Spurensuche: Beckmann-Wagen (Folge 3: Wieder 1903)

Heute geht es weiter auf der im Juli begonnenen Suche nach Spuren der einst im schlesischen Breslau beheimateten Automarke Beckmann. In der letzten Folge waren wir bereits bei den ersten selbstkonstruierten Wagen mit bis zu 30 PS Leistung angelangt.

Eigentlich müssten wir das nächste Kapitel ab 1905 aufschlagen, in dem die Beckmann-Wagen immer mehr an Format gewannen.

Doch bei der Beschäftigung mit Vorkriegswagen muss man es im 21. Jahrhundert nicht eilig haben – die Epoche liegt bereits so weit zurück, dass man sich die eine oder andere Abweichung von der Chronologie leisten kann, wenn sich der Anlass dazu ergibt.

Nur zu gern lasse ich mich von der öden geraden Linie der Geschichtschreibung ablenken, vor allem dann, wenn ein Beinahe-Zeitzeuge und Nachkomme eines einstigen Autofabrikanten mich mit reizvollem Material versorgt.

Die Rede ist von Christian Börner, Urenkel des Gründers der Beckmann-Autowerke.

Er hat mir nicht nur das Material zu den beiden bisherigen Folgen dieser Spurensuche zur Verfügung gestellt. Ihm verdanke ich auch eine bemerkenswerte Rückblende in das Jahr 1903, in deren Mittelpunkt – unter anderem – ein Beckmann-Auto steht.

Heute soll Christian Börner selbst zu Worte kommen und zwar anhand dieses Fotos:

Beckmann-Wagen von 1903; Originalfoto aus Familienbesitz (Christian Börner)

“Wer sind diese drei Kinder? Welches Fahrzeugmodell ist das? Wann und wo ist das Foto entstanden?” Das mögen Sie jetzt fragen.

Mein Name ist Christian Börner, und ich will es Ihnen erzählen.

Zunächst zu den Fahrzeuginsassen, oder eher Fahrzeug“auf“sassen: Das sind die drei Kinder des Fabrikbesitzers Paul Beckmann, meines Urgroßvaters.

Am Lenker sitzt etwas arrogant Otto (Jg. 1894), als wüsste er, dass er einst die Nachfolge seines Vaters antreten würde. Das war zwei Jahre nach dessen Tod im Jahr 1914 der Fall, als Otto volljährig und uneingeschränkt geschäftsfähig wurde. 

In der Mitte hat die 1896 geborene Erna Platz genommen, meine Großmutter. Sie schaut wenig begeistert drein, sie mochte das Autofahren ihr Leben lang nicht.

Anders verhielt es sich mit ihrer Schwester Ilse (Jg. 1898), die vis-a-vis sitzt und sich uns zuwendet. Man sieht es ihr noch nicht an, aber sie sollte später als Sportfahrerin auf Beckmann Karriere machen.

Was lässt sich zu der abgebildeten Voiturette sagen?

Nun, es handelt sich um die seitlich offene Version (Beckmann-Modell XIV), deren Produktion 1901 begann und 1903 endete. Aber ich kann es noch genauer sagen. Hier sehen wir die erste Version mit senkrechter Lenksäule und Hebel. Denn ab 1902 gab es eine schrägstehende Lenksäule mit Lenkrad.

Diese Aufnahme stammt von 1903 und zählt zu den drei Fotos, welche die Frauen meiner Familie bei ihrer Flucht aus Breslau im Januar 1945 als einziges „Erbe“ retten konnten.

Meine schon erwähnte Großmutter und ihre Tochter Ursula hatten wichtigeres Fluchtgepäck mitzuschleppen und vor dem Erfrieren zu bewahren – den ein halbes Jahr alten Enkel Christian. Ihnen ist es zu verdanken, dass Sie heute meine Zeilen lesen können.”

Soweit Christian Börner im O-Ton.

Er weiß auch augenzwinkernd zu berichten, dass die Beckmann-Wagen die ersten mit Sicherheitsgurt waren. Wenn Paul Beckmann seine Kinder auf dem Automobil umherkutschierte, sicherte er sie nämlich mit Ledergurten davor, beim Bremsen oder in scharfen Kurven aus dem Wagen zu fallen. 

Gefällt Ihnen diese persönliche Rückschau in Sachen Beckmann, die Sie wohl nirgends anders finden?

Dann schauen Sie zur Mitte des nächsten Monats wieder in meinen Blog, wenn die nächste Folge ansteht. Aber gern auch vorher – es gibt ja soviel zu erzählen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Spurensuche: Beckmann-Wagen (Folge 2: 1903-1905)

Vielleicht haben Sie die Fortsetzung der im Juli begonnenen Spurensuche nach Überbleibseln der Beckmann-Wagen aus dem schlesischen Breslau vermisst. Ich muss zugeben, dass ich den anvisierten Termin zur Monatsmitte nicht einhalten konnte.

Als Ausrede führe ich den vielzitierten Klimawandel an, der den August hierzulande zu einem Wetterdesaster gemacht und mir die Laune gründlich verdorben hat. Ein einwöchiger Italienurlaub entschädigte ein wenig, aber dieser ins Wasser gefallene Sommer hat mich doch ein wenig aus der Spur gebracht.

Doch noch bevor es an den Fund des Monats geht, will ich rasch die versprochene nächste Folge nachreichen, bei der ich mich wieder auf die Ausführungen und Dokumente von Christian Börner stützen darf, des Urenkels von Firmengründer Paul Beckmann.

Er hat mir noch einige Ergänzungen zu den bis 1902 gebauten Modellen zukommen lassen, die ich in den ersten Teil eingearbeitet habe. Nun sind dort auch die Typen XV und XVI erwähnt, welche dem Modell XVII 12-16 PS vorangingen.

An diesen Typ will ich heute anknüpfen – hier noch einmal eine Abbildung zur Erinnerung:

Beckmann Model XVII 12-16 PS; Abbildung aus Sammlung Chr. Börner (Pinneberg)

Dieser Typ, der noch mit einem Motor des französischen Lieferanten Aster ausgestattet war, erhielt 1903 ein Schwestermodell, das sich äußerlich auf den ersten Blick vor allem durch die längere und nun eckige Motorhaube unterscheidet.

Doch tatsächlich markiert dieser Typ XVIII bei aller Ähnlichkeit eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der Beckmannn-Automobile. Denn sein 30 PS leistender Motor war ein “Eigengewächs” des Hauses – ein beeindruckender Kompetenzbeweis und mit Spitze 75 km/h für damalige Verhältnisse ein recht schneller Wagen:

Beckmann Modell XVIII 30 PS; Abbildung aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Interessanterweise hielt Beckmann auch bei diesem leistungsfähigen Modell noch an der Chassiskonstruktion mit dickwandigen Stahlrohren fest – ein Gebiet, auf dem der Hersteller aufgrund seines Ursprungs im Rohrleitungs- und Fahrradbau besondere Expertise besaß.

Übrigens erhielt auch das schwächere Vorläufermodell XVI 12-16 PS später ein moderneres Erscheinungsbild ähnlich dem des 30 PS-Typs XVIII.

Hier haben wir dieses Modell auf einer Abbildung von 1904:

Beckmann 12-16 PS (Ausführung von 1904); Abbildung aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Nun ist erstmals auch ein Kühlwassereinfüllstutzen auf dem jetzt direkt vor der Haube montierten Kühler zu erkennen.

Noch besser ist selbiger auf der folgenden Aufnahme zu sehen, welche einen Beckmann des Modells XVIII von 1904 zeigt. Der Wagen wurde beim 5. Deutschen Automobiltag von Mitgliedern des Schlesischen Automobilklubs eingesetzt:

Beckmann Modell XVIII von 1904; Abbildung aus “Allgemeine Automobil-Zeitung” (Sammlung Christian Börner, Pinneberg)

Schon ein Jahr später – anno 1905 – hatte sich der nächste Entwicklungsschritt vollzogen und die Beckmann-Wagen bekamen ein modern anmutendes Kühlergehäuse, auf dem nun auch ein Firmenschild angebracht war.

Damit präsentierten sich jedenfalls die Beckmann-Automobile anlässlich der Internationalen Automobil-Ausstellung im Jahr 1905 in Berlin:

Beckmann-Stand auf der IAA 1905; Abbildung aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Zu diesem Zeitpunkt waren Beckmann-Wagen mit einer breiten Auswahl von 2- und 4-Zylindermotoren erhältlich, die das Leistungsspektrum von 10 bis 30 PS abdeckten.

Immer noch gab man der Bauweise mit Stahlrohrrahmen den Vorzug, die einen guten Kompromiss aus Leichtigkeit und Festigkeit bot. Davon scheint man erst 1906 mit dem Aufkommen noch stärkerer Wagen abgekommen zu sein.

Daran werde ich in der nächsten Folge wiederum mit Unterstützung von Christian Börner eingehen – dann schlagen wir gemeinsam ein neues Kapitel in der Geschichte dieses einst bedeutenden schlesischen Autoherstellers auf.

Unterdessen sind Leser wieder aufgerufen, etwaige ergänzende Informationen und Dokumente zur Markengeschichte von Beckmann beizusteuern, damit wir dieses Fabrikat noch besser würdigen können.

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Begegnung in Biarritz: Ein Benz 24/40 PS

Der August nähert sich seinem Ende und nimmt bereits seit Wochen den Herbst vorweg. Tagsüber keine 20 Grad, immer wieder Regen, das kennt man so nicht hier in der klimatisch sonst so begünstigten Wetterau, in der ich wohne.

Die Störche sind am Wochenende davongeflogen.

Könnte man es ihnen nicht einfach nachtun und sich vorzeitig ein hübsches Plätzchen im Süden suchen? Wie wäre es mit einem Aufenthalt in Frankreich? Am äußersten Südwestzipfel lockt beispielsweise der einst mondäne Badeort Biarritz.

Das klingt nach einem Plan und das passende Gefährt dazu wäre vorhanden. Also auf dorthin, der Wagen steht mitsamt Fahrer bereit. Rund 1400 km sind zu absolvieren, doch die Aussicht auf einen Späthochsommer am Meer ist alle Mühe wert.

Heute wäre das binnen eines Tages machbar, doch ganz so flott ging das anno dazumal noch nicht. Vielleicht nahm man ja doch die Eisenbahn und gönnte sich erst vor Ort ein angemessenes Automobil mitsamt Chauffeur:

Benz Kettenwagen, wohl Typ 24/40 PS um 1908; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das sieht nicht wirklich nach sonnigem Süden aus. Doch auf dem Abzug ist überliefert, dass dieses Foto einst in Biarritz entstand, als Fotograf ist ein Herr Lückefett genannt.

Die Zulassung des Wagens scheint eine französische zu sein, aber auf diesem Sektor kenne ich mich nicht aus, das zu beurteilen überlasse ich gern anderen.

Dafür kann ich ziemlich genau sagen, was wir für ein Fahrzeug vor uns haben, und das will bei so frühen Automobilen etwas heißen.

In diesem Fall geht es nicht bloß 100 Jahre zurück – nein, Anfang der 1920er Jahre waren elektrische Scheinwerfer Standard, während wir hier noch gasbetriebene sehen. Auch 110 Jahre genügen noch nicht ganz – denn da stieß die Motorhaube längst nicht mehr so unvermittelt auf die Windschutzscheibe:

Vor 1910 muss dieser Wagen entstanden sein, jedenfalls gilt das für deutsche Fabrikate und mit einem solchen haben wir es eindeutig zu tun.

Zwar sind das Kühleremblem und die Radnabenkappen nicht genau zu erkennen, doch die Kühlerform in Verbindung mit den ungewöhnlichen Luftschlitzen in zwei Dritteln des Oberteils der Motorhaube ist typisch für mittlere bis große Benz-Wagen von ca. 1907/08.

Sogar die Motorisierung lässt sich recht genau bestimmen. So gab es besagte Luftschlitze im Haubenoberteil nicht bei den kleinen Benz-Modellen mit 18 bzw. 28 PS Höchstleistung. Diese besaßen auch nur 10 Speichen und fünf Radbolzen statt wie hier 12 bzw. sechs.

Die 50 bzw. 60 PS leistenden Spitzenmodelle wiesen größere Radstände auf und kamen besonders eindrucksvoll daher, ich würde sie daher in diesem Fall ausschließen.

Tatsächlich entspricht “unser” Benz in Biarritz von den Proportionen präzise einem 24/40 PS-Modell mit fast identischem Aufbau in der Literatur (Benz & Cie, hrsg. von der Mercedes-Benz AG, Motorbuch-Verlag 1994, S. 91) und im Mercedes-Online-Archiv.

Als Besonderheit ist hier festzuhalten, dass es sich noch um die Variante mit Kettenantrieb handelt, die parallel zur moderneren Version mit Kardanwelle angeboten wurde. Man sieht einen Teil der Kette unterhalb des Trittbretts vor dem Hinterrad:

Nun mögen Sie sich fragen, warum der Fahrer auf dieser Aufnahme so warm gekleidet ist, wenn das Foto doch im südlichen Biarritz entstanden ist.

Ein Blick auf das örtliche Wetter sorgt für Ernüchterung: Selbst dort sind es tagsüber aktuell gerade einmal knapp über 20 Grad und nachts kühlt es spürbar ab. Da ist der Fahrer am Morgen gut beraten, sich gegen den Wind zu wappnen, dem er an der See ausgesetzt ist, während die Passagiere es sich im Fahrgastabteil gemütlich machen können.

Kommuniziert wurde übrigens bei Bedarf über das Sprechrohr, dessen Ende in etwa auf Kopfhöhe des Fahrers zu sehen ist.

Bevor Sie nun den Mann bedauern, bedenken Sie: Ein Chauffeur war ein gut bezahlter Fachmann, der neben fahrerischem und technischem Können über makellose Manieren verfügen musste. Und bei Wind und Wetter draußen arbeiten müssen Bauleute und andere fleißige Geister, ohne die nichts läuft im Lande, noch heute.

Das wäre nun schon fast alles zur “Begegnung in Biarritz”. Doch während das ernüchternd kühle Wetter auch dort zu wünschen übrig lässt, muss sich dem Thema doch noch etwas Herzerwärmendes abgewinnen lassen.

Tatsächlich gab es vor gut 40 Jahren unter dem deutschen Titel “Begegnung in Biarritz” einen faszinierenden Film, der wohl wenig bekannt ist. Ich habe ihn jedenfalls erst heute entdeckt.

Zwar ist dort die automobile Seite weniger spektakulär ausgeprägt, aber man wird durch das Spiel einer Dame entschädigt, der vermutlich jeder Mann mit Faible für klassische Schönheit auch an frühherbstlichen Tagen in Biarritz gern begegnen würde…

Vorschau zu “Begegnung in Biarritz”, 1982; Videoquelle: Youtube; hochgeladen von Vintage Trailers

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Auf Tour durchs Tibertal – ein NAG “Puck”!

Wem der Titel meiner heutigen Bildergeschichte ein wenig abenteuerlich erscheint – “Durch’s wilde Kurdistan” von Karl May lässt grüßen – liegt ganz richtig.

Denn was ich heute präsentiere, ist das Dokument eines geradezu unglaublichen Abenteuers, doch im Unterschied zu Karl May musste ich nichts dazudichten.

Die besten Geschichten schreibt ohnehin das Leben, vor allem wenn man Fortuna walten lässt. Was mir der Zufall diesmal zugespielt hat, daran will ich Sie gern teilhaben lassen.

Kürzlich erwarb ich wieder einmal einen Stapel alter Autofotos für einen überschaubaren Betrag – der eigentliche Preis für solche Schnäppchen ist der, dass man erst einmal nicht genau weiß, was sich auf den meist verblichenenen oder unscharfen Bildern verbirgt.

Bei der ersten Durchsicht blieb mein Blick kurz an diesem vergilbten Abzug hängen – naja, dachte ich, vermutlich ein schwer identifizierbares frühes Mobil irgendwo in Südeuropa:

NAG “Puck” bei Todi (Umbrien); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Eigentlich wollte ich mich erst später damit beschäftigen, doch die Silhouette der Stadt im Hintergrund interessierte mich aus irgendeinem Grund.

Also tat ich, was ich auch sonst in solchen Fällen tue – ohne dass Sie das mitbekommen: Ich stellte die Bilddatei auf “Schwarzweiß” um, erhöhte den Kontrast, entfernte einige störende Flecken und Kratzer.

Und auf einmal sah das Ganze schon vielversprechender aus:

Zwar kann man von dem Wagen noch nicht allzuviel erkennen, doch immerhin ist jetzt zu ahnen, dass er ein deutsches Kennzeichen trägt.

Noch war mir nicht bewusst, wo der Wagen aufgenommen worden war, doch war schon an dieser Stelle klar – da waren deutsche Reisende vor 1910 irgendwo im Süden unterwegs!

Da mir dieser Drang prinzipiell sympathisch ist, zumal er heute ohne die meist rein destruktiven Eroberungsgelüste unserer germanischen Vorfahren daherkommt, war ich elektrisiert. Was war das für ein Wagen und wo war er unterwegs?

Also schaute ich genauer hin und plötzlich sah ich den runden Kühlerausschnitt und (wenn ich mich nicht irre) die Kennung “IA” für Berlin – das muss ein NAG sein!

Der Wagen besitzt zwar einen Tourenwagenaufbau für vier bis fünf Personen – anfangs noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – dennoch sind seine Abmessungen sehr kompakt.

