In Griffweite rechts des Lenkrads sieht man außerdem den Hupenball. Wer sich schon immer gefragt hat, warum die Autos auch außerhalb Englands so lange Rechtslenkung hatten, findet hier die Erklärung: Die meisten Menschen sind nun einmal Rechtshänder…

Damit wollen wir es für heute bewenden lassen. Die Firma Benz wird uns künftig noch öfters beschäftigen – etliche spannende Originalfotos im Fundus warten auf die Veröffentlichung.

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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