Klarer Aufstiegskandidat: Metallurgique Landaulet

Wer bei Aufstiegskandidaten reflexhaft an Fußball denkt, kommt heute leider nicht auf seine Kosten – den Kickerclub „Metallurgique Landaulet“ hat es nie gegeben.

Zudem liegt mir der Ballsport fern – ich habe darin nie sonderliche technische Fertigkeiten entwickelt.

Wenn es in der Schule oder danach auf den Bolzplatz ging, bestand mein Können darin, mehr Ausdauer als andere zu haben und Angreifern nicht von der Seite zu weichen, bis sie genervt den Ball abgaben.

Besonders lag mir der „Freistil“ – also vom Verteidiger zufällig selbst zum Angreifer zu werden und aus unmöglichen Situationen zu versuchen, einen Treffer zu erzielen. Denn den Ball gegen andere zu verteidigen, dazu fehlte mir die Technik.

Am besten gefiel mir das regellose Spiel im Bad Nauheimer Freibad mit US-GIs aus der Panzerkaserne im benachbarten Friedberg. Die Jungs aus den Staaten spielten so robust, wie sie das vom American Football kannten – bloß in Badehose und barfuß.

Das war genau mein Ding – nie habe ich mehr Spaß gehabt beim Fußball, als wenn man robust aufeinanderkracht und förmlich miteinander um den Ball ringt. Dabei ging es stets fair zu und an Verletzungen kann ich mich nicht erinnern.

So, das muss genügen, was die Fußball-Assoziationen angeht, die der Titel meines heutigen Blog-Eintrags wecken mag.

Wenn dort von Aufstieg die Rede ist, dann ist tatsächlich etwas ganz anderes gemeint – und der Kandidat dafür war alles andere als für den Sport gekleidet:

Metallurgique Landaulet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Natürlich erkennen langjährige Leser diese Kühlerpartie auf Anhieb – einen solchen Spitzkühler mit pyramidenhaft gestaltetem Wasserkasten besaßen die Wagen der einst berühmten belgischen Marke Metallurgique.

Und wer meine amateurhaften und höchst subjektiv gefärbten Ausflüge in die unerschöpfliche Wunderwelt der Vorkriegsautos erst seit kurzem verfolgt, wird von nun an für immer wissen, woran man einen Metallurgique erkennt:

Haben Sie sich das eingeprägt? – Oder schielen sie mit einem Auge heimlich auf das Smartophon, während ich Ihnen hier etwas beizubringen versuche? Also etwas mehr Konzentration, wenn ich bitten darf.

Ich komme sicher darauf zurück und dann will ich nicht wieder alles von vorne erklären müssen – Metallurgique-Fotos liegen jedenfalls noch etliche auf der Festplatte herum.

Interessant wird ausgerechnet diese belgische Marke unter den Dutzenden, welche das kleine, aber einst industriell hochbedeutende Land hervorgebracht hat – interessant also wird Metallurgique dadurch, dass die Wagen ab 1909 auch unter Lizenz in Berlin gebaut wurden.

Lizenznehmer war die Bergmann-Elektrizitätswerke AG – welche erkannte , dass die Zukunft nicht dem damals noch stark verbreiteten batterieelektrischen Auto gehört , sondern dem in allen Belangen überlegenen Verbrenner – ein zeitloses Thema, wie es scheint.

Man darf jedenfalls getrost davon ausgehen, dass Metallurgique-Fotos aus deutschen Landen meist einen solchen Bergmann-Metallurgique aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg zeigen.

Die ungewöhnlich anmutende Beziehung zu Deutschland hatte den Grund, dass die ersten Wagen der Marke von deutschen Konstrukteuren gebaut worden waren. Auch der markante Kühler war die Idee einer deutschen Firma gewesen.

Nun wird es aber höchste Zeit für den angekündigten Aufstieg und den Kandidaten dafür.