Im Programm der Berliner NAG gab es aber neben den beeindruckenden mittleren und großen Typen, die damals zur deutschen Spitzenklasse gehörten, tatsächlich auch ein solches Kleinauto – den NAG “Puck”.

Dieser 1908 eingeführte Wagen ist auf der folgenden Originalreklame zu sehen:

NAG 6/12 PS “Puck”; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Der Vorteil des Drucks liegt darin, dass er den Blick für’s Wesentliche schärft, auch wenn die zugrundeliegenden Zeichnungen selten in allen Details präzise waren.

NAG-typisch war bis zum Ende des 1. Weltkriegs der runde Kühlerausschnitt – er ist also weder baujahrs- noch modellspezifisch, erlaubt aber in der vorliegenden Form schon einmal die Ansprache der Marke.

Einprägen sollte man sich die Ausführung der Vorderkotflügel – eher dünn, nach hinten breiter werdend und nahezu rechtwinklig an das Trittbrett anschließend. Auch die weit auskragenden, nur wenig gebogenen vorderen Rahmenausleger kann man sich merken.

Dann wäre da noch die kurze Motorhaube und der im Vergleich zum Lenkrad sehr kompakte Vorderwagen, was für ein kleines Modell spricht.

Haben Sie noch alles parat? Dann schauen wir jetzt, so ein NAG “Puck” in der Realität aussah:

NAG 6/12 PS “Puck”; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Erkennen Sie die Übereinstimmungen, auch wenn allerlei Accessories und die Insassen natürlich für ein anderes Gesamtbild sorgen?

Jetzt stellen Sie sich nur noch vor, dass auf der Fahrerseite zwei Reservereifen in einer gemeinsamen Hülle mitgeführt wurden und außerdem auf dem Trittbrett der Beifahrerseite ein Gepäckkoffer angebracht war – denn einen Kofferraum gab es damals ja noch nicht.

Mit diesen Extras versehen war nämlich der NAG “Puck” auf meinem Foto:

Sind Sie einverstanden mit der Identifikation dieses Wagens als NAG “Puck”?

Ich unterstelle, dass ich hier richtig liege. Nun kann es an die noch spannendere Frage gehen, wo dieser NAG unterwegs war, als er auf Fotoplatte verewigt wurde.

Die Antwort fällt sensationell aus, wenn man bedenkt, dass der NAG “Puck” einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor besaß, der gerade einmal 12 PS Spitzenleistung abwarf.

Tatsächlich ist dieser Wagen einst über die Alpen nach Italien gefahren, was an sich schon ein Abenteuer der besonderen Art war. Doch haben es die Insassen nicht dabei bewenden lassen, die Großstädte Oberitaliens Turin, Mailand und Bologna zu besuchen.

Nein, liebe Leser, diesen Leuten stand der Sinn nach etwas anderem.

Wir kennen die genaue Route nicht, doch vermutlich sind sie über Florenz weiter südlich in die Toscana vorgestoßen, sind dann am Trasimenischen See vorbei nach Osten abgedreht in Richtung Perugia, der Hauptstadt der angrenzenden Region Umbrien.

Von dort muss es dann durch das mittlere Tibertal weiter nach Süden gegangen sein – vielleicht war Rom das Ziel. Ein Halt auf dem langen Weg dorthin ist dokumentiert, nämlich auf dem Foto, das ich heute vorgestellt habe.

Darauf fiel mir links am Rand etwas auf, das wie eine Vision der venezianischen Kirche Santa Maria della Salute im flimmernden Licht am Horizont zu schweben schien:

Als ich das sah, war ich mit einem Mal 30 Jahre jünger! Damals fuhr ich zum ersten Mal nach Umbrien. Ich war Student und hatte in den Semesterferien eine hübsche Summe verdient.

Eine Woche war ich mit Bahn und Bus in der Valle Umbra zwischen Spoleto und Assisi unterwegs; eine Woche lang gönnte ich mir einen Mietwagen (Ford Escort) für die entlegeneren Höhepunkte dieser für mich schönsten Region Italiens.

Den Namen der mir so bekannt vorkommenden Kirche hatte ich nach dieser langen Zeit natürlich nicht mehr parat – Santa Maria della Consolazione heißt sie.

Doch eines wusste ich plötzlich wieder: Das ist in Todi!

Todi (Umbrien); Panoramafoto von Giuseppe Marzulli

Kurios, dass diese Aufnahme an fast derselben Stelle entstand wie einst das Foto mit dem NAG “Puck”, nämlich an der südlich stadtauswärts führenden SS79Bis “Via Angelo Cortesi” kurz vor der scharf nach Osten drehenden Kurve.

Wie so oft in Umbrien hat sich das Stadtbild in mehr als 100 Jahren kaum verändert. Es wird mit hierzulande kaum vorstellbarem Stolz gepflegt und mit authentischen Baumaterialien und -techniken bis ins Detail erhalten.

Wie bei allen umbrischen Hügelstädten haben wir es mit Siedlungen zu tun, die seit mindestens 2.500 Jahren existieren und schon Stadtcharakter hatten, lange bevor die Römer Italien unter ihre Herrschaft brachten.

Diese noch heute erlebbare kulturelle Kontinuität, welche auch die Nutzung der Landschaft umfasst, ist phänomenal und auch in Italien in dieser Breite wohl einzigartig.

In Deutschland sagt Umbrien dennoch bis heute nur wenigen etwas, allenfalls von der Pilgerstadt Assisi hat man schon einmal gehört. Doch anstatt ebendort durch die Valle Umbra zu fahren, entschieden sich die Insassen des NAG “Puck” einst, dem westlich davon gelegenen Tibertal nach Süden zu folgen.

Dabei kamen Sie an Todi vorbei und waren offenbar gebannt von dem Stadtbild, obwohl es in Umbrien noch weit grandiosere gibt. Diese Leute müssen jedenfalls Kenner des Besonderen und mit einem Hang zum Abenteuer ausgestattet gewesen sein.

Mit 12 PS von Berlin nach Todi – allein das waren schon 1.500 Kilometer auf oft nur mäßig befestigten Straßen. So etwas machte man auch dann nicht nebenher, wenn man sehr gut situiert war, wie dies bei allen frühen Automobilisten zwangsläufig der Fall war.

So gehört heute meine Sympathie wieder einmal den Pionieren des Autowanderns im Süden. Und weil mir gerade der Sinn danach steht, werde ich es ihnen für ein gute Woche nachtun – mit mehr als 12 PS, aber derselben Leidenschaft und natürlich: in Umbrien!

Nach meiner Rückkehr geht es weiter im Blog, es gibt ja so viel zu erzählen. Sollte Ihnen unterdessen langweilig werden, unternehmen Sie doch mal einen Spaziergang durch Todi

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Experten unter sich: Ein Adler Tourer um 1907

Heute lasse ich Sie an einem Moment teilhaben, bei dem eigentlich die Kenner unter sich bleiben wollen. Als bei den meisten Vorkriegsmarken nur Halbgebildeter kenne ich aber keinen Respekt vor Autoritäten und mische mich gern frech ein.

Mir passt es nämlich gar nicht, wenn die Experten ihr Wissen am liebsten für sich behalten wollen, damit sie nicht vom gemeinen Pöbel belästigt werden. Dergleichen Attitüden legen keineswegs nur Sprösslinge alter Adelsgeschlechter, Kirchenfürsten oder sonstige Vertreter der jeweils herrschenden Priesterkaste an den Tag.

Schlimmer sind die eifrigen Aufsteiger, die sich einbilden, es noch besser zu wissen als die bis dato Mächtigen und sich umgehend die Aura der Unantatstbarkeit zulegen, sobald sie höhere Sphären erreicht zu haben glauben als der erdverbundene Fußgänger.

In der Frühzeit des Automobils waren dieser Versuchung insbesondere diejenigen ausgesetzt, welche einen der neuartigen und enorm komplexen Kraftwagen beherrschten.

Diese Experten – wichtigtuerisch Chauffeure genannt – wussten, was sie ihren vermögenden Brötchengebern wert waren und blieben nach Dienstschluss gern unter sich. Mit dem übrigen Personal wollte man wohl nichts zu tun haben.

Hier haben wir zwei Exemplare dieser benzingetriebenen Elite ins Fachgespräch vertieft:

Adler Tourenwagen um 1907; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht ein hübscher Schnappschuss, der hier einem frühen Vertreter der Paparazzi gelungen ist? Wir dürfen sicher sein, dass die eigentlichen Besitzer dieses mächtigen und kolossal teuren Tourenwagens irgendeine Form von Prominenz genossen.

Wie komme ich als bloßer Betrachter – keinesfalls Eingeweihter – dieser Szene zu einer derart kühnen Vermutung? Sagen wir, dass ein gesundes Halbwissen meist schon reicht, um in diesen Kreisen einigermaßen bestehen zu können.

Das erforderliche Mindestmaß an Bildung kann man sich mit etwas Disziplin im Selbststudium aneignen. Dazu schule man sich am besten an hochkarätigem Material – beispielsweise diesem:

Adler-Reklame von 1907; Original: Sammlung Michael Schlenger

Wen diese Reklame eher verwirrt als orientiert, dem sei zweierlei empfohlen:

Erstens das Studium der Kühler- und Haubenpartie, zweitens die genaue Betrachtung der Armlehne der vorderen Sitzbank mit dem auffallenden Haltegriff. Den übrigen Aufbau vergisst man am besten – der war weder typ- noch markenspezifisch.

Die Frontpartie entspricht derjenigen stark motorisierter Wagen der Adlerwerke aus Frankfurt am Main, wie sie zwischen 1906 und 1908 gebaut wurden. Diese Autos verfügten über kolossale Hubräume von über sieben Liter, welche eine Spitzenleistung von 40 bis 50 PS bereits bei Drehzahlen von etwas über 1.000 Umdrehungen pro Minute abwarfen.

Hier ein Adler-Landaulet dieses Kalibers, welches 1908 in Wandlitz abgelichtet wurde:

Adler Landaulet um 1907; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sicher erkennen Sie die weitgehende Übereinstimmung von Kühler- und Haubenpartie – typisch für Adler-Wagen aus der Zeit kurz vor 1910.

Der vor dem Landaulet abgelichtete Fahrer war ebenfalls ein Experte seines Fachs, doch immerhin zeigt er sich uns zugewandt – von ihm hätten wir vermutlich alles über “seinen” Adler erfahren, was wir wissen wollen.

Doch leider kann er nicht mehr zu uns sprechen – ganz wie die beiden Kollegen auf dem eingangs gezeigten Foto. Dabei hätten wir gern einiges von ihnen erfahren, und sei es nur, welcher der am Armaturenbrett aufgereihten Öler für welchen Schmierpunkt zuständig war:

Dergleichen Details werden die beiden Magier des Motorwagens vermutlich als Berufsgeheimmis für sich behalten haben wollen.

Dabei hätten wir doch bloß gewusst, ob wir mit der Vermutung richtig liegen, dass es sich bei dem großzügig dimensionierten Automobil tatsächlich um einen Adler mit 40 PS aufwärts handelte, wie er ab 1906 im Programm auftaucht.

Dazu ist freilich das Votum eines Kenners der frühen Adler-Modelle vonnöten. Wäre doch schade, wenn die heutigen Experten dieser einst so bedeutenden deutschen Marke unter sich blieben und ihr zweifellos vorhandenes Wissen für sich behielten – die mir bekannte Literatur dazu ist nämlich über 40 Jahre alt (Werner Oswald, Adler Automobile, 1981)…

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Schon mit Scheinwerfer! Ein Renault von 1902/03

Ein 100 Jahre altes Auto – das erscheint einem beinahe vertraut gemessen an dem, was ich heute präsentieren möchte. Das gilt vor allem für US-Fabrikate, die damals international die Führungsrolle innehatten und diese bis in die frühen 1930er Jahre halten konnten.

Nehmen wir als Beispiel diesen Studebaker des Modelljahrs 1923, den ich hier bereits näher vorgestellt habe. Von ein paar Details abgesehen sollte die Grundform dieses Tourers den Großteil der Zwischenkriegszeit über einigermaßen aktuell bleiben:

Studebaker Modelljahr 1923; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn jetzt jemand die Stirn runzelt und meint, dass sich bis zum 2. Weltkrieg doch noch einige Entwicklungssprünge ergeben haben, dann hat er zwar recht. Doch letztlich ist das eine Frage des Maßstabs und der Perspektive.

In den 20 Jahren vor dem Erscheinen des 1923er Studebaker hatte das Auto nämlich noch größere Evolutionsstufen absolviert, weshalb ein Wagen von 1902/03 verglichen mit den Fahrzeugen der Zwischenkriegszeit wie ein Geschöpf aus fernster Urzeit erscheint.

Die damaligen Autos waren einerseits bereits so ausgereift, dass man damit längere Reisen unternehmen konnte, andererseits war so etwas Selbstverständliches wie ein Scheinwerfer noch eine Neuerung. Das glauben Sie nicht?

Nun, nehmen wir als Ausgangspunkt der heutigen Betrachtung diese Aufnahme eines frühen Renault, den ich auf 1902/03 datieren würde (Quelle: Renault – L’Empire de Billancourt, von Borgé/Viasnoff, 1977):

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sie sehen, dass dieser adrette Viersitzer von den Rädern abgesehen wenig bis nichts mit dem 20 Jahre später entstandenen Studebaker zu tun hat.

Dabei zählte Renault damals zu den international fortschrittlichsten Herstellern überhaupt, zusammen mit anderen französischen Farbikaten wie DeDion-Bouton, Darracq oder Panhard – die im Ausland fleißig studiert und nachgebaut wurden, auch in Deutschland.

Die charakteristische Form der Motorhaube fand sich damals bei etlichen Herstellern wie Charron und Clément Bayard, aber auch bei frühen Wartburg-Wagen sowie Komnick aus dem Deutschen Reich.

Die Detailausführung ist hier allerdings typisch für frühe Renaults. Die seitlich angebrachten Kühlerspiralen wichen bald einem hinter der Haube liegenden Kühler, wie er bis in die 1920er Jahre typisch für die große französische Marke bleiben sollte.

Auf eine Kleinigkeit möchte ich noch aufmerksam machen. Dieser offene Viersitzer besitzt keine Scheinwerfer an der Frontpartie (auch keine Halterungen dafür). Wie zur Kutschenzeit beschränkte sich die Beleuchtung auf seitlich angebrachte Petroleumlaternen, die eher als Park- bzw. Positionsleuchten fungierten.

Nun wenden wir uns einem weiteren Renault zu, der sich zwar anhand der seitlichen Kühlwasser”schlangen” ebenfalls auf etwa 1902/03 datieren lässt, aber dennoch ganz anders wirkt:

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Manche Details weichen zwar ab, etwa die Ausführung der Radnaben und der Vorderkotflügel, doch das dürfte nur auf eine stärkere Motorisierung zurückzuführen sein.

Auch das Vorhandensein einer Frontscheibe und eines Dachs sind Indizien dafür, dass dieser Renault eher für längere Touren und nicht nur kurze Schönwetter-Ausflüge diente.

Sogar einen Chauffeur hatte man angestellt – der für dieses schöne Foto (aus Sammlung Jörg Pielmann) auf den Rücksitz verbannt wurde. Der gut genährte Besitzer hatte es sich nicht nehmen lassen, zu diesem Anlass selbst hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen:

Die uns nachdenklich anschauende Dame auf dem Beifahrersitz erscheint mir deutlich älter zu sein – aber vielleicht hatte unser Renault-Besitzer aus – sagen wir – geschäftlichen Gründen eine reiche Witwe geehelicht, das gab es ja durchaus.

Interessanter ist aus meiner Sicht in diesem Fall aber etwas anderes, so sehr mich die menschliche Komponente auf solchen historischen Dokumenten sonst interessiert.

Sicher haben Sie bemerkt, dass auch dieser Renault mit Positionslampen ausgestattet ist. Doch im Unterschied zum eingangs gezeigten Wagen aus derselben Zeit besitzt er außerdem vorne Halterungen für echte Scheinwerfer, von denen einer montiert ist.

Damals war es noch üblich bzw. möglich tagsüber ohne die empfindlichen Scheinwerfer zu fahren, weshalb man auf vielen Fotos früher Automobile nur die Halterungen dafür sieht.

Erleichtert wurde diese Lösung dadurch, dass frühe Scheinwerfer über eine integrierte Brennstoffversorgung verfügten und daher einfach demontiert werden konnten:

Zumindest für den großen Scheinwerfer wird man statt Petroleum das ergiebigere Acetylengas verwendet haben, das im Scheinwerfer selbst aus Calciumcarbid und Wasser erzeugt wurde.

Diese Erfindung war anno 1902/03 noch recht jung, sodass hier vielleicht eine sehr frühe Anwendung an einem Automobil dokumentiert ist.

Jedenfalls unterstützt das Vorhandensein eines Frontscheinwerfers die These, dass dieser Renault bereits für Fahrten auch bei Dämmerung oder Dunkelheit genutzt wurde. Das müssen nicht zwangsläufig längere Nachtfahrten gewesen sein, schon beim abendlichen Besuch in der Oper oder im Theater würde der Scheinwerfer sich als nützlich erweisen.

Fernfahrten, bei denen man mit einer Ankunft erst bei Dunkelheit rechnen mussten, kamen mit einem solchen Renault aber ebenfalls in Betracht – das Auto war kein unzuverlässiges Kuriosum mehr, sondern ermöglichte den Besitzern eine ganz neue Form des Reisens.

Rund 120 Jahre ist das jetzt her, dass dieser Wagen am Hoftor zu Beginn einer Ausfahrt abgelichtet wurde. Und wie so oft auch bei späteren solcher Fotos wollte einer unbedingt mit auf’s Foto – der Hofhund!