Letzterer war gewiss nicht der mit vornehmer Büroblässe ausgestattete Passagier im Heck dieses prächtigen Landaulets, sondern der gesünder wirkende Fahrer mit dem scharf geschnittenen Gesicht, der hier wie der wahre Herr der Situation dreinschaut:

Nun sehen wir auch, wie das mit dem Aufstieg gemeint war. Der bezog sich nämlich offenbar auf die Stufe hinter der Fahrertür, über welche der Chauffeur an das auf dem Dach angebrachte Gepäck gelangte.

Die Dachreling war im Stil der Zeit verspielt und dem Auge schmeichelnd gestaltet. Wer mit solchem Dekor ein Problem hat, ist schlicht zu bedauern – schöne Details wie diese sind Ausdruck davon, dass man die Sklavenstufe der blanken Notwendigkeit überwunden hat.

Überhaupt ist die Gestaltung des Aufbaus so atemberaubend opulent, wie das nach dem 1. Weltkrieg nie wieder der Fall sein sollte. Nicht umsonst markiert dieser die eigentliche Zäsur im 20. Jahrhundert und wurde von den Zeitgenossen entsprechend wahrgenommen.

Datieren würde ich das Fahrzeug anhand der Frontpartie mit der noch wie aufgesetzt wirkenden Windkappe zwischen Motorhaube und Frontscheibe auf 1910/11.

Wer nun meint, dass der Fahrer des Wagens ein armer Mensch gewesen sein muss, der sich auch noch als Gepäckträger seines Brötchengebers verdingen musste, liegt völlig daneben.

Ein Chauffeur war damals ein hochgeschätzter Könner seines Fachs, der nicht nur die enorme Komplexität der Automobile beherrschen, sondern auch über ausgezeichnete Manieren verfügen musste – damals wie heute nicht jedermann gegeben.

Ihm vertraute man Leib und Leben der ganzen Familie und den enormen Wert des Fahrzeugs ein, das im Fall eines Metallurgique mit einem derartig aufwendigen Aufbau den Gegenwert eines einfachen Hauses auf dem Land repräsentierte.

Über die Jahre meiner Beschäftigung mit tausenden solcher Fotos ist mir aufgefallen, dass die Fahrer solcher Chauffeurwagen fast immer sehr selbstbewusst wirken, ja oft sogar als die interessanteren und sympathischeren Charaktere erscheinen als die Besitzer.

Tatsächlich konnten sie in vielen Fällen einen bemerkenswerten Aufstieg absolvieren – nicht nur vom Fahrersitz auf das Dach des Wagens, auf dem Madames Hutschachtel lag, sondern in beruflich noch höherstehende Gefilde – als Besitzer einer Werkstatt, eines Autohauses oder eines florierenden Taxibetriebs beispielsweise.

In Zeiten, in denen allzuoft über den Verlust von vermeintlichen Privilegien und böse Wettbewerber gejammert wird, erinnern solche Beispiele einstiger Aufstiegskandidaten daran, dass man bei Bedarf mutig loslegen und dabei auch unkonventionelle Wege beschreiten muss, um Erfolg zu haben – die Altvorderen konnten das auch…

Wer sich einredet (oder einreden lässt), dass ihm die Voraussetzungen fehlen oder er die Regeln der Kunst nicht beherrscht und noch üben muss, dem wird nie der Aufstieg gelingen…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Der schiere Luxus: Ein Opel auf Reisen um 1909

Opel und Luxus – wie soll das zusammengehen? Nun, genau das werden wir heute sehen. Und wir bekommen auch wieder einmal vor Augen geführt, was für eine Errungenschaft das Auto für jedermann darstellt – auch wenn es „nur“ ein Opel ist.

Ob an die Nordsee, um die belebende Wirkung einer frischen Meeresbrise zu spüren und gedankenverloren in die Brandung zu schauen – ob in die Alpen, um sich über den Alltag zu erheben und angesichts der Erhabenheit der Natur Demut ob der eigenen Kleinheit zu empfinden – ob an die Biscaya, um den wahren Ozean zu sehen und sich hinaus über den Atlantik zu träumen – ob tief ins Baltikum hinein, um alte Kulturlandschaft zu erkunden und vielleicht Spuren der Vorfahren nachzugehen…

Das ist das Versprechen des Automobils und wir verfügen heute in der Hinsicht über Mittel, die einst nur einer winzigen Schicht zu Gebote standen. Das ist zugleich die Geschichte, welche die beiden Fotos erzählen, die ich Bart Buts aus Belgien verdanke.

Er ist leidenschaftlicher Opel-Enthusiast – wobei sein Interesse den frühen Modellen aus Rüsselsheim gilt, also bis etwa Mitte der 1920er Jahre. Er besitzt mehrere Opels jener Zeit, die intensiv genutzt werden und auch auf Deutschlands schönstem Oldtimer-Festival zu sehen waren – der Classic Gala in Schwetzingen.

Bart Buts hat zudem ein Archiv aus historischen Opel-Dokumenten und -Fotos, das seinesgleichen sucht – vermutlich den größten Fundus, was frühe Modelle angeht.

Hin und wieder tauschen wir uns über „neue“ alte Fotos aus und immer wieder wechseln dabei auch Originale den Besitzer – unengeltlich. Das ist wahre Oldtimer-Freundschaft.

Ich darf Material aus Barts Archiv präsentieren und heute mache ich gern Gebrauch davon, um das eingangs angerissene Thema zu illustrieren. Beginnen möchte ich hiermit:

Opel Tourenwagen um 1909; Originalfoto: Sammlung Bart Buts (Belgien)

Ist das nicht ein fantastisches Dokument? Wo sonst findet man so etwas? Zumindest nicht in der leider sehr überschaubaren Literatur zur Frühzeit der Rüsselsheimer Marke.

Ein früher Opel auf einer Fähre irgendwo im Mittelrheintal – jedenfalls ist das meine Interpretation angesichts der Weinberge und der Bahnstrecke im Hintergrund in Verbindung mit dem Kennzeichen, das eine Zulassung im Rheinland belegt.

Neben dem Fährmann auf der linken Seite sehen wir ganz rechts ein altertümlich wirkendes Paar im fortgeschrittenen Alter, das noch aus dem 19 Jh. stammt. Um 1850 hätten die beiden kaum anders ausgesehen und nun stehen sie neben dem Besitzer eines Automobils!

Opel Tourenwagen um 1909; Originalfoto: Sammlung Bart Buts (Belgien)

Dass der großgewachsene Herr mit Schirmmütze tatsächlich zu dem Opel gehört und wohl dessen Eigner war, das werde ich noch beweisen. Dabei werden wir auch den übrigen Insassen wieder begegnen.

Dieser Opel wurde nämlich ein weiteres Mal abgelichtet, aber an einem ganz anderen Ort.

Der Wagen, der anhand der Gestaltung von Kühler und Stirnwand auf „kurz vor 1910“ zu datieren ist, war zum Reisen bestimmt – so, wie wir das im 21. Jh von unseren Autos gewohnt sind, ohne dass wir uns noch des Luxus bewusst sind, den das einst darstellte.

Auf der zweiten Aufnahme sehen wir dasselbe Auto nun an einer Strandpromenade – das lässt jedenfalls der etwas größere Originalabzug erkennen:

Opel Tourenwagen um 1909; Originalfoto: Sammlung Bart Buts (Belgien)

Es handelt sich trotz kleiner Unterschiede wie anderen Scheinwerfer, dem fehlenden Emblem auf der Stirnwand hinter dem Motor und der demontierten Windschutzscheibe um denselben Wagen – das verrät das Kennzeichen.

Dieses Nummenschild mit laufender Nummer 12 allein sagt einiges über den schieren Luxus, welchen der Besitz eines solchen Opels darstellte. Die Kombination aus römisch „I“ und „Z“ stand für das gesamte Rheinland (einst „Rheinprovinz“).

Der Nummernkreis 1-150 war Aachen zugeordnet, sodass wir davon ausgehen dürfen, dass wir hier einen Opel mit ganz früher Zulassung in der von den Römern gegründeten und enorm geschichtsträchtigen Stadt an der Grenze zu Belgien und den Niederlanden sehen.