Schauen Sie oben noch einmal genau hin, dort ist er am halbgeöffneten Tor zu sehen, neugierig und am faszinierenden Treiben “seiner” Familie interessiert wir eh und je.

Es sind diese kleinen Konstanten im menschlichen Dasein, die aus einem Autofoto mehr machen als nur ein Dokument eines technischen Objekts – es ist Zeuge gelebten Lebens und so etwas rührt einen an, selbst wenn einem ein so früher Wagen fremdbleiben mag.

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Kutsche oder Kunstwerk? Benz Kettenwagen um 1905

Es ist wieder einmal an der Zeit, in die wirkliche Frühzeit des Automobils einzutauchen. Je bizarrer mir das aktuelle Zeitgeschehen vorkommt, desto wohltuender ist das.

Genügt es dazu, die Zeitmaschine auf “110 Jahre retour” einzustellen? Schauen wir einmal, was wir dann in Sachen Automobil geboten bekommen:

Benz 10/30 oder 16/40 PS Chauffeurlimousine, um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Benz wurde im Juni 1914 in Itzehoe aufgenommen und dürfte kaum früher als 1913 entstanden sein – dafür sprechen die elektrischen Parkleuchten im “Windlauf” vor der Windschutzscheibe.

Das Fahrzeug entspricht bereits ziemlich genau dem, was man sich unter einem Auto vorstellt, nicht wahr? Gewiss, die noch freistehenden Kotflügel sind eine Spezialität der Vorkriegszeit, aber kurioserweise heißen sie immer noch so.

Ansonsten ist alles dort, wo man es erwartet, sieht man einmal von der Rechtslenkung ab. Der hohe Aufbau bietet genau den Komfort beim Ein- und Aussteigen, der heute wieder geschätzt wird – die Autobesitzer werden ja nicht jünger.

Kutsche oder Kunstwerk?” – Diese Frage stellt sich hier offenbar nicht. Also kehren wir in die Gegenwart zurück und justieren unsere Zeitmaschine noch einmal neu. Diesmal stellen wir sie auf “125 Jahre retour” und schauen, was passiert:

Benz-Reklame von 1898; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Verflixt, nur 15 Jahre Unterschied und wir scheinen im Kutschenzeitalter gelandet zu sein – allerdings ohne Pferde, dafür mit Benzinmotor nach Patent von Carl Benz anno 1898.

Wie kann es in so kurzer Zeit einen solchen Entwicklungssprung gegeben haben? Auf die Gegenwart übertragen wäre das so, als habe Tesla anno 2008 gerade einmal ein elektrisches Golf-Car gebaut. Tatsächlich wurde damals bereits das Model S entworfen, welches nach 15 Jahren immer noch gebaut wird. Soviel zum Thema Fortschritt heutzutage.

Irgendetwas muss damals radikal anders gewesen sein. Zum einen arbeiteten einst tausende Erfinder und Unternehmer auf eigene Faust an der Weiterentwicklung des Benziners, zum anderen redeten ihnen keine Politiker hinein.

Wenn es damals schon den EU-Bürokratenadel gegeben hätte, würden wir immer noch mit der Pferdekutsche fahren und Autos gäbe es bestenfalls für Funktionäre. Eine erschreckende Vision, man stelle sich das Gleiche für Kühlschränke oder Telefone vor.

Unsere Altvorderen haben auch viel Mist gebaut, aber sie wussten zumindest, was Sie besser dem Markt überlassen (so ziemlich alles, außer Militär und Bildungswesen).

Also geben wir uns zuversichtlich, stellen unsere Zeitmaschine nochmals neu ein – diesmal auf das Jahr 1905 – genau in die Mitte des bisher betrachten Zeitraums, et voilá!

Benz Kettenwagen um 1905; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ist das nicht eine faszinierende Schöpfung? Die hintere Hälfte noch Kutsche, die vordere schon erkennbar Automobil, wenn auch noch wie angesetzt wirkend.

Diese Kreation irritiert und fasziniert – genau das macht ein gelungenes Kunstwerk aus. Es befördert uns aus dem Alltag heraus und lässt uns auf eine Entdeckungsreise durch die Assoziationen gehen, die sich bei seinem Anblick einstellen.

Die Heckpartie transportiert uns zurück ins 19. Jh. und noch weiter in die Vergangenheit:

Lediglich die Luftreifen, die Bremstrommel und der Kettenantrieb (zwischen Rad und Trittbrett sichtbar) deuten auf die technische Neuzeit hin.

Alles übrige, einschließlich der Blattfedern an der Hinterachse, ist über Jahrhunderte gewachsene Tradition.

Die Formen und Verzierungen des Passagierabteils sind ebenfalls Ergebnis über Generationen gepflegten kunsthandwerklichen Könnens.

Ob der vertikale Streifendekor eine Zutat des Jugendstils ist, also der zum Entstehungszeitpunkt des Wagens vorherrschenden gestalterischen Richtung, sei dahingestellt.

Jedenfalls haben wir es hier mit einem Element zu tun, das noch dem Kutschenzeitalter zuzuordnen ist. Wo aber bleibt die Kunst bei alledem?

Nun, die besteht aus meiner Sicht in der spannenden Kombination mit dem Maschinenzeitalter, das sich am Vorderwagen durchgesetzt hat:

Hier überwiegt noch das Diktat der funktionellen Gestaltung. Die gelungene ästhetische Verbindung zwischen Motorraum und Passagierraum lag zum Entstehungszeitpunkt noch in der Zukunft – etwa drei Jahre, schätzungsweise.

Wie komme ich auf eine so genaue Einordnung?

Nun, dieser prächtige Chauffeurwagen – ein “Außenlenker” hätte man einst gesagt – lässt sich anhand der Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube und der Form des Kastens über dem vorderen Kettenritzel als Benz aus der Zeit zwischen 1905 und 1908 identifizieren.

Vergleichsfotos gibt es in der Literatur beklagenswert wenige – es ist verstörend, dass es kein inhaltlich erschöpfendes und umfassend bebildertes Standardwerk zu frühen Benz-Autos gibt.

Doch in den immer noch unersetzlichen alten Schinken von Heinrich v. Fersen und Halwart Schrader zu deutschen Vorkriegsautos bis 1920 finden sich passende Prospektabbildungen von Benz-Kettenwagen jener Zeit.

Wer es genauer weiß, möge uns das über die Kommentarfunktion kundtun. Was den Typ angeht, will ich mich selbst nicht festlegen, eigentlich ist es auch egal.

Denn was nach so langer Zeit bleibt, ist der Eindruck, dass man bei den ganz frühen Automobilen kaum sagen kann, ob es sich um eine motorisierte Kutsche, ein expressives Kunstwerk oder beides handelte.

Wir kehren zur reinen Bewunderung dieser Zeugen zurück und belassen es bei der Feststellung, dass diese phänomenalen Schöpfungen menschlichen Erfindungsgeists und Schönheitssinns am Anfang einer Entwicklung standen, die eine Bewegungsfreiheit für jedermann ermöglichte, welche es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat.

Wir müssten verrückt sein, uns das wieder nehmen zu lassen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Gruß vom Adler aus Italien: Aquila

Am Wochenende bin ich von einer meiner kleinen Fluchten nach Italien zurückgekehrt – zumindest physisch.

Wieder war ich in Umbrien – der einzigen italienischen Region, die nicht ans Meer grenzt und die eine Balance aus Natur und Menschenwerk bietet, die ihresgleichen sucht.

Am Morgen der Abfahrt von meinem Aufenthaltsort Collepino bot sich mir folgender Anblick:

Blick auf Spello (Umbrien) von Osten, März 2023: Bildrechte: Michael Schlenger

Dies ist das an den Ausläufern des Monte Subiaso gelegene Städtchen Spello – wie alle umbrischen Hügelstädte über 2.000 Jahre alt, dennoch voller Leben und mit Hingabe gepflegt.

Keine Bausünde der Nachkriegszeit trübt das Bild, hier wurde und wird nur der örtlich anstehende leicht rosafarbene Kalkstein verbaut und auch bei Sanierungen nur der typische Tondachziegel verwendet, dessen Form sich seit der Römerzeit nicht verändert hat.

Niemand kommt auf solche Geschmacklosigkeiten und Primitivlösungen, wie sie im “reichen” Deutschland seit Jahrzehnten beim Bauen im historischen Bestand gang und gebe sind. Dabei lag diese Region 1945 ebenso am Boden und die Menschen waren bitterarm.

Die Front zwischen Wehrmacht und Alliierten war gnadenlos auch durch diese idyllische Welt gewandert. Weder US-Bombenterror noch verstörende Verbrechen des deutschen Militärapparats an Zivilisten blieben den Umbrern erspart.

Erst ab den 1960er Jahren begann sich die Region – wie das übrige Italien – zu erholen. Ungebrochen ist der Stolz auf eine uralte Geschichte und eine Kulturlandschaft, deren Anmutung sich seit der Antike nicht geändert hat, sieht man vom Gewerbe in der Ebene ab.

Die fruchtbaren Böden werden nicht für den Anbau sogenannter Biokraftstoffe missbraucht, die Hügel und Berge sind nicht den Profitinteressen der Windindustrie geopfert worden. Umbrien ist im wirklichen Sinn grün geblieben, nicht grünlackierten Lobbys ausgeliefert.

Diese Eindrücke sind aber nicht alles, was ich aus dem Land südlich der Berge mitgebracht habe. Vielmehr darf ich automobile Grüße vom italienischen Adler überbringen.

Vielleicht denkt jetzt einer an die gleichnamige Marke aus Frankfurt/Main, die tatsächlich sehr früh auch in Italien eine Niederlassung unterhielt:

Adler-Reklame von 1906/07; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Dies ist das erste und einzige Zeugnis früher Adler-Wagen aus Frankfurt/Main aus Italien, das mir bislang begegnet ist.

Dass Automobile von Adler dort größere Verbreitung fanden, wage ich zu bezweifeln, denn Wagen vergleichbarer Qualität brachte die italienische Industrie selbst zustande. Und sogar mit dem Namen “Adler” hatten die Frankfurter kein Alleinstellungsmerkmal.

So waren es bereits vor über 2.000 Jahren die römischen Legionen, die mit ihren Feldzeichen den Adler als erste in andere Länder gebracht hatten – zunächst gewaltsam, dann mit den Segnungen einer haushoch überlegenen Zivilisation.

Da wundert es nicht, dass der Adler schon lange vor der faschistischen Episode unter Mussolini als symbolträchtige Figur herhalten musste.

Hier schmückt er die Monatsschrift des italienischen Touring Clubs von Oktober 1916, die mir mein Wetterauer Oldtimer-Kamerad Rolf Ackermann zur Verfügung gestellt hat:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von 1916; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Wer schon immer wissen wollte, was das Vorbild des Adlers der deutschen Luftwaffe ab den 1930er Jahren war, weiß es jetzt vermutlich.

Nebenbei: Weite Teile der als ikonisch geltenden Symbolik im NS-Regime sind der Ästhetik im späteren italienischem Faschismus entlehnt, um es wertfrei auszudrücken.

“Aquila” heißt der Adler im Lateinischen und wie etliche andere antike Wörter hat er es unverändert ins Italienische geschafft.

Etwa zu dem Zeitpunkt, als Adler aus Frankfurt/Main die oben gezeigte Reklame in Italien platzierte, also 1906, wurde in Turin die “Fabbrica Italiana d’Automobili Aquila” gegründet.

Man war vielleicht etwas später dran als der Namensvetter aus Deutschland, doch dafür machte man gleich Nägel mit Köpfen.

Während viele Hersteller noch mit separat gegossenen Zylindern arbeiteten, besaßen die von Giulio Cesare Cappa konstruierten Aquila-Wagen von Anfang an einen einzigen Motorblock und das Getriebe war direkt angeflanscht.

Die Kurbelwelle lief in Kugellagern, die Einlassventile befanden sich strömungsgünstig im Zylinderkopf und als erster Serienhersteller überhaupt verbaute Aquila Leichtmetall-Kolben. Wie gesagt: 1906/07!

Neben Vierzylindern bot Aquila früh auch Sechszylindermotoren an, die bei deutschen Fabrikaten damals eine seltene Ausnahme blieben. Mit diesem Programm blieb man bis in den 1. Weltkrieg präsent.

Besonders stolz war man darauf, dass sich Aquila-Wagen auch im Ausland einiger Beliebtheit erfreuten, darunter auch den USA und sogar Australien. Das ergibt sich aus einem Bericht in der Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914.

Auch dieses Originaldokument verdanke ich Rolf Ackermann, hier das Titelblatt:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Die Auflage von 160.000 Stück ist für das Jahr 1914 bemerkenswert hoch, auch wenn sicher nicht alle Exemplare an die italienischen Clubmitglieder (“soci”) gingen.

Zum Vergleich: Im Deutschen Reich gab es Mitte 1914 insgesamt gerade einmal 95.000 PKW, Motorräder und LKW (Quelle: Otto Meibes, Die deutsche Automobilindustrie, 2. Auflage, 1928).

Insofern scheint das Automobil kurz vor dem 1. Weltkrieg in Italien mindestens eine derartige Aufmerksamkeit genossen zu haben wie in Deutschland.

Zurück zum italienischen Adler – dem Aquila aus Turin. In der erwähnten Zeitschrift von Juni 1914 findet sich eine lobende Besprechung (oder eher als solche verkappte Reklame) des kleinen Vierzylindertyps K mit 15 PS Leistung:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Hervorgehoben wird die Belastbarkeit und absolute Zuverlässigkeit der Konstruktion, die viele tausend Kilometer klaglos bei moderatem Benzinverbrauch absolviert, wie Langstrecken-Prüfungen in Frankreich erwiesen haben.

Am Ende wird neben dem 15 PS-Typ ein weiteres Vierzylindermodell mit 30 PS Spitzenleistung sowie ein großer Sechszylinder erwähnt, der 50 PS leistet, außerdem ist die Rede von Einbaumotoren mit bis zu 200 PS.

Hier haben wir noch einmal den kompakten Aquila K-Typ von 1914 in der Ausführung als offener Zweisitzer mit sportlich anmutenden Drahtspeichenrädern:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Nur ein Jahr später, im August 1915, werden in der Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano erneut die Meriten des Aquila Tipo K hervorgehoben.

Dabei wird auf die laufende Verbesserung im Detail hingewiesen, die sich nicht notgedrungen auch in äußerlichen Merkmalen niederschlagen muss.

Immerhin wird nun neben dem bereits bekannten Sport-Zweisitzer auch eine fünfsitzige Tourenwagenausführung gezeigt, außerdem eine LKW-Version:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von August 1915; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Inzwischen ist der 1. Weltkrieg in vollem Gang und seit Mai 1915 befindet sich Italien im Krieg gegen Österreich-Ungarn, ohne bis Kriegsende 1918 wirklich relevante Gebietsgewinne erzielen zu können. Die gab es dafür anschließend anstrengungslos in Form von Südtirol.

Unterdessen hatte die Fabbrica Italiana d’Automobili Aquila bereits 1917 die Segel gestrichen. Der einstige Chefkonstrukteur Giulio Cesare Cappa sollte später bei Fiat und anderen italienischen Herstellern wie Ansaldo und OM noch zu großer Form auflaufen.

Das aber ist eine andere Geschichte, die nichts mehr mit dem Adler aus Turin zu tun hat…

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Doch auch mit Dach: Wartburg anno 1904

Um gleich Protesten von Lokalpatrioten vorzubeugen: Natürlich verfügte die berühmte, bald 1000-jährige Wartburg in Thüringen anno 1904 über ein Dach.

Daran kann es keinen Zweifel geben, schließlich waren die Bauarbeiten zur Wiederherstellung der Ruine nach sechsjähriger Bauzeit schon 1859 abgeschlossen. Seither bietet sich die Anlage so dar, wie sie der Besucher des 21. Jh. zu sehen bekommt.

Die These “Wartburg ohne Dach” ist mir in einem anderen Zusammenhang untergekommen, der nur indirekt mit der Festungsanlage zu tun hat, dieser aber keineswegs fernliegt.

Kenner der frühen deutschen Automobilgeschichte wissen jetzt natürlich, was kommt. Denn unweit der Wartburg wurden von der Fahrzeugfabrik Eisenach ab 1899 ein Automobil gebaut, das als “Wartburg-Wagen” verkauft wurde.

Dabei handelte es sich um ein noch sehr einfaches Gefährt nach Lizenz des französischen Herstellers Decauville, dessen Konstruktion damals in Frankreich bereits veraltet war. So war hier der Motor noch im Heck verbaut und gelenkt wurde über einen Hebel:

Wartburg-Wagen von 1899/1900; Postkarte des Verkehrsmuseums Dresden; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Viele deutsche Hersteller wählten damals diesen Weg des Lizenznachbaus französischer Fabrikate wie Darracq, De Dion, Decauville oder Panhard, um überhaupt erst einmal in die Autoherstellung einsteigen zu können. Eigenentwicklungen in Deutschland waren um 1900 noch die Ausnahme und führten meist in Sackgassen.