Eventuell wurde die Kennung „IZ-12“ bereits einige Jahre vor der Entstehung des Opels erstmals in Aachen vergeben – vielleicht bereits an dessen späteren Besitzer. Diesen sehen wir nun am Steuer, während der Chauffeur auf die Beifahrerseite gewechselt hat.

Leider sind die übrigen Insassen nur schemenhaft wiedergegeben – dafür bekommen wir hier eine Vorstellung des nun volbesetzten Wagens mit drei Sitzreihen. Eine genaue Typansprache will ich nicht versuchen, würde aber ein kleines Modell ausschließen.

Dann kommen Motorisierungen zwischen 25 und 50 PS in Frage, wie sie um 1909 verfügbar waren. Das war eine Größenordnung, in der man ohne großen Schaltaufwand auch Steigungen vollbesetzt bewältigen konnte.

Man vergleiche das mit den Leistungsdaten von Opels der 1930er oder auch 50er Jahre. Rein zahlenmäßig hatte sich nicht viel getan, doch auf einmal gelangten solche fernreisetauglichen Automobile in die Reichweite immer größerer Kreise.

Der schiere Luxus von einst wurde allmählich zum quasi-demokratischen Recht der Masse.

Achten wir darauf, dass wir uns das nicht wieder von Kräften nehmen lassen, die unter Vorwänden dem Automobil für jedermann einen Riegel vorschieben und die allgemeine Bewegungsfreiheit wieder zu einem Privileg weniger Betuchter machen wollen…

Auch das kann die aktuelle Botschaft solcher alten Fotos sein, welche die oft bestürzenden Kontraste von einst zeigen, welche wir dank der Technik überwunden haben.

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Zylinderzuwachs bei Hansa: Ein HAG von 1906/07

Ungeachtet der Rückwärtsgewandheit der meisten meiner Interessen – die schon auch einmal einige Jahrtausende zurückreichen können – begebe ich mich in meinem Blog eher selten in die automobile Frühzeit.

Das liegt ganz gewiss nicht an mangelnder Zuneigung zu den ersten Motorwagen, welche den Weg für unsere heutige Mobilität ebneten. Nebenbei: wie alle wirklich bahnbrechenden Erfindungen war das Auto ganz und gar dem freien Markt zu verdanken.

Mit dem Abstand von weit über einem Jahrhundert und aus der Perspektive einer heillos überregulierten und von Planwirtschaft in die Irre geleiteten Ökonomie ist es faszinierend zu sehen, wie sich einst wie von Geisterhand die Kräfte von Technikern, Kapitalgebern und Vertriebsleuten koordinierten, um unseren Vorfahren eine neue Welt bis dato unbekannter Bewegungsfreiheit zu eröffnen.

So beschlossen anno 1905 zwei fortschrittlich und unternehmerisch denkende Herren im Oldenburgischen namens Allmers und Sporkhorst Automobile zu bauen – dazu wurde die Hansa Automobil-Gesellschaft gegründet.

Es ist nicht überliefert, dass sie dafür eine staatliche Stelle um irgendeine Form der Unterstützung baten oder sich für ihr Vorhaben in besonderer Weise rechtfertigen mussten. Sie taten es einfach, weil sie einen Absatzmarkt sahen und es sich zutrauten, trotz des Kapitalrisikos erfolgreich zu sein.

Tatsächlich präsentierte die Hansa Automobil-Gesellschaft – kurz HAG – schon ein Jahr später das erste fertigkonstruierte Fahrzeug – den HAG 7/9 PS. Wie viele der damals neu beginnenden deutschen Hersteller nahm man sich französische Wagen zum Vorbild, welche seinerzeit in den wichtigsten Belangen führend waren.

Dazu gehörte typischerweise, dass man als neuer Anbieter erst einmal bewährte Motortypen aus Frankreich zukaufte. Wohl am häufigsten waren das Aggregate von DeDion-Bouton – so auch im Fall des ersten Hansa, der als HAG 7/9 PS firmierte.