Nachdem man in Eisenach mit diesen Vehikeln, die luft- bzw- wassergekühlte Zweizylindermotoren mit 3 bzw. 5 PS Leistung besaßen, erste Erfahrungen gesammelt hatte, folgten 1902 erstmals Modelle mit Frontmotor und Motorhaube. Diese Bauweise wurde damals von Panhard in Frankreich bereits seit über 10 Jahren praktiziert…

Immerhin gaben die Fahrzeugwerke Eisenach jetzt ordentlich Gas und bauten nun auch Vierzylindermodelle mit rund 15 bis 30 PS. Hier ein Exemplar von 1905, das bereits unter dem neuen Markennamen “Dixi” firmierte:

Dixi Typ S12 oder S13 (1904-07); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses Auto sieht mit einem Mal richtig erwachsen aus – das Einzige, was noch wie ein Fremdkörper wirkt, ist die Dachkonstruktion.

Wie es scheint, ist diese lediglich mit sechs vertikalen Rohren an der eigentlichen Karosserie befestigt. Gut möglich, dass sie sich einfach demontieren ließ bzw. erst nachträglich angebracht wurde.

Jedenfalls wird hier deutlich, dass ein festes Dach auf relativ simple Weise ergänzt werden konnte, wenn man das wollte. Damit sind nun endlich beim eigentlichen Thema.

Denn heute darf ich einen weiteren Wartburg aus der frühen Automobilproduktion der Fahrzeugwerke Eisenach präsentieren, den es so eigentlich gar nicht geben dürfte, wie er sich hier darbietet:

Wartburg 5,5 PS (1902-03); Originalfoto: Sammlung Andreas K. Vetter (Detmold)

Diese stimmungsvolle und gut erhaltene Aufnahme stammt aus dem Familienalbum von Andreas K. Vetter aus Detmold. Nach seinen Angaben entstand das Foto 1904 in Langensalza, wo der Wagen einem Veterinär als Alltagsfahrzeug diente.

Ich muss gestehen, dass ich zunächst eine Weile ergebnislos herumgerätselt habe, was für ein Fahrzeug hier abgebildet ist.

Zwischenzeitlich befasste ich mich mit einem anderen Rätselfoto, das eventuell einen Dixi zeigen sollte. Beim Durchblättern von Halwart Schraders immer noch unübertroffenem (wenn auch nicht perfekten) Standardwerk zu BMW-Automobilen von 1978, das auch Dixi bzw. die Vorgängermarke Wartburg abdeckt, stieß ich dann auf die zuvor gesuchte Lösung.

Diese Technik hat mich übrigens schon einige Male zum Ziel gebracht: Wenn eine intensive erste Recherche ohne Erfolg bleibt, ist es Zeitverschwendung, angestrengt weiterzubohren oder sich den Kopf zu zerbrechen.

Befasst man sich dann mit etwas anderem, bleibt das ungelöste Problem nämlich im Hinterkopf auf Wiedervorlage und oft genug läutet es dann unvermittelt, wenn sich in einem anderen Kontext die gesuchte Lösung offenbart.

So hielt ich auf S. 104 des Schraderschen Werks inne, denn dort (und m.W. nur dort) ist das gesuchte Automobil mit der eigenwillig gestalteten Motorhaube abgebildet – ein Wartburg 5,5 PS. Das Modell war zwischen dem ersten Wartburg und den ersten Dixis angesiedelt.

Zwar verfügte der Motor nach wie vor nur über 2 Zylinder, er befand sich nun aber vorn und war auf 1,1 Liter Hubraum gewachsen. Der Aufbau hatte an Substanz gewonnen, obwohl es sich nach wie vor um einen Zweisitzer handelte. Immerhin wurde das Auto jetzt mit einem Lenkrad gesteuert.

Nach Angabe von Halwart Schrader verfügte der Wartburg 5,5 PS über einen Röhrenkühler, der um die Motorhaube herumgelegt war. Damit meinte er vermutlich die pfeifenartigen Elemente auf der Haube.

Ganz sicher bin ich mir nicht, welche Funktion diese tatsächlich hatten. Waren es in Wirklichkeit nach außen gewölbte Luftschlitze oder röhrenartige Ausbuchtungen, die einen zusätzliche Oberflächenkühlung bewirken sollten – oder waren sie rein dekorativ?

Ich meine nämlich, hinter der Motorhaube die eigentlichen Kühlschlangen zu erkennen:

Was sagen die technisch versierteren Leser dazu? Kennt vielleicht jemand noch eine weitere Quelle, die sich mit diesem speziellen Wartburg 5,5 PS befasst und die mehr Informationen liefert?

In einer Hinsicht kann ich selbst eine neu hinzugewonnene Erkenntnis konstatieren. So heißt es bei Schrader, dass es zu diesem Wagen kein Verdeck gab. Strenggenommen hat er damit auch recht. Doch im nächsten Satz verweist er darauf, dass man einen Gummimantel tragen müsse, wenn man bei Regen fahren wollte.

Genau das musste aber nicht sein – denn den Wartburg 5,5 PS gab es ganz offensichtlich doch auch mit Dach! Und dafür dürften die damaligen Insassen dankbar gewesen sein…

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Viel heiße Luft unter der Haube: Piccolo von 1907/08

Heiße Luft produzieren – das können nicht nur aufgeblasene Zeitgenossen, denen es zwar aber an Substanz in der Sache, nicht aber am Selbstbewusstsein mangelt.

Im Hessischen spricht man dann gern von Dummschwätzern. Um die geht es aber heute nicht. Heißluftproduzenten gab es es nämlich auch zuhauf bei Vorkriegsautos – und die sind bei manchen Macken meist sympathischer.

Im deutschen Sprachraum denkt man in dem Zusammenhang vor allem an zwei Marken – MAF aus Markranstädt und Piccolo aus Apolda. Nicht zufällig gibt es eine enge Verbindung zwischen den beiden.

So führten die MAF-Wagen die luftgekühlte Piccolo-Konstruktion fort, die bei Ruppe & Sohn im Jahr 1904 entstanden war und dort bis 1910 im Programm blieb. Einer der drei Ruppe-Söhne namens Hugo gründete 1907 MAF – siehe meinen kürzlichen Blog-Eintrag dazu.

Zurück zu Piccolo: Die ersten unter diesem Namen verkauften Modelle besaßen einen freiliegenden Zweizylinder-V-Motor und hatten optisch nur wenig mit einem Auto gemein:

Piccolo 5 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

In dieser Erscheinungsform blieb der Piccolo bis 1907 im Programm und erfreute sich einiger Beliebtheit – übrigens auch im Ausland (speziell in skandinavischen Ländern).

Doch schon bald war weder die geringe Leistung noch das maschinenhafte Aussehen der Frontpartie der Kundschaft vermittelbar.

So war der Piccolo bei weitgehend gleicher Grundkonstruktion ab 1907 mit nunmehr 7 PS Leistung verfügbar – und vor allem mit einer Motorhaube!

Sogar an eine Kühlerattrappe hatte man gedacht, dabei oblag es zwei Ventilatoren, die viele heiße Luft unter der Haube nach außen zu schaufeln. Unterstützt werden sollte das durch eine nach oben zu öffnende Klappe, welche hier sehr gut zu erkennen ist:

Piccolo 7 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wenn ich es richtig sehe, sind die breiten – kiemenartigen” Haubenschlitze ein Merkmal früher Piccolos dieses Typs – später wichen sie schmaleren und zahlreicheren.

Jedenfalls fand auch diese überarbeitete Ausführung des Piccolo eine Weile guten Absatz – tatsächlich gab es damals kaum Autos, die preisgünstiger waren und dabei einen gewissen Mindestkomfort in Form von Windschutzscheibe und Verdeck boten.

Man darf nicht vergessen, dass es kurz vorher noch Einsteiger-Automobile ohne jeden Wetterschutz gegeben hatte – das bekannteste war vielleicht das Oldsmobile “Runabout”, das im Original und in Lizenz (“Ultramobile”) auch in Deutschland verkauft wurde:

Oldsmobile “Runabout”; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Demgegenüber stellte der Piccolo bereits einen achtbaren Fortschritt dar – jedenfalls im Segment einfacher Zweisitzer, das vor allem von Ärzten bevorzugt wurde.

Gleichwohl musste man auch bei Ruppe & Sohn mit den steigenden Anforderungen des Markts Schritt halten – sowohl in punkto Motorleistung als auch das Platzangebot betreffend.

So nahm man parallel zur Version mit 2-Zylindermotor ab 1907 einen Vierzylinder in das Programm auf. Dieser war ebenfalls luftgekühlt, leistete jetzt aber rund 12 PS.

Das mag einem heute immer noch sehr wenig anmuten, galt aber damals als noch ausreichend auch für größere Aufbauten. So boten die renommierten “Adler”-Werke vollwertige Tourenwagen mit einer Motorisierung von lediglich 8-9 PS an:

Adler 4/8 oder 5/9 PS um 1908; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Daran gemessen war der Piccolo mit dem neu entwickelten Vierzylindermotor zumindest rein leistungsmäßig betrachtet das bessere Angebot in der Einsteigerklasse.

Auch äußerlich konnte sich der Piccolo nun erst recht sehen lassen – mit dem primitiv anmutenden Erstling von 1904 hatte dieser Wagen fast nichts mehr gemeinsam. Eine bemerkenswerte Entwicklung binnen nur drei Jahren.

Dennoch scheint sich der Erfolg in Grenzen gehalten zu haben, vielleicht war einfach zuviel heiße Luft unter der Haube. welche dem Motor nicht zuträglich war.

Denn während sich Fotos der Zweizylinder-Piccolos zuhauf finden, muss man schon viel Glück haben, um irgendwann auf eine Originalaufnahme (nicht nur Prospektabbildung) eines der Vierzylindermodelle zu stoßen.

Doch eines Tages schickte mir Leser und Sammlerkollege Matthias Schmidt dieses Foto zu, das einen ihm bis dato unbekannten Wagen zeigt:

Piccolo 12 PS von 1907/08; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

“Mein erstes Auto” – so war unter dem Bild vermerkt, das ich oben ausschnitthaft zeige.

Mehr Informationen waren zwar nicht mitüberliefert. Doch brachte mich das Fehlen eines Einfüllstutzens auf dem “Kühler” und die Ausführung der Luft”kiemen” darauf, dass dies ein großes Schwestermodell des zweizylindrigen Piccolo sein musste.

Dummerweise konnte ich zunächst keine Vergleichsaufnahme finden, die genau einen solchen Piccolo mit acht breiten Luftschlitzen zeigt, lediglich Prospektabbildungen ähnlicher Fahrzeuge in der Standardliteratur.

Doch dann nahm letztes Jahr Wolfang Spitzbarth Kontakt mit mir auf und wies mich darauf hin, dass ich meine Kenntnisse in Sachen Piccolo (und später Apollo) auf seiner Website zu den Kreationen von Karl Slevogt aufbessern kann.

Slevogt als einer der wichtigsten deutschen Automobilkonstrukteure des frühen 20. Jh. hatte zwar keinen direkten Bezug zu den Piccolo-Wagen, sorgte aber im Rahmen seiner Anstellung bei Ruppe & Sohn in Apolda dafür, dass diese durch moderne und leistungsfähige Konstruktionen abgelöst werden – die bekannten Apollo-Wagen.

Apollo-Reklame von 1912; Original: Sammlung Michael Schlenger

Bei der Dokumentation von Slevogts Wirken, das sich keineswegs auf Apollo beschränkte, arbeitete Wolfgang Spitzbarth nebenbei (aber ebenso akribisch) auch die Historie der Piccolo-Wagen auf.

Ich darf sagen, dass es keine Quelle gibt, die auch nur annähernd an die Breite und Tiefe der Materialien herankommt, die Wolfgang Spitzbarth zu Piccolo (und den mit Slevogt in Verbindung stehenden Automarken) auf seiner Website bietet.

Wenn Ihnen also einmal langweilig sein sollte, dann lassen Sie sich auf die schiere Masse und Qualität der dort verfügbaren Informationen und Abbildungen ein. Man kommt dabei leicht vom “Hölzchen auf’s Stöckchen”, wie man so schön sagt – ich habe Sie gewarnt!

Das war es für heute in Sachen Piccolo – vielleicht weiß Herr Spitzbarth zu dem Vierzylinder-Modell auf dem Foto von Matthias Schmidt noch etwas ergänzen oder korrigierend beizusteuern…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Zurück zur Kutsche!? Ein Daimler-Taxi um 1897

“Zurück zur Kutsche? Bloß nicht!”, ruft der passionierte Verbrenner-Fahrer. Jetzt haben wir doch endlich Autos, deren Abgase im Idealfall sauberer sind als die Stadtluft in der Heizsaison, zudem flüsterleise, preisgünstig und nahezu wartungsfrei.

Diese Pferdekutschen dagegen – ein irrer Aufwand für den meist untätigen vierbeinigen Antrieb und dessen Betreuer, zwangsläufig nur etwas für Bessergestellte, dann die Straßen voller Dreck und: ständiger Lärm von Hufgetrappel und Peitschenknallen!

Man sieht: Zurück zum friedlichen Idyll führt die Abkehr vom Verbrenner-Automobil keineswegs, jede Zeit hat ihre Plagen. Auch die sich sündenfrei dünkende Elektrofraktion ist ruhiger geworden, seitdem sie weiß, dass sie ihre Gefährte nicht nur bei Flaute und bei Dunkelheit mit fossil erzeugter Elektrizität lädt – oder gar mit “Atomstrom”!

Wie immer ist es ratsam, die ideologische Brille abzusetzen und eine pragmatische Sicht einnehmen. Was wirklich überlegen ist, wird sich schon von selbst durchsetzen – wie alle Annehmlichkeiten unseres Daseins, von denen keine einzige ein Politiker erfunden hat.

Alles hat seine Vor- und Nachteile – diese vernünftig abzuwägen, darf man ruhig dem sonst in Sonntagsreden gern beschworenen mündigen Bürger anvertrauen.

Bei gutem Wetter mit dem klassischen Stahlrahmenrad zum Einkaufen, ein andermal mit der Elektro-Vespa (China-Plagiat…) zur Post, dann mit einem alten Vergaser-Auto der Wahl eine Feierabendrunde durch’s Wettertal und nach Italien bequem im modernen SUV.

So sieht mein für Ideologen wohl verwirrendes Mobilitätsprofil aus. Nur zwei Fortbewegungsmittel kommen nicht darin vor: die Staatsbahn und die Kutsche.

Was die Kutsche angeht, will ich heute aber eine Ausnahme machen und stelle diesen Blog-Eintrag unter das Motto “Zurück zur Kutsche!?”

Mein stärkstes Argument dafür ist auf folgender Ansichtskarte zur bewundern, die anno 1909 ein gewisser Hermann aus Gelsenkirchen nach Herborn sandte:

Postkarte von 1909; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der gute Hermann outet sich auf dieser Aufnahme als Kutscher, seine überaus charmante Passagierin ist mit “Mimmi” bezeichnet. Ob das den Tatsachen entsprach oder ob es sich um einen Spaß handelt, sei dahingestellt.

Auch habe ich keine große Zeit auf die Entzifferung der Handschrift verwendet – leicht zu lesen ist für mich nur am Ende “Es grüßt Dich herzlich Dein Bruder Hermann” sowie der anschließende Gruß an die übrige Familienbande inkl. des unvermeidlichen Fritz.

Nachtrag: Die Auflösung findet sich in den Leserkommentaren:

Spannender finde ich den Aufbau – offenbar ein Coupé mit hinten zu öffnendem Dach, also eher noch ein Landaulet. Alles schönste Kutschbautradition.

Aber was ist von dem “Kutscher” zu halten? Können wir sicher sein, dass er Zügel in den Händen hält und ein oder zwei Pferde vor sich lenkt? Nun, das können wir bei genauer Betrachtung ausschließen, denn die Gestaltung des ausschnitthaft zu erkennenden Vorderkotflügels passt nur zu einem frühen Automobil.

Tatsächlich lebte die jahrhundertealte Kutschbautradition nach 1900 nur noch in der äußerlichen Gestaltung der Aufbauten für die Passagiere fort – immerhin bemerkenswert, wie lange sich solche Elemente hielten.

Im Hinblick auf die Konstruktion der technischen Komponenten dagegen hatte man früh die Lösungen aus dem Kutschbau als untauglich erkannt und sich in anderen Feldern bedient.

In vier Bereichen fanden sich Konstruktionsdetails, Bearbeitungstechniken und Materialien, die sich für’s Automobil nutzen ließen: Eisenbahn, Fahrrad, Feuerwaffen und Feinmechanik.

So ist es kein Zufall, dass es nicht selten Unternehmen mit entsprechender Kompetenz waren, die nach der Erfindung des Autos in großem Stil in die Produktion einstiegen. Die Pionierarbeit wurde aber interessanterweise durchweg von Einzelerfindern geleistet.

Karl Benz etwa kommt nicht nur das Verdienst zu, das erste wirklich einsatzfähige Automobil gebaut zu haben – was ihm allerdings erst seine resolute Frau Bertha mit der legendären Fernfahrt beweisen musste, die sie 1888 mit ihren Söhnen absolvierte.

Benz ignorierte auch richtigerweise die technischen Lösungen aus dem Kutschbau und nutzte vor allem im Fahrradbau bewährte Details wie Rohrrahmen, Drahtspeichenräder, Kugellager und Kettenantrieb. Konkurrent Daimler beschritt 1889 mit dem von Wilhelm Maybach konstruierten Quadricycle denselben Weg.

Wenn man nun aber meint, dass von dort ein gerader Weg unter Umgehung der Kutschentradition in die Zukunft wies, irrt.

Zwar ergriffen französische Firmen sofort die Gelegenheit, um auf Basis der Vorarbeit von Benz und Daimler das Automobil weiterzuentwickeln. Panhard baute schon 1891 den ersten Wagen fortschrittlicher Konzeption mit vornliegendem, blechverkleidetem Motor.

Doch bei Benz und Daimler gab es nochmals ein erstaunliches “Zurück zur Kutsche!” Illustrieren lässt sich das kaum besser als mit diesem Foto, das mir Leser und Veteranen-Enthusiast Gottfried Müller zur Verfügung gestellt hat:

Daimler Riemenwagen um 1897; Originalfoto: Sammlung Gottfried Müller

Da ich von den Automobilen vor 1900 nur eine begrenzte Vorstellung habe, hat es eine Weile gedauert, bis ich herausfand, was dieses Foto zeigt.

Nach meinen Recherchen handelt sich um einen Daimler mit Riemenantrieb, wie er um 1897 gebaut wurde – hier offenbar genutzt als Taxi. Wer es genauer oder besser weiß, möge das bitte über die Kommentarfunktion mitteilen.

Jedenfalls ist mir noch kein Auto begegnet, was besser dem Bild der “Horseless Carriage” entspricht, das die Engländer für die Kutsche ohne davorgespanntes Pferd geprägt haben.

Wenn ich es richtig sehe, besitzt dieses Gefährt nur eine Schwenkachslenkung, wie man sie seit Urzeiten an Pferdewagen findet. Auch die übrige Konstruktion mit großen Rädern und hoch angebrachtem Aufbau, in den man im Wortsinn noch ein”steigen” musste, entspricht sehr weitgehend der Kutschentradition.

Fast zeitgleich boten andere Hersteller bereits niedrige und mit minimalistischem Aufbau versehene Fahrzeuge an wie etwa 1899 die Firma Cudell aus Aaachen:

Cudell-Reklame von 1899; Original: Sammlung Michael Schlenger

Gewiss erwies sich auch diese Konstruktion letztlich als Sackgasse, da der Motor hier noch im Heck lag (was neben den in der Reklame genannen Vorteilen auch Nachteile hat).

Aber immerhin wird doch deutlich, dass man auf dem Weg zu einer vom Kutschbau völlig unabhängigen Chassiskonstruktion war.

Wenn Daimler mit dem Riemenwagen – und auch Benz mit dem Typ “Viktoria” kurz vor 1900 – noch einmal die Devise “Zurück zur Kutsche!” ausgaben, dann ist das wohl damit zu erklären, dass eine gewisse sehr wohlhabende Käuferschicht weiterhin auf das gewohnte Erscheinungsbild herrschaftlich wirkender Kutschen nicht verzichten wollte.

So erklärt das jedenfalls für mich überzeugend Erik Eckermann in seinem über 800 Seiten starken und anschaulich bebilderten Opus “Auto und Karosserie” (Verlag Springer Vieweg, 2. Auflage 2015), auch sonst eine großartige Quelle wertvoller Informationen und Gedanken zur Genese des Automobils.

Natürlich wissen wir, dass auch Benz und Daimler später noch die Kurve gekriegt haben, nachdem zwischenzeitlich die Konkurrenz aus Frankreich und Belgien an die Spitze der Autoentwicklung gerückt war.

Daimlers 35 PS-“Mercedes” von 1901 gilt mit seinen innovativen Lösungen in konstruktiver wie gestalterischer Hinsicht zurecht als der Urahn des modernen Autos.

Doch viele Elemente und ganze Karosserievarianten aus der Kutschbautradition sollten sich noch über Jahrzehnte halten. “Zurück zur Kutsche”, das dachte sich Anfang der 1920er Jahre offenbar auch der Hersteller dieses US-Fabrikats mit “Victoria”-Aufbau:

unidentifizierter US-Wagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Unter der Haube dieses großzügigen, aber bis unidentifizierten Automobils verbarg sich ein hubraumstarker Motor (einen “Daniels V8” würde ich trotz gewisser Ähnlichkeit ausschließen), doch am Heck entschied man sich für eine Reminiszenz an die Zeit, in der man auch in den Staaten noch mit dem flotten Einspänner unterwegs war.

Gestern und heute vertragen sich durchaus – Kutsche und Automobil haben beide ihren Reiz, wie übrigens auch das Spazierengehen. Für letzteres Thema dürfte mir aber auf Dauer das zum Blog passende Bildmaterial fehlen – das müssen Sie also schon selbst tun.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Einer für alle: Zwei “Metallurgique” um 1911

Die ab 1900 gebauten Automobile der belgischen Firma “Metallurgique” scheinen in Deutschland heute nur noch Spezialisten zu kennen, obwohl sie bis Anfang der 1920er Jahre hierzulande ähnliche Verbreitung fanden wie in anderen europäischen Ländern.

Es fand ab 1909 sogar eine Lizenzfertigung bei Bergmann in Berlin statt.

Dabei nahm man nicht nur in technischer Hinsicht Maß an den belgischen Wagen – es gab auch einen Berliner Ableger der Karosseriefabrik Van den Plas, welcher ein wichtiger Lieferant von Aufbauten für Metallurgique war.

Mit solch’ einem in Berlin mit Van den Plas-Karosserie gebauten Bergmann-Metallurgique haben wir es mit dem Wagen auf folgendem Foto sehr wahrscheinlich zu tun:

Bergmann-Metallurgique Tourer um 1911; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Jedenfalls ist diese Aufnahme einst als Postkarte innerhalb Deutschlands gelaufen, nach Vienenburg im Harz, und auf dem Original ist “Van den Plas” auf der Plakette zu lesen.

Der Aufbau ist ein bemerkenswertes Beispiel für den gestalterischen Umbruch ab 1910, der in Deutschland binnen kürzester Zeit erfolgte, sich in anderen Ländern aber teils bis zum 1. Weltkrieg hinzog.

Das erschwert die genaue Datierung in solchen Fällen ausländischer Aufbauten. So sind hier noch einige recht archaische Elemente zu sehen wie die Unterteilung des Aufbaus in einzelne Bausteine, die noch kein harmonisches Ganzes ergeben.

Man erkennt ansatzweise zwei “Sitzwannen”, die jeweils optisch von der zugehörigen Türpartie abgesetzt sind. Die “Sprünge” des oberen Karosserieabschlusses weisen Entsprechungen an der Unterseite zum Rahmen hin auf.

Eher an frühen Fahrzeugen findet man außerdem die nur notdürftig kaschierte Lücke zwischen Rahmen und Trittbrett – sie wurde später mit einem durchgehenden Blech verschlossen, hinter dem dann auch die senkrechten Trittbretthalter verschwanden.

In Kombination mit der Gestaltung der Kotflügel würde man einen solchen Aufbau auf etwa 1908 datieren. Ein formales Detail spricht jedoch dagegen:

Auch wenn es nicht ganz leicht zu erkennen ist, besitzt dieser Metallurgique – übrigens am markanten Kühlergehäuse als solcher zu erkennen – bereits eine strömungsgünstige gestaltete Blechpartie vor der Frontscheibe – den sogenannten Windlauf.

Dieses Element findet sich erstmals ab 1910 im Serienbau bei deutschen Fabrikaten – ausländische Hersteller hatten es mit der Modernisierung dagegen nicht so eilig.

Bei Metallugique-Wagen findet sich genau diese Ausführung nach meinem Eindruck erst ab 1911 – wobei ich mir bewusst bin, dass die Datierung vieler Aufnahmen in der Literatur und im Netz oft auch nur geschätzt ist.

Bei der Gelegenheit möchte ich Sie noch bitten, sich die Proportionen der Motorhaube einzuprägen, insbesondere deren Höhe im Vergleich zu Kotflügeln und Windlauf.

Wir sind heute nämlich in der komfortablen Lage, einen zweiten Metallurgique studieren zu können, der einen nahezu identischen Aufbau besaß, sich aber als stärkeres Modell erweist.

Zudem ist diese Aufnahme aus dem Archiv von Klaas Dierks von weit besserer Qualität:

Metallurgique Tourer um 1911; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Ist das nicht ein prächtiges, geradezu herrschaftlich anmutendes Automobil?

In der Tat mischten einige der damals sehr zahlreichen belgischen Autohersteller in der europäischen Oberklasse mit. Dieses Exemplar wurde der Überlieferung nach in London aufgenommen, wo wahrlich kein Mangel an Repräsentationsautomobilen herrschten.

Hier können SIe nun besser erkennen, wie das erwähnte ansteigende Blech vor der Winschutzscheibe den Luftstrom auf diese lenkte und wie man sich die Verstellmechanik der auf meinem eingangs gezeigten Foto nach vorne umgeklappten Scheibe vorstellen muss.

Ich bin sicher, Sie werden beim Aufbau ab der Frontscheibe keine wesentlichen Unterschiede zu dem obigen Wagen feststellen – dennoch wirkt dieser Metallurgique deutlich harmonischer und “erwachsener”. Den Grund dafür sehen wir hier:

Die Motorhaube erscheint nicht nur länger, sie ist vor allem deutlich höher und schließt auf einer Ebene an den Windlauf an – so wirkt die Frontpartie aus einem Guss, obwohl die Gestaltungslemente als solche weitgehend dieselben sind.

Den etwas moderneren Eindruck macht dieses Fahrzeug aber auch aufgrund des gerundeten Querschnitts der Vorderkotflügel – diese weisen bei meinem “Metallurgique noch das kantige Profil auf, das man von früheren Fahrzeugen kennt.

Überbewerten darf man das aber nicht, denn auch hier existierten beide Formen speziell bei ausländischen Fabrikaten noch einige Jahre parallel zueinander.

Von der Motorhaube abgesehen deutet ansonsten nichts darauf hin, dass es sich bei diesem Metallurgique um ein stärkeres Modell gehandelt haben muss.

Wie gesagt, ist der übrige Aufbau vollkommen identisch. Es galt also “Einer für alle” – vor dem 1. Weltkrieg war die Verwendung gleich gestalteter Karosserien bei unterschiedlicher Motorisierung nämlich eher die Regel statt die Ausnahme.

Nur ein technisches Detail erinnert an der Heckpartie daran, dass der in London beheimatete Metallurgique ein wesentlich leistungsfähigeres Modell gewesen sei muss:

Vergleichen Sie einmal den Durchmesser dieser Bremstrommel mit dem am eingangs gezeigten Wagen – der Unterschied ist ziemlich groß!

Das bringt uns zur letzten Frage, ob sich denn die Motorisierung dieser sonst so gleichgekleideten Schwestermodelle ungefähr angeben lässt.

Ausgangspunkt ist dabei meine These, dass wir es in beiden Fällen mit Metallurgique-Wagen um 1911 zu tun haben – mit maximal einjähriger Abweichung nach oben und unten.

Dann kommen zwei Motorenklassen in Betracht – einmal die kleineren Monoblock-Aggregate mit 12 bzw. 16 französischen Steuer-PS – und einmal die weit größeren Zweiblockmotoren der Kategorien 26 bzw. 40 CV.

Je ein Exemplar aus diesen beiden Leistungsklassen haben wir heute kennengelernt, das ist mein Fazit, welches bei so frühen Automobilen wie immer vorläufig ist.

Bei Van den Plas hatte man anno 1911 einen solchermaßen gestalteten Aufbau für alle diese Typen im Programm – daneben natürlich auch andere Varianten, die aber ebenfalls wieder weitgehend identisch ausgeführt wurden, unabhängig von der Stärke des Wagens.

An sich eine Selbstverständlichkeit zu jener Zeit. Ich meine aber, dass man selten einen so direkten Vergleich zwischen zwei Fahrzeugen mit so eindeutig unterschiedlicher Leistung anstellen kann – noch dazu mit identischer Farbgebung und spiegelbildlicher Perspektive.

Die alten Hasen und die Experten unter den Vorkriegsauto-Enthusiasten wissen das zwar alles schon.

Aber ich muss mir die Dinge quasi einmal selbst erklären – außerdem soll mein Blog eher die ansprechen, die vielleicht erst damit begonnen haben, sich diese geheimnisvoll anmutende Wunderwelt zu erschließen.

“Einer für alle”, das ist letztlich auch das Motto meines Blogs im Sinne einer eher populären und lässigen Aufarbeitung des Themas, auch wenn die Spezialisten sicher das eine oder andere Mal die Stirn runzeln oder heftig den Kopf schütteln.

Aber bitte, meine Damen und Herren: Auch für die mir stets willkommenen Kommentare gilt: “Einer für alle (Leser)”! Diesen Spleen sollte man nicht für sich reservieren, sondern ihn großherzig mit allen teilen, die sich gerne davon anstecken lassen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Seiner Linie treu: MAF Zweisitzer 1908-1914

Nach (zu) langer Pause ist heute wieder einmal die Marke MAF aus Markranstädt bei Leipzig an der Reihe.

Sie entstand nach dem Ausscheiden von Hugo Ruppe aus dem väterlichen Betrieb Ruppe & Sohn in Apolda, wo er das Modell “Piccolo” mit luftgekühltem Motor konstruiert hatte und wo später die bekannten “Apollo”-Wagen nach Entwurf von Karl Slevogt entstanden.

Hugo Ruppe blieb seiner Linie treu und entwarf 1908 für seine neue Automobilfabrik eine Reihe von Kleinwagen mit luftgekühlten Vierzylindermotoren, hauptsächlich in der Hubraumklasse zwischen 1,2 und 1,8 Litern.

Auf die Vielfalt der Motorisierungen, die laufende Leistungssteigungen bei ähnlicher Grundkonstruktion widerspiegelt, will ich mich nicht einlassen. Man sah einem MAF wohl kaum an, was genau sich unter seiner Motorhaube und hinter der Kühlerattrappe verbarg.

Mich interessiert bei diesen frühen MAF-Wagen vor dem 1. Weltkrieg (die Marke existierte bis 1921, als sie von Apollo übernommen wurde) etwas ganz anderes.

Hugo Ruppe blieb nämlich zumindest bei der Zweisitzerversion seiner Automobile auch äußerlich seiner Linie erstaunlich treu, wenngleich das Erscheinungsbild der allgemeinen Tendenz am deutschen Markt folgend behutsam modernisiert wurde.

Dies lässt sich sehr schön anhand der Fotos dokumentieren, die ich nachfolgend zusammengestellt habe. Den Anfang macht dieser ganz frühe Zweisitzer:

MAF Zweisitzer von 1908/09; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses Fahrzeug habe ich schon einmal ausführlich besprochen, es handelt sich sehr wahrscheinlich um eines der von Hugo Ruppe neu konstruierten Modelle aus dem ersten Jahr 1908, spätestens aber 1909.

Die Grundform dieses Zweisitzers sollte in den folgenden Jahren bis 1914 im wesentlichen die gleiche bleiben.

Wir halten fest: nach hinten ansteigender Karosseriekörper, vor der Hinterachse endender Innenraum, schwingenartige Vorderkotflügel und damit korrespondierender Aufschwung des Hinterkotflügels, entsprechend kurzes Trittbrett, insgesamt sehr reduzierter Aufbau.

Dieses sportliche Erscheinungsbild findet man ab 1910 wieder, auch wenn nun die damals obligatorisch werdende “Windkappe” zu sehen ist, welche die Luft ab der Motorhaube nach oben lenkt:

MAF Zweisitzer von 1910; Originalfoto: Sammlung Stefan Rothe (Berlin)

Denkt man sich den noch wie aufgesetzt wirkenden “Windlauf” weg, hat man es praktisch mit derselben Konstruktion zu tun, nur dass man jetzt auch die damals runde MAF-Kühlerattrappe erkennen kann.

Dieses Foto veranschaulicht wieder einmal die gestalterische Zäsur, welche mit der Übernahme des Windlaufs aus dem Sport (dort ab 1907/08 gebräuchlich) bei Automobilen aus dem deutschen Sprachraum einherging.

Im nächsten Schritt wurde der Windlauf harmonisch an die Haube angepasst – damit war ein großer Schritt weg von der Kutsche mit davorgesetztem Motor hin zum Auto mit eigenständig gestalteter Frontpartie getan.

Mit einem Mal erkennt man etwas, was bis heute prinzipiell unverändert geblieben ist. Schauen Sie einfach einmal bei Ihrem Wagen nach, auch er sollte vor der Frontscheibe noch einen Windlauf haben, wenngleich viel kürzer als hier:

MAF Zweisitzer um 1912; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Erstaunlich, was die überarbeitete Frontpartie ausmacht, nicht wahr? Aber davon abgesehen ist auch dieser MAF-Zweisitzer von ca. 1912 ganz seiner Linie treu geblieben.

Aufmerksame Betrachter werden dennoch einige weitere Nuancen bemerken:

Die Kotflügel sind zwar nach wie vor so elegant geschwungen wie zuvor, doch der vordere schließt jetzt direkt ans das Trittbrett an. Zudem ist der Aufbau jetzt aus einem Guss geformt und die zuvor gerundete Motorhaube ist stärker konturiert.

Der sportlich-leichte Stil als solcher ist aber erhalten geblieben, wenngleich der Rahmen hinten nun etwas massiver ausgeführt zu sein scheint – das mag der gestiegenen Leistung geschuldet sein.

Übrigens ließ sich so ein MAF-Zweisitzer durchaus flott bewegen – je nach Motor waren 70m/h Spitze erreichbar – das machen Sie einmal mit so einem filigranen Auto und dieser hohen Sitzposition, das dürfte Ihnen halsbrecherisch vorkommen!