Ein solcher Wagen mit DeDion-Einzylinder-Motor ist in Halwart Schraders Klassiker „Deutsche Autos 1885-1920“ auf Seite 186 abgebildet – als offener Zweisitzer und anhand des „HAG“-Schriftzugs auf dem Kühlernetz klar als solcher ausgewiesen.

Der Zufall wollte es, dass mir Leser Klaas Dierks kürzlich ein Foto aus seiner Sammlung in digitaler Kopie zusandte, das auf den ersten Blick glatt denselben Wagen zeigen könnte:

HAG von 1906/07; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Die Perspektive, der Aufbau als Zweisitzer, das geöffnete Verdeck, die Zahl der Insassen und auch Details wie die Gestaltung der Kotflügel stimmen vollkommen überein.

Es war um die Mittagszeit, als mich dieses schöne Dokument erreichte. Wie meist in solchen Fällen ließ ich mich gern dadurch von der Arbeit abhalten, wenn auch nur kurz.

Ich war schnell der Überzeugung, dass es sich um den gleichen Typ handeln müssen, bloß das Kennzeichen unterscheide die beiden Wagen.

Die Gestaltung der Kotflügel – noch nicht in das Trittbrett übergehend, sondern weiter nach unten reichend genügte mir als Datierungshinweis – das fand sich ab 1908 bei deutschen Wagen kaum noch.

Mit der Bestimmung des Baujahrs 1906/07 lag ich wohl richtig, aber eines hatte ich in der Eile übersehen, worauf mich Klaas Dierks mit seinem Blick fürs Detail hinwies: Kühler und Haube bei seinem „HAG“ sind höher und: auf der Haubenoberseite sieht man eine der Abführung der Motorwärme dienende zusätzliche Klappe:

Daraufhin warf ich nochmals einen Blick in die Literatur: Tatsächlich wurden neben dem einzlindrigen HAG 7/9 PS frühzeitig auch eine stärkere Zweizylinderversion mit 10 PS Spitzenleistung angeboten, außerdem ein von Fafnir zugekaufter Vierzylinder mit 12 PS.

Da der Fafnir-Motor angeblich bereits 1907 durch einen von Hansa selbst gebauten Motor mit 14 PS abgelöst wurde, kommt man nicht umhin, bei diesem frühen Exemplar bereits einen nicht unwesentlichen Zuwachs an Zylindern und Hubraum zu vermuten.

Mangels Vergleichsdokumenten muss vorerst offen bleiben, was sich unter der Haube des HAG auf dem Foto von Klaas Dierks verbarg.

Mit Genugtung festhalten dürfen wir aber zumindest, dass diese Aufnahme ein Novum darstellt und nun an erster Stelle meiner „Hansa“-Galerie steht – kein schlechtes Ergebnis gemeinsamer Altauto-Archäologie, meine ich…

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Zeugen des Umbruchs anno 1910: Stoewer G4 und LT4

Nach dem angeblichen „Ende der Geschichte“ – eine am Ende des Kalten Kriegs verkündete These, über die ich schon als damals Zwanzigjähriger schmunzeln musste, stellen wir seit einigen Jahren fest, dass sich die Welt erneut im rapiden Umbruch befindet.

Im „Westen“ scheinen die liberalen Ideale in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht auf dem Rückzug zu sein – ein sich für alles zuständig fühlender Staat ist auf dem Vormarsch einhergehend mit zunehmend planwirtschaftlichen Tendenzen.

Gleichzeitig akzeptieren immer mehr aufstrebende Länder die westliche Vormachtstellung in ideeller wie ökonomischer Hinsicht nicht länger. Es ist unerheblich, wie man das wertet und ob man die Akteure etwa in Asien mit Kategorien des 20. Jh. versucht zu charakterisieren.

Es gibt kein Zurück in die heile Welt des Westens der 1980/90er Jahre, die Geschichte schreitet immer voran und den Aufstieg wie den Untergang von Mächten hält niemand auf. Wir sind aktuell Zeugen, wie sich die Welt