Der Motorenklang dürfte sein übriges dazu getan haben, dass man sich in solch einem MAF beinahe wie ein Rennfahrer vorkam. Möglicherweise war es die Geräuschentwicklung, welche der adretten Dame im nachfolgend abgebildeten Zweisitzer MISSfiel:

MAF-Zweisitzer von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Man meint zu wissen, was die junge Dame mit der feschen Lederkappe gerade dachte: “Eine gute Partie ist er schon, mein August, und liebt mich von Herzen, was will man mehr. Dass er meine Mitgift in ein Automobil investiert hat, war auch ausgemacht – er braucht den Wagen ja als Landarzt. Aber musste es denn so ein lärmiger MAF sein? Ich hätte ihm ja zum Opel-Doktorwagen geraten, aber so sind die Männer…”

Nun, unser Mitleid hält sich mit der Dame aus gutem Hause in Grenzen, denn als Automobilistin gehörte sie auf jeden Fall zu den oberen Zehntausend im Deutschen Reich.

1913 oder 1914 dürfte dieses schöne Dokument entstanden sein, und es ist damit das letzte in der heutigen Reihe.

Erkennen Sie in dieser letzten Variante noch den MAF-Zweisitzer von 1908/09 wieder? Ich meine schon, dass es sich im Kern um dieselbe Konstruktion handelt. Bloß die andersartige Kühlerattrappe irritiert auf den ersten Blick.

Mir scheint es eine Version zu sein, die sich an den kurz vor dem 1. Weltkrieg aufkommenden Spitz- oder Schnabelkühlern orientierte. Ob dies eine von MAF selbst angebotene Variante oder ein Teil aus dem damals bereits blühenden Zubehörhandel war, sei dahingestellt.

Eine Modifikation dürfte auch das am Heck angebrachte Gepäckabteil darstellen. Eine genaue Entsprechung habe ich zwar noch nicht gefunden, dennoch bin ich sicher, dass wir es auch hier mit einem der leichten MAF-Zweisitzer zu tun haben, die etliche Jahre ihrer Linie treu blieben und damit offenbar Erfolg beim Kunden hatten.

Auch ich will im Neuen Jahr meiner Linie im Blog treu bleiben, und bisweilen solche rein formalen Betrachtungen anstellen, wenn es das Material hergibt – gern garniert mit einigen erdachten “Originalzitaten”, sofern mich die Situation dazu inspiriert.

Und wie immer freue ich mich über sachkundige, auch kritische Kommentare, gern gewürzt mit etwas Witz und die eine oder andere Abschweifung enthaltend. Wenn auch sonst alles in Bewegung kommt, wollen wir hier doch unserer Linie treu bleiben…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Das fängt ja gut an: Ein Renault Landaulet um 1912

Dass das Jahr 2023 gut angefangen hat – und bei allen Höhen und Tiefen des Daseins ein ebensolches Ende nehmen wird, wünsche ich allen Lesern!

Für einen guten Anfang kann ich heute zumindest in meinem Blog sorgen. Denn wir steigen gleich auf hohem Niveau ein und betreiben Automobil-Archäologie an einem besonders lohnenden Exemplar.

Dabei kann auch der gerade erst zu uns gestoßene Hobbyforscher seinen Scharfsinn beweisen, denn den Veteranen unserer Profession hilft das über Jahre angesammelte Wissen in Sachen altem Blech beim heutigen Fundgegenstand wenig.

Das hat mit der Marke zu tun, um die es geht: Renault. Französische Hersteller schlugen ohnehin in vielen Fällen andere Wege ein als die Konkurrenten auf der anderen Rheinseite, doch Renault fiel in dieser Hinsicht besonders aus dem Rahmen.

Ein erstes Mal herausgearbeitet habe ich die Schwierigkeiten einer genauen zeitlichen Einordnung seinerzeit hier bei der Besprechung dieses prachtvollen Coupés:

Renault Coupé von ca. 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nicht nur hielt man bei Renault an der Position des Kühlers hinter dem Motor bis in die 1920er Jahre fest; man schien auch sonst nicht am allgemeinen Trend in der Automobilgestaltung interessiert zu sein.

Während es bei Fabrikaten aus dem deutschsprachigen Raum bestimmte Karosseriedetails gibt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bei fast allen Herstellern auftauchen und ebenso abrupt wieder verschwinden, findet man bei frühen Renaults ein schwer zu entwirrendes Nebeneinander archaischer und moderner Elemente.

Viel hing vom Geschmack des Käufers und vom Stil des Karosserielieferanten ab, wobei weniger nach der Mode geschielt, denn auf ein eigenständiges Ergebnis abgezielt wurde.

Das hat die reizvolle Folge, dass – noch weniger als bei anderen Fabrikaten – kaum ein Renault aus der Zeit vor 1920 dem anderen glich. Daher muss man lernen, den Blick auf die Elemente zu konzentrieren, die wirklich typisch waren.

Der erste Schritt besteht darin, radikal alles zu ignorieren, was sich hinter der Windschutzscheibe, zumindest aber hinter dem Fahrerabteil abspielte. Wir setzen dazu kühn das Messer an und können nun ungestört die Frontpartie sezieren:

Wenn das Auge noch etwas verwirrt von der – für mich faszinierenden – Andersartigkeit der Linienführung ist, hilft zunächst der Fokus auf die Haubenpartie.

Die Motorhaube liegt vorn plan auf dem Rahmen auf und besitzt dort einen kleinen Griff zum Anheben nach hinten – wie bei heutigen Autos und ganz anders als damals üblich.

Nach hinten steigt die Haube zunächst steil und dann flach an, was ihr die Form einer umgekehrten Kohleschaufel gibt. Sie weist an den Kanten ein komplexes Profil an, die Herstellung darf man sich einigermaßen anspruchsvoll vorstellen.

Am hinteren Ende ist sie waagerecht mit einem Scharnier am Kühlergehäuse befestigt, dessen Oberteil schön nach oben geschwungen ist, dort füllte man das Wasser auf. Die Kühlerfläche ging über die ganze Breite und schaut beiderseitig der Haube hervor.

Das gewölbte Lochblech an der äußeren Kühlerkante scheint erst ab 1910 aufzutauchen, vorher war diese Partie rechtwinklig ausgeführt.

Ein Wort zu den Kotflügeln. Diese sind hier zweiteilig ausgeführt; an die das Rad umschließende Partie ist ein Blech angesetzt, das die Frontpartie vor Verschmutzung schützte. Dieser Innenkotflügel bestand anfänglich oft aus Leder, später verschmolz er mit dem Oberteil zu einem harmonischen Ganzen aus Blech.

Einprägen sollte man sich zuletzt noch die gebogenen Halter der beiden Scheinwerfer, die einfach von oben auf diese aufgesteckt wurden.

Haben Sie sich das alles gut gemerkt? Oje, das fängt ja gut an mit der Schulmeisterei, mögen Sie vielleicht denken, aber glauben Sie mir: Das alles muss man parat haben, wenn man ein echter Veteranenkenner sein oder werden will.

Bereit zum Test des Erlernten? Dann kann es ja losgehen, und ich bin sicher, diese Prüfung wird das reine Vergnügen!

Renault Coupé von ca. 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Habe ich zuviel versprochen? Das fängt doch gut an, unser bunter Bilderreigen in Schwarz-Weiß im Neuen Jahr!

In dieser Aufnahme ist alles drin, was sich der Liebhaber des wirklich alten Blechs wünscht: Ein prachtvolles Automobil, technisch perfekt wiedergegeben, echte Persönlichkeiten, die auch nach über 100 Jahren lebendig auf uns wirken, und ein aufmerksamer Vierbeiner.

Ja, alles wunderbar, denken sie jetzt vielleicht, aber der Wagen sieht irgendwie verwirrend aus, ganz anders als der zuvor gezeigte, nicht wahr?

Bevor die Prüfungsangst sich durchsetzen kann, atmen wir durch und erinnern uns an Veteranenauto-Regel Nr. 1: Sich nicht ablenkenlassen und den Blick ganz auf den Vorderwagen konzentrieren:

Am besten, man fängt wieder von vorne an: Die Scheinwerfer sind nicht montiert, dafür sieht man jetzt die gabelfömigen Halter besser und kann sich vorstellen, wie die Montage funktionierte.

Fuhr man nur bei Tag, ließ man die empfindlichen und teuren Bauteile gern zuhause, eine Alternative waren Überzüge aus Segeltuch, auch das sieht man bisweilen.

Von der Motorhaube sieht man nicht viel, aber genug, um sie als einem Renault zugehörig zu erkennen. Auch die Kühlerpartie entspricht ganz derjenigen des eingangs gezeigten Wagens und ist hier sogar noch besser zu studieren.

Man sieht die Konstruktion aus vernieteten und verlöteten Elementen, auch das oben erwähnte gewölbte Lochblech entlang der Kühlerkante findet sich wieder.

Wer bisher alles wiedererkannt hat, hat bestanden und könnte diesen Wagen ebenfalls als Renault aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg einordnen. Es geht auf diesem Foto aber noch weiter:

Zwar sitzt der Fahrer hier nicht mehr im Freien wie im Fall des edlen Coupés ganz oben, aber sein Arbeitsplatz hat sich ansonsten nicht geändert.

Zu seiner Rechten in Griffweite befindet sich vorn die Handbremse – hier in gelöster Position (oben: angezogen), übrigens mit vollkommen identischem Griff. Dahinter befindet sich vertikal stehend der Hebel für die Gangschaltung.

Zum Schluss folgt der Ballen der Hupe. Hier ist ein anderes Exemplar verbaut – es gab unzählige Varianten davon. Nennenswert ist noch die lederne Abdeckung der Einstiegsöffnung, die sich auf der ersten Aufnahme nicht findet – sie ließ sich bei Bedarf einfach abknöpfen.

Wenn Sie sich nach dem Sinn der beiden Halter am Trittbrett bzw. neben dem Kühler fragen, dann finden Sie die Antwort auf dem Dach liegend in Form eines Ersatzreifens bzw. -schlauchs. Der aufmerksame Betrachter wird dort noch bemerken, dass das vordere Ende der Dachreling in einem klassischen Mäander ausläuft, sehr hübsch.

War doch gar nicht so schlimm, dieser kleine Test zum Jahresauftakt, oder? Die Frage, wann genau dieser Renault gebaut wurde, erspare ich Ihnen, ich kenne die Antwort selbst nicht.

Während sich der eingangs gezeigte Renault auf wahrscheinlich 1912 datieren ließ, fehlen hier einige kleine Details, die eine engere Einordnung erlauben.

So ist hier leider das Datum der Postkarte nicht entzifferbar, auf der dieses Foto einst von Frankreich nach München gesandt hatte. Zudem ist die Schwellerpartie hier noch unverkleidet, was bei Renault erst ab 1912 der Fall gewesen zu sein scheint.

So bleibt aus meiner Sicht als Lösung nur: ca. 1910-14. Wer das unbefriedrigend findet, kann sich selbst an dem Fall versuchen oder es sein lassen und sich durch die menschliche Komponente auf diesem Foto kompensieren:

So fremdartig dieser Wagen mit seinem Landaulet-Aufbau – also mit nur über den Passagieren zu öffnendem Dach – auf uns Menschen des 21. Jh. wirkt, so nahe ist uns dieser freundliche junge Mann, der in diesem Moment ganz mit sich im Reinen war.

Er hatte nicht nur seinen kleinen vierbeinigen Freund auf dem Arm, er war auch von Kopf bis Fuß für die anstehende Ausfahrt gewappnet. Das kann man von seinem Gegenüber nicht ganz behaupten, der daher auch ein wenig kariert dreinschaut.

Haben Sie bemerkt, warum? Er trägt zwar ebenfalls Reisemantel und sportliche Mütze, aber er steht noch in Hausschuhen dar, als sei er zu spät zu dem Foto gekommen.

Das fängt ja gut an – da hat man seinen Silvester-Kater noch nicht ganz ausgeschlafen, schon rufen gesellschaftliche Pflichten und Bruderherz ist wie immer früher fertig als ich…”

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Mittendrin, statt nur dabei: Ein Bellanger Frères

Heute war ich wie jede Woche in Bad Nauheim auf der Post – ein Bau von erlesener 70er Jahre-Grausamkeit – und warf einen Blick in mein geschäftliches Postfach.

Wie üblich fand ich dort auch den Großteil der an meine Privatadresse gerichteten Sendungen vor – man ist bei dieser Behörde trotz mehrfacher Intervention nicht imstande, nur entsprechend Adressiertes ins Postfach einzulegen – und alles andere direkt zuzustellen.

Aber gut, man gewöhnt sich auch hier an den Verfall des Niveaus und so fahre ich einmal pro Woche “in die Stadt” – im Sommer mit der E-Vespa, ansonsten mit dem bösen Verbrenner.

Zu meiner Freude fand heute ich im Postfach bereits die Januar-Ausgabe von “The Automobile” vor, meinem in Großbritannien produzierten Lieblings-Altauto-Magazin.

In die Runde gefragt: Liest das außer mir eigentlich jemand hierzulande? Immerhin geht es in der aktuellen Ausgabe um Schätze wie einen französischen Stromlinienwagen von Dubonnet, Sonderkarosserien von Sodomka aus Tschechien und einen britischen Invicta.

Gibt es eine vergleichbare Publikation auf dem Kontinent? Rhetorische Frage, Antwort: nein. Unter anderem deshalb habe ich 2015 diesen Blog begonnen, weil es ein Witz ist, was im Mutterland des Autos zu Vorkriegswagen gedruckt (und online) publiziert wird.

Hier bekommen die alten Kisten und die tausenden von Marken, die an der Erfolgsgeschichte des Automobils mitgewirkt haben, zumindest annähernd die Bühne, die sie verdienen.

Das ist aber nur virtuell in so einem Blog mit alten Bildern und ein bisserl Text, mag jetzt einer sagen. Warten Sie’s ab, heute sind sie mitten drin im Geschehen, statt nur im Netz dabei!

Um ans Ziel zu gelangen, lassen wir uns zunächst von diesen feinen Damen zu einer Fahrt zurück in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg entführen: “Aimeriez-vous nous accompagner? – Mögen Sie uns begleiten?” fragen sie:

Delaunay-Belleville um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer würde da “Non merci, mesdames, nous préférons le train” – “Nein danke, die Damen, wir nehmen lieber die Bahn” antworten?

Also vertrauen wir uns den beiden an und lassen uns in ihrem Delaunay-Belleville kutschieren, so einen Wagen nennen sie ihr eigen.

Das soll uns aber nur ganz am Rande interessieren, und schon beim nächsten Händler dieser Marke lassen wir uns unter dem Vorwand, selbst so ein leistungsfähiges 6-Zylinder-Gefährt mit seidenweichem Gang erwerben zu wollen, absetzen.

Dort empfängt uns der Leiter der örtlichen Niederlassung, Robert Bellanger. Mit ihm haben wir nämlich heute eine Verabredung. Monsieur Bellanger hat in seinem Unternehmerdasein schon einige Firmen vertreten, darunter Westinghouse aus den USA.

1912, vor 110 Jahren, beschließt er, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Mit seinen Brüdern gründet er die Société Automobiles Bellanger Frères mit Sitz in Neuilly sur Seine bei Paris.

Dort lässt er hochwertige Automobile mit Daimler-Motoren nach Knight-Patent fertigen. Diese ventillosen, hülsengesteuerten Aggregate galten als Nonplusultra des geräuschlosen Laufs, waren allerdings auch anspruchsvoll, was Wartung und Ölverbrauch betrifft.

Ein noch vor dem 1. Weltkrieg entstandenes Exemplar konnte ich vor einigen Jahren meiner Sammlung einverleiben – in Form dieses im Original stark mitgenommenen Abzugs:

Bellanger Frères Tourenwagen um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Gasscheinwerfer und die Gestaltung der Vorderkotflügel deuten auf ein Vorkriegsmodell hin – wobei die Motorisierung offenbleiben muss. Die frühen Bellanger-Wagen waren mit Hubräumen von 2 bis über 6 LItern Hubraum erhältlich und scheinen sich – von den Dimensionen abgesehen – äußerlich kaum unterschieden zu haben.

Aus irgendwelchen Gründen – entweder weil sie sonst nicht absetzbar waren oder weil sie als besonders zuverlässig galten – kamen vor allem die kleinvolumigen Wagen der Marke in Paris als Taxis zum Einsatz.

Wir stürzen uns furchtlos in Getümmel der Großstadt – auf den Boulevard des Poissonières mitten in Paris – und schauen, ob wir eines Exemplars davon ansichtig werden. Tatsächlich, ganz vorne links fährt doch tatsächlich ein Bellanger Landaluet durchs Bild:

Bellanger Frères Taxi in Paris um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das komplette Foto mit eingehender Besprechung der atemberaubenden Szenerie finden Sie übrigens in meinem Blog hier.

Nun mag man das alles unbefriedigend ansehen, denn wer – außer mir – sagt denn, dass diese Mobile mit ihrem auffallend abgerundetem Kühler wirklich Wagen der Marke Bellanger waren – schließlich ist der Schriftzug auf dem rautenförmigen Emblem nicht lesbar.

Auch zeitgenössische Reklamen sind diesbezüglich nicht immer aussagefähig. Die folgende beispielsweise zeigt einen Bellanger des ab 1919 gebauten Typs 15/17 HP nur aus der Seitenansicht wieder, noch dazu reichlich stilisiert:

Bellanger Frères Reklame ab 1919; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Bellanger ging nach dem 1. Weltkrieg dazu über, statt der Hülsenschiebermotoren nach “Knight”-Patent zugekaufte Aggregate konventioneller Bauart (Seitenventiler) von Briscoe zu verbauen.

Dieses US-Unternehmen verfügte damals in direkter Nachbarschaft zu Bellanger über eine Fabrikation in Paris, so mag die Kooperation zustandegekommen sein.

Wie es scheint, stellten die 17 HP-Motoren mit vier Zylindern und 3,2 Litern Hubraum damals den Standardantrieb der Bellanger-Wagen dar. Nicht ganz klar ist, ob Briscoe auch die parallel erhältlichen Motoren mit Spezifikation 24/30 PS (4,2 Liter) und 35/50 PS (6,3 Liter) zulieferte, manche Quellen sprechen hier von Eigenentwicklungen.

Jedenfalls dominieren die zeitgenössischen Reklamen für das 17 PS-Modell A1, hier eine aus dem Jahr 1920:

Bellanger Frères Reklame aus der Zeitschrift L’Illustration, 1920; Sammlung Michael Schlenger

Alles, was in dieser Annonce an Meriten des Wagens aufgezählt wurde, war kurz nach dem 1. Weltkrieg vollkommen konventionell, zumindest ab der Mittelklasse.

Der auffallende Akzent auf der gehobenen Ausstattung im Innenraum mag widerspiegeln, dass man wusste, dass das Auto im Wettbewerb sonst keinerlei Vorteile aufwies.

Wohl gelang es der Marke noch eine Zeitlang vom alten Nimbus als luxuriöser Hersteller zu zehren, doch im Lauf der 1920er Jahre war der Stern klar am Sinken, zumal man keine Anstrengungen unternahm, mit den zeitgenössischen Entwicklungen mitzuhalten.

Um 1925 scheint Bellanger keine Rolle mehr gespielt zu haben, wenngleich man 1928 einen kurzen und erfolglosen Versuch unternahm, Wagen der ebenfalls in die Jahre gekommenen Marke DeDion als Bellanger zu vermarkten.

Spätestens Anfang der 1930er Jahre hört man nichts mehr von Bellanger, das Werk in Neuilly-sur-Seine war inzwischen von Peugeot gekauft und dann von Rosengart übernommen worden.

Und wir? Wollten wir nicht mittendrin in dieser Geschichte sein, statt nur dabei? Richtig, und genau dieses Erlebnis kann ich Ihnen zum Schluss bieten.

Denn hier geht es mitten in die 1920er Jahre, direkt ins Publikum bei einer sonst nicht näher bekannten Veranstaltung – und was kommt uns da entgegen?

Bellanger Frères um 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

“Das ist ein Bellanger!” wird jetzt auch der ausrufen, der vor einer halben Stunde noch nie von dieser französischen Marke gehört hat.

Genau so ist es, hier lernt man quasi in Echtzeit dazu – ich übrigens auch – während man diese alten Fotos Revue passieren lässt, gemeinsam mit Gleichgesinnten recherchiert und sich mehr oder weniger fundierte Gedanken dazu macht.

Und so gelangt man am Ende auch zu einem klaren Bild, was das Markenemblem von Bellanger Frères angeht. Mitten drin sein im Geschehen, statt nur als Zaungast dabei, das ist die Voraussetzung für solche Einblicke!

Bei der Gelegenheit erlaube ich mir ein persönliches Gedenken an den britischen Automobilhistoriker Michael Worthington-Williams, der mir 2016 anhand meines weiter oben gezeigten Fotos eines Bellanger-Tourenwagens um 1913 die Augen für diese Marke öffnete.

Er ist 2022 von uns gegangen und hinterlässt nicht nur bei mir eine schmerzhafte Lücke – RIP.

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Noch mit Kettenantrieb: Daimler “Mercedes” von 1910

Die frühen Mercedes-Wagen aus der Zeit vor der Fusion von Daimler und Benz sind recht seltene Gäste in meinem Blog. Das liegt weder an einer Abneigung meinerseits, noch am Mangel an zeitgenössischen Fotos – ganz im Gegenteil.

Ich müsste schön ignorant sein, um Prachtexemplare wie diesen Wagen zu übergehen:

Daimler “Mercedes” 28/95 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese über 100 Jahre alte Aufnahme von Juni 1922 zeigt einen Typ 28/95 PS, der mit seinem 7,3 Liter großen Sechszylindermotor (ohc mit Königswelle) von 1914 bis 1924 einen Spitzenplatz im Daimler-Programm innehatte.

Das hätte ich vielleicht auch selbst herausbekommen, im vorliegenden Fall machte es mir aber die entsprechende Beschriftung von alter Hand auf der Vorderseite leicht.

Bei anderen dieser frühen Mercedes-Typen komme ich aber kaum über Mutmaßungen hinaus. Gewiss, die zeitliche Einordnung anhand stilistischer Merkmale traue ich mir zu, doch bei der Identifikation des genauen Modells muss ich meist passen.

Das liegt zum einen daran, dass sehr viele Mercedes-Wagen der gehobene Klasse damals hochindividuelle Aufbauten erhielten. Zum anderen fehlt es mir an einschlägiger Literatur, in der die Merkmale der frühen Mercedes-Typen systematisch dokumentiert sind.

Gibt es so etwas überhaupt, möchte ich bei der Gelegenheit in die Runde fragen?

Mir scheint es zwar eine erschlagenden Fülle von zeitgenössischen Fotos zu geben, doch eine wirklich streng chronologische Dokumentation mit Hervorhebung der jeweils typischen Elemente ist mir noch nicht begegnet. Manches Foto scheint auch eher exemplarischer Natur zu sein und es sind Zweifel daran angebracht, ob die Typangabe wirklich sicher ist.

Mich fuchst so etwas, weil ich den Ehrgeiz habe, mich dem Baujahr und dem Modell so genau wie möglich zu nähern. So muss ich heute leider passen, was die Typansprache dieses eindrucksvollen Mercedes angeht:

Daimler “Mercedes” von 1910; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Das Foto ist für die Zeit in ungewöhnlicher Manier aufgenommen – jedenfalls verglichen mit den meist statischen Werksaufnahmen von Daimler aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.

Diese Aufnahme aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks wäre auch eine Zierde manches Mercedes-Standardwerks – mir ist bloß bislang keines begegnet, das die frühen Modelle wirklich umfassend, attraktiv bebildert und detailliert beschrieben abhandelt.

Wie gesagt: Buchhinweise werden dankend entgegengenommen – es muss doch etwas geben, was dem einzigartigen Rang dieser Marke gerecht wird.

Unterdessen will ich sehen, was sich dem heute vorgestellten Foto “mit Bordmitteln” abgewinnen lässt. Klaas Dierks konnte mir schon einmal versichern, dass es sich ausweislich der Plaketten um einen Wagen des Kaiserlichen Automobilclubs handelte.

Mit dem Kennzeichen weiß ich allerdings gar nichts anzufangen, der deutschen Konvention entspricht es jedenfalls nicht. Es sieht eher wie eine fortlaufende Nummer aus, was auf eine Verwendung beim Militär hindeuten könnte:

Halten wir uns aber lieber an das, was gesichert ist: Der dreizackige Stern auf dem Kühler taucht erst ab 1909 bei den “Mercedes”-Wagen von Daimler auf. Der Flachkühler wurde ab 1912 durch einen spitzen abgelöst.

Das Entstehungsjahr lässt sich aber noch weiter einengen: Der “Windlauf”, also die nach oben gewölbte Blechpartie zwischen dem hinteren Ende der Motorhaube und der Frontscheibe taucht bei (nicht speziell für Sportzwecke hergerichteten) Mercedes-Wagen erstmals 1910 auf.

Der abrupte Übergang zwischen Motorhaube und Windlauf, der dessen eigentlichem Zweck einer strömungsgünstigen Gestaltung noch nicht ganz gerecht wurde, findet sich bei Automobilen aus dem deutschen Sprachraum in der Regel nur 1910.

Schon ab 1911 ist diese Partie geglättet, wenngleich Haube und Windlauf meist noch kein Ganzes ergeben wie auch an diesem Mercedes:

Daimler “Mercedes” von 1911; aufgenommen im 1. Weltkrieg an der Morawa

Ab 1912 erhielten die Mercedes-Wagen dann – wie gesagt – einen Spitzkühler und zu diesem Zeitpunkt war bei deutschen Herstellern zudem eine harmonische Einheit aus ansteigender Motorhaube und Windlauf der Regelfall.

Diese Überlegungen lassen mich annehmen, dass der Mercedes auf dem von Klaas Dierks zur Verfügung gestellten Foto sehr wahrscheinlich aus dem Jahr 1910 stammt.

Dummerweise war dies auch ein Jahr des Umbruchs, was die Typen- und Motorenpalette von Daimler angeht. Einerseits lief die Produktion diverser 4- und 6-Zylinderwagen aus, die seit 1907 in Produktion waren, andererseits begann die Produktion ihrer Nachfolger, die durchweg eine größere Leistungsausbeute bei gegebenen Hubraum aufwiesen.

Die Dimensionen des Wagens, speziell die Länge der Motorhaube würden aus meiner Sicht zu Modellen mit 50 bis 75 PS passen. So oder so waren das damals enorme Leistungen, die bereits Geschwindigkeiten von 80-90 km/h ermöglichten, wenngleich die Übersetzungen vor allem auf starken Antritt bei niedrigen Drehzahlen ausgelegt waren.

Nur eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Dieser Mercedes verfügte noch über eine kettengetriebene Hinterachse, wie dieser Bildausschnitt erkennen lässt:

Daimler bot neben dem bereits etablierten Kardanantrieb nach wie vor auch Kettenantrieb an, was den Vorlieben einer konservativen Kundschaft entsprochen haben mag.

Man erkennt die Antriebskette vor dem Hinterrad oberalb des nach unten gebogenen Auspuffrohrs. Das Antriebsritzel befand sich in dem markant gestalteten Kasten vor dem Hinterkotflügel, welcher sich zur Wartung öffnen ließ. Er diente zugleich als Einstiegshilfe für die rückwärtigen Passagiere.

Ein letztes Detail auf diesem Ausschnitt sei noch erwähnt. Der Vorderkotflügel geht hier noch nicht in einem harmonischen Schwung in das Trittbrett über, sondern schneidet dieses rechtwinklig und reicht noch etwas weiter nach unten.

Auch das ist ein Indiz für eine eher frühe Entstehung dieses Daimler, denn solche Kotflügel waren ab etwa 1908 bereits die Ausnahme. Ich bin mir deshalb mit meiner Datierung dieses prachtvollen und gewiss sehr leistungsfähigen Wagens auf 1910 ziemlich sicher.

Jetzt sind aber die Mercedes-Experten an der Reihe, die mir vermutlich einige Fehlschlüsse und -urteile nachweisen und mir – hoffentlich -die ersehnten Literaturinweise geben können!

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Geheimnisvoller Grenzgänger: Ein Stoewer von 1910

An sich kennt die Beschäftigung mit Vorkriegsautos keine Grenzen – das ist jedenfalls mein Eindruck im achten Jahr meines Blogs. Zwar wird dieser 2022 die Grenze von 100.000 Besuchern nicht mehr überschreiten – aber eine Grenze werden wir heute doch erreichen.

Dabei handelt es sich um das Jahr 1910, in dem bei deutschen Automarken auf breiter Front eine gestalterische Neuerung Einzug hielt – der Windlauf.

Dabei handelte es sich um eine ab 1907/08 im Rennsport aufgekommene Blechpartie, welche die Luftströmung hinter der Motorhaube über den Wagen hinweg leiten sollte.

Bis dahin sah ein Automobil typischerweise so aus:

Tourenwagen um 1908 (Marke unbekannt); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wie man an diesem Exemplar sieht, dessen Hersteller ich noch nicht ermitteln konnte, stieß die Motorhaube rechtwinklig auf die Schottwand, hinter der sich das Fahrerabteil befindet. Bei geschlossenen Wagen ragte hier die Windschutzscheibe senkrecht auf.

Während ausländische Fabrikate – vor allem französische – an dieser Gestaltung teilweise bis zum 1. Weltkrieg festhielten, findet man bei den meisten deutschen Wagen ab 1910 besagten Windlauf, der nicht nur strömungsgünstiger war, sondern auch für einen optisch harmonischen Übergang sorgte.

Wie das letztlich wirkte, lässt sich an diesem Exemplar studieren, dessen Hersteller ebenfalls noch unbekannt ist (begründete Vorschläge werden gern angenommen):

Tourenwagen um 1912 (Marke unbekannt); Originalfoto aus Sammlung Bart Buts (Belgien)

Diese hevorragende Aufnahme hat mir übrigens mein belgischer Sammlerkollege und Opel-Veteranenspezialist Bart Buts mit der Bitte um Identifikation übermittelt.

An der Marke bin ich zwar bisher gescheitert, aber für meinen heutigen Blog-Eintrag kommt mir die Aufnahme gerade recht – zeigt sie doch den Windlauf nach gelungener Einbeziehung in den Karosseriekörper.

Für eine ganz kurze Zeit – im Jahr 1910 – gab es jedoch ein Zwischenstadium, in denen Autos erstmals einen Windlauf erhielten, aber noch kurz vor der Grenze haltmachten, ab der dieser mit dem übrigen Aufbau verschmolz.

Genau einen solchen Grenzgänger will ich heute anhand einer prächtigen Aufnahme besprechen, die mir Leser Matthias Schmidt in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat:

Stoewer G4 oder LT4 von 1910; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Diese Dokument lohnt aus meiner Sicht in besonderer Weise ein näheres Studium. Haben Sie etwas Zeit und Spaß an der zwar mühseligen, aber oft von Überraschungen geprägten Arbeit des Altauto-Archäologen?

Dann kann’s ja losgehen! Halten wir zunächst fest, was wir über die Aufnahmesituaton wissen: Das Foto ist ausweislich seiner Beschriftung auf einer Fahrt nach Krailling entstanden.

Hier beginnt es bereits mit der Grenzgängerei. Denn die kleine bayrische Gemeinde weist in der Hinsicht einige Kuriositäten auf.

Krailling ist der nördlichste Ort im Landkreis Starnberg, hat aber dieselbe Postleitzahl wie die zum Kreis München gehörige Nachbargemeine Planegg. Gleichzeitig ist ihre Telefonwahl dieselbe wie die von München – klarer Fall von Grenzgängerei.

Grenzgänger, allerdings auf vier Rädern, waren auch die Insassen des Tourenwagens:

Noch tief im 19. Jh. sozialisiert war die uns streng musternde ältere Dame hinter dem Fahrer – zweifellos kein Heimchen am Herd, sondern eine beeindruckende Persönlichkeit, die sich Respekt zu verschaffen wusste.

Ich könnte sie mir gut als strenge Lehrerin vorstellen, ein Typus, den wir durchaus im verlotterten Bildungswesen öfters gebrauchen könnten.

Neben ihr auf dem Rücksitz dann ein ganz anderer, sympathisch wirkender Frauentyp, der ein gelassenes Selbstbewusstsein ausstrahlt. Mit ihr würde man vermutlich leichter ins Gespräch kommen.

Davor sitzt dann ein junges Frauenzimmer, das mit seinem leerem Blick auf mich nicht gerade den Eindruck einer besonders aufgeweckten Gesellschafterin macht.

Sie trägt keinen Hut und ist damit bereits eine Grenzgängerin auf gewisse Weise – denn erst nach dem 1. Weltkrieg sollte es allmählich üblich werden, das Haar sichtbar zu tragen. Der vierschrötige Fahrer schaut unterdessen ernst drein und hofft, dass es bald losgeht.

Das tut es jetzt endlich auch, denn uns interessiert noch mehr die Frage, was das für ein Wagen ist, bei dem der Windlauf so merkwürdig aufgesetzt wirkt:

Nun, auch hier haben wir den klassischen Fall des Grenzgängers – ein Windlauf muss schon sein, denn das ist ab 1910 Mode, aber er kaschiert noch nicht den Übergang zwischen Motorhaube und Innenraum, sondern setzt erst hinter der vertikalen Schottwand an.

In strömungstechnischer Hinsicht nicht ideal, aber das musste man bei einem Alltagswagen mit moderater Motorisierung auch nicht so eng sehen.

Wichtiger ist ohnehin die Markenplakette auf dem Kühler des Wagens, die das Auto als Stoewer aus Stettin in Pommern (heute zu Polen gehörend) ausweist. Bis 1909 scheint der Markenschriftzug direkt in das Kühlergehäuse eingeprägt gewesen zu sein

Hier haben wir die m.E. früheste aufgesetzte Stoewer-Kühlerplakette, die sich noch von der später verwendeten, stärker ovalen zu unterscheiden scheint.

Da das Foto auf 1911 datiert ist, spricht viel dafür, dass wir einen Stoewer von 1909/10 vor uns haben. Denn mir ist keine Abbildung eines später gebauten Stoewer mit dieser noch wie nachträglich aufgesetzt wirkenden Windkappe bekannt.

Aus meiner Sicht kommen mit Blick auf die geringe Größe des Stoewer zwei Möglichkeiten in Betracht, was das abgebildete Modell angeht:

Entweder wir haben es mit dem von 1908-10 recht oft gebauten Typ G4 in später Ausführung zu tun oder mit dessen direktem Nachfolger LT4, den es nur 1910 gab.

Beide besaßen einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor, dessen Leistung während der Produktionsdauer von 16 auf 18-20 PS stieg. Vielleicht spricht der Radstand eher für das 20cm längere Modell LT4, aber aus dieser Perspektive ist das schwer zu sagen.

Ob sich die Identität dieses Grenzgängers noch genau aufklären lässt, sei dahingestellt.

An dem Wagen und seinen Insassen lässt sich so oder so ein Zeitenwandel ablesen, welcher die Beschäftigung mit frühen Automobilen über die rein technische Ebene hinaus spannend und lehrreich macht.

Denn letztlich sind wir alle Grenzgänger, ob wir wollen oder nicht und müssen mit dem Übergang aus dem verblassenden Gestern und dem vertrauten Jetzt in die Welt von Morgen zurechtkommen, ob uns der Ausblick gefällt oder nicht.

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Bärenstark, zumindest optisch: Mathis-Sportwagen

Zu den faszinierenden Herstellern der automobilen Frühzeit gehört die im Elsass beheimatete Firma Mathis. Ihr Gründer Emile Mathis war noch in den 1890er Jahren erstmals während seiner Lehre bei DeDietrich mit der neuen Erfindung in Kontakt gekommen und fing Feuer.

Nach einer Karriere als Autohändler in Straßburg ließ er von einem gewissen Ettore Bugatti einen Sportwagen konstruieren, den er kurzzeitig unter der Bezeichnung “Hermes-Simplex” verkaufte – damit bewies Mathis erstmal wettbewerblichen Ehrgeiz.

1910/11 ließ er dann zunächst einen konventionellen Wagen nach Lizenz der angesehenen Stettiner Firma Stoewer fertigen. Dieses erste als Mathis vertriebene Auto entsprach dem Stoewer-Typ B1 8/20 PS bzw. B2 9/22 PS – ein solcher Stoewer-Vierzylindermotor (leider ohne Nebenaggregate) befindet sich übrigens in meiner Sammlung.

Mit dem ersten selbstkonstruierten Modell “Baby” trumpfte Mathis ab 1912 auch im Rennsport auf. Das “Baby” gab es in drei Ausführungen – mit 1,1 Litern Hubraum (“Babylette”), 1,3 Litern (“Bébé) und 1,8 Litern (“Race Baby”).

Die letztgenannte Version kam 1912 beim Grand Prix in Dieppe zum Einsatz und schlug sich mit einem 12. Platz im Gesamtklassement sehr achtbar. Nach dem Rennen wurde diese Abbildung des Wagens mit Fahrer Dragutin Esser und seinem Beifahrer veröffentlicht:

Mathis Baby 3 (“Race Baby”) von 1912; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der Wagen unterscheidet sich in Details von dem im Rennen eingesetzten Fahrzeug – evtl. wurden die Startnummer 12 und das seitlich angebrachte Reserverad wegretuschiert. Das ist jedenfalls mein Eindruck nach Vergleich mit Fotos vom eigentlichen Rennen.

Auf einen Rennsportwagen verweist auf jeden Fall der offene Auspuff, der ganz ohne Krümmer auskommt.

Ein interessantes Detail ist der Stoßdämpfer oberhalb des Hinterrads – ob es sich um einen Reibungsdämpfer oder einen Federspiraldämpfer handelt, weiß vielleicht ein Leser. Im Serienbau wurden diese der Fahrstabilität dienenden Bauteile nach meinem Eindruck erst nach dem 1. Weltkrieg gängig.

Nach dem Krieg wurde das Elsass wieder Frankreich zugeschlagen, doch die ab 1918 gebauten Mathis-Wagen verkauften sich auch dann noch gut in Deutschland – eine Sonderklausel verschaffte der Marke weiterhin Zugang zum einstigen Hauptabsatzmarkt.

So finden sich zahlreiche Aufnahmen der sportlich anmutenden Mathis-Zweisitzer mit deutscher Zulassung wie dieses Exemplar:

Mathis 6CV der ersten Hälfte der 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Hier haben wir wahrscheinlich ein Exemplar der “Cyclecar”-Kategorie mit 800ccm Motor (Typ P), das Anfang der 1920er Jahre gebaut wurde. Daneben waren recht ähnliche Modelle mit 1,1 Liter verfügbar (Typ S und Derivate).

Die gestreifte Mehrfarblackierung war damals kurze Zeit Mode, verschwand aber zum Glück rasch wieder – sie passte nicht zu Architektur der Autos und wirkt auf mich ähnlich naiv wie die Regenbogenseligkeit unserer Tage.

Von diesen kleinvolumigen Vierzylinder-Mathis gab es eine Vielzahl sportlicher Varianten – häufig von Privatfahrern individuell angefertigt, weshalb es schwerfällt, Aufnahmen entsprechender Exemplare genau zu identifizieren.

Vermutlich auf Basis des zuvor gezeigten Mathis Typ P 6 CV entstand damals diese ungemein sportlich anmutende Variante:

Mathis der ersten Hälfte der 1920er Jahre (vtl. Typ PR); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass es hier jemand mit dem Sport durchaus ernst meinte, darauf deuten die Trommelbremsen an den Vorderrädern hin, die zumindest in Europa erst ab etwa 1925 Standard wurden.

Die gewaltige Haube war vermutlich aus gebürstetem Aluminium und lässt ein enormes Aggregat darunter vermuten – das täuscht aber, es handelt sich um einen rein optischen Effekt. Gern hätte man das Gesamtergebnis in natura gesehen.

Ein für die Einordnung wichtiges Element ist die rechts vom Fahrer außen angebrachte Handbremse – das scheint bei Mathis nur kurz nach dem 1. Weltkrieg noch der Fall gewesen zu sein. Die Schaltung lag aber auf jeden Fall bereits mittig.

Laut der Mathis-Website von Francis Roll gab es tatsächlich eine Rennsportversion des Mathis Typs P, die in der späteren Ausführung über solche schwingenartigen Kotflügel (Type PR mit “papillon”-Kotflügeln) verfügte wie das abgebildete Fahrzeug.

Vielleicht findet sich jemand, der uns über den genauen Typ dieses sportlich wirkenden Mathis aufklären und vielleicht sogar die Personen an Bord benennen kann:

Dieser Ausschnitt sollte letzte Zweifel ausräumen, was die Ansprache dieses faszinierenden Zweisitzers als Mathis “Sport” angeht. Auch wird spätestens jetzt deutlich, weshalb ich zumindest den optischen Auftritt dieses Autos “bärenstark” finde.

Wer weiß, vielleicht fand sich unter der beeindruckenden Haube ja doch ein Äquivalent dafür…

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Mit 7 PS über’n Pass? Passt. Ein Peugeot um 1904

Das Automobil steckte noch in den Kinderschuhen und war ein teures Vergnügen – doch früh verlockte es seine Besitzer dazu, abseits der Eisenbahnstrecken und unabhängig von Fahrplänen die Wunder der Welt aufzusuchen.

Magische Anziehungskraft übte in Mitteleuropa das an Kulturschätzen so reiche und von der Natur gesegnete Italien aus. Tatsächlich war das Auto schon kurz nach 1900 so weit ausgereift, dass man sich damit auf eigene Faust ins Land der Sehnsüchte begeben konnte.

So unternahm anno 1902 der Journalist und Schriftsteller Otto Julius Bierbaum mit seiner Frau eine Italienreise in einem 8 PS-Adler, den ihm das Werk in Frankfurt/Main in vollem Vertrauen auf die Qualitäten des Wagens zur Verfügung gestellt hatte.

Wie ein Adler-Auto damals aussah, davon vermittelt folgende Reklame aus dem Jahr 1902 eine Vorstellung:

Adler-Reklame von 1902; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Über den Gotthardpass bis hinunter nach Sorrent am Golf von Neapel trug der Adler damals seine Insassen. Verewigt hat Otto Julius Bierbaum dieses Abenteuer sehr lesenswert in seinem Buch “Empfindsame Reise im Automobil“.

Den Deckel der heute verfügbaren Ausgabe ziert zwar ein Adler von ca. 1912, aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Über das Auto verliert der Autor übrigens kaum ein Wort, ihn interessierten nur Land und Leute – der Adler war reines Mittel zum Zweck.

Jedenfalls gilt Bierbaum hierzulande als erster Automobiltourist, der nicht zu sportlichen Zwecken, sondern aus Reiselust die Alpen überwand – vielleicht ist einem Leser aber eine noch frühere solche Episode bekannt.

Solche Geschichten weckten natürlich in vermögenden Reisenden das Interesse, sich ebenfalls im eigenen Wagen gen Süden aufzumachen. Dazu muss auch dieser Herr gehört haben, der es im Gebirge schon hoch hinausgebracht hatte, als seine Begleitung dieses Foto anfertigte:

Peugeot um 1904, wohl Typ 63; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Es ist rund 25 Jahre her, dass ich mit meinem treuen 1200er VW Käfer die Paßstraße über den Gotthard auf dem Weg in die italienischen Marken nahm. Daher kann ich mich nicht mehr genau erinnern, wie es dort oben aussah.

Ich würde aber nicht ausschließen, dass dieses Foto ebenfalls auf dem Gotthard entstand – wer weiß es genau?

Meine Recherchen galten auch mehr dem sportlich karossierten Zweisitzer. Der Wagen wirkt mit seinem senkrecht im Wind stehenden Kühler schon ein ganzes Stück moderner als der Adler von 1902, der Otto Julius Bierbaum zur Verfügung stand.

Autos mit solchen Kühler, die oben einen eckigen Wasserkasten besaßen, gab es ab etwa 1903 einige. Den Hersteller dieses Wagens konnte ich anhand der Form der Plakette identifizieren, die sich mittig auf der Schottwand befindet, welche Motor- und Fahrerraum voneinander trennt:

Das müsste ein Peugeot sein, dachte ich. Ein Blick in Wolfgang Schmarbecks deutsches Standardwerk zu der Marke (Motorbuch-Verlag, 1. Auflage 1980) bestätigte dies.

Die erwähnte Kühlergestaltung findet sich bei Peugeot-Wagen erstmals bereits 1903, ich tippe hier aber eher auf ein Modell von 1904 und zwar speziell den 7 PS leistenden Typ 63.

Im erwähnten Buch findet sich nämlich ein – abgesehen vom dort viersitzigen Aufbau – praktisch identisches Fahrzeug. Das auf den ersten Blick recht ähnliche Modell 69 “Bébé” von 1905 möchte ich aufgrund der Proportionen ausschließen.

Auf jeden Fall haben wir es hier mit einem der kompakteren damaligen Peugeot-Typen zu tun, die meist noch deutlich weniger als 10 PS Höchstleistung aufwiesen. Maximal 40 bis 50 Stundenkilometer konnten damit erreicht werden.

Der entscheidende Vorteil war aber die Unabhängigkeit des Reisens und der unmittelbare Genuss der Landschaft – was beides mit der Eisenbahn nicht möglich war. Schon früh müssen sich geschäftstüchtige Leute gefunden haben, welche die Benzinversorgung entlang der von den Automobilisten bevorzugten Routen gesichert haben.

Das hat sich alles damals in raschem Tempo quasi von selbst entwickelt. Wir betrachten diese Strukturen heute als selbstverständlich, profitieren dabei immer noch von der Pionierarbeit unserer Altvorderen, welche damals den Aufstieg des Autos ermöglichten.

Daran will ich denken, wenn ich morgen selbst wieder für einige Tage gen Süden reise und wenn es dabei durch den Gotthard-Tunnel geht, dann ziehe ich meinen imaginären Hut vor diesen Wegbereitern des modernen Reisens.

Solange herrscht im Blog Sendepause. Vielleicht vertreiben Sie sich unterdessen die Zeit mit Recherchen zu Otto Julius Bierbaums Italientrip – dazu gibt es im Netz einiges…

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Stillgestanden! Ein Adler “Coupé de Ville” von 1908

“Stillgestanden” – den Befehl kennt jeder, der einst beim “Bund” gedient hat – schon in der Spätphase des Kalten Kriegs ein als Armee getarnter Beamtenladen, der zum Glück nie gebraucht wurde.

Unvergessen, wenn sich der Feldwebel – nebenbei der Kommandeur des “Marder”-Schützenpanzers, als dessen Richtschütze ich 1988/89 fungierte – vor mir mit rotem Kopf aufbaute und solange kalt musterte, bis ich mir das Grinsen nicht verkneifen konnte.

“Schlenger, eine Runde im Laufschritt um die Ringstraße!” konnte es dann schon einmal heißen. War mir egal, ich war fit wie bei den Panzergrenadieren üblich und lief vergnügt meine Ehrenrunde. Im Übrigen verstanden wir uns bestens, wenn es darauf ankam.

“Stillgestanden”, das galt auch außerhalb der Kasernenhöfe schon vor dem 1. Weltkrieg, nämlich wenn man sich für Mit- und Nachwelt ablichten lassen wollte. Das Fotomaterial war noch wenig empfindlich und verlangte Belichtungszeiten von einigen Sekunden.

So statisch diese Zeugnisse naturgemäß wirken, so sehr erfreuen wir uns nach weit über 100 Jahren noch daran. Ob das mit den meist rein digitalen Aufnahmen unserer Tage künftig ebenfalls so sein wird, daran darf man zweifeln.

Aber vielleicht wird es irgendwann ja wieder Visionäre wie einst Senator Cassiodor geben, der nach dem Ende des Weströmischen Reichs systematische Kopien bedeutender antiker Schriften in Auftrag gab. Seiner Initiative verdanken wir das weitgehende Überleben des damals schon arg geschrumpften Literaturbestands über das Mittelalter hinweg.

Jedenfalls steht auf den Fotos aus der Frühzeit des Automobils nicht nur das Personal stramm, sondern auch die Zeit still – und das beschert uns großartige Zeugnisse wie das hier:

Adler “Coupé de Ville” von 1908; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese Aufnahme verdanken wir Leser Klaas Dierks, der zusammen mit weiteren Gleichgesinnten solche Dokumente aus der automobilen “Antike” birgt und sie so vor dem Vergessen und Vergehen zu bewahren versucht – ein wenig wie einst Senator Cassiodor.

Stillgestanden”, diese Anweisung nahm auch der Fahrer dieses ungewöhnlichen Wagens sehr ernst – angestrengt schaut er in die Ferne, während die Fotoplatte belichtet wird.

Die doppelreihige, ein wenig an eine Uniform erinnernde Jacke, die Stulpenhandschuhe und die Schirmmütze weisen ihn als professionellen Fahrer aus. Zwar war er nur Angestellter vermögender Herrschaften, aber als Inhaber exklusiver Expertise sehr geschätzt.

Leider wissen wir gar nichts über den Mann und die Besitzer “seines” Wagens, zu dem er eine enge Beziehung pflegte. Vielsagend ist die Geste seiner linken Hand, mit welcher er das Auto berührt: “Mein Kamerad auf allen Wegen, durch dick und dünn“.

Dieses Band versteht nur, welcher selbst einmal erlebt hat, wie ein Automobil sorgfältige Behandlung und hingebungsvolle Pflege durch langjährige Treue entlohnt.

Genug der Sentimentalität – was ist das denn nun für ein Wagen? Nun zunächst handelt es sich um ein Fahrzeug, dessen Aufbau man seinerzeit als “Coupé de Ville” bezeichnete. Dabei saßen die Passagiere in einem zweisitzigen Aufbau, während der Fahrer vor ihnen im Freien seiner Arbeit nachging. So war das schon bei Kutschen über Jahrhunderte der Fall.

“Ja gut, das weiß ich auch”, mag jetzt eine ungeduldige Natur denken, aber was ist das für ein Fabrikat und Typ? Nun, das kann ich nur unter Vorbehalt sagen.

Klar ist für mich, dass wir einen frühen “Adler” des gleichnamigen Herstellers aus Frankfurt/Main vor uns haben. Das verrät die typische Gestaltung der Kühlerpartie:

Da hier die Motorhaube noch übergangslos auf die Trennwand zum Fahrerraum stößt, kann dieser Wagen kaum später als 1909 entstanden sein.

Ab 1910 setzte sich bei Fabrikaten im deutschen Sprachraum nämlich der “Windlauf” durch – ein Blech, das für einen strömungsgünstigen Übergang von der Haube zur (hier fehlenden) Windschutzscheibe sorgte.

Die Proportionen der Frontpartie sowie die Gestaltung von Kotflügeln und Rädern finden sich nahezu identisch auf folgender Abbildung, welche der Überlieferung nach einenm Adler 8/15 PS zeigt, wie er 1908/09 gebaut wurde:

Adler 8/15 PS Droschken-Coupé von 1908/09; Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Leider ist das die einzige mir bekannte Vergleichsabbildung eines solchen Adler des Typs 8/15 PS, denn für diese Marke, die einst zu den bedeutensten in Deutschland überhaupt zählte, gilt seit langem ebenfalls das Motto “Stillgestanden”.

Über 40 Jahre ist es her, dass Altmeister Werner Oswald den Versuch einer Gesamtschau aller je hergestellten Adler-Automobile unternahm (“Adler-Automobile, 1900-1945“, Motorbuch-Verlag, 1. Auflage 1981).

Seither steht meines Wissens nach die Zeit still in Sachen “Adler”-Dokumentation. Der in mancher Hinsicht so rührige Adler Motor-Veteranen-Club ist in der Hinsicht bislang ebenfalls untätig geblieben, obwohl es es dort Material ohne Ende geben muss.

So bleibt es am Ende bei der Vermutung, dass das exklusive “Coupé de Ville” auf dem Foto von Klaas Dierks 1908/09 auf Basis eines eher kleinen Adlers entstanden war, und dafür kommt vor allem der 2-litrige Vierzylindertyp 8/15 PS in Betracht.

Wer es genauer weiß, ist aufgerufen, das hier kundzutun und auf Vergleichsstücke zu verweisen. Denn so wenig mich die Gegenwart zu begeistern vermag, wünsche ich mir, dass zumindest in Sachen Adler-Veteranen die Zeit nicht länger stillsteht…

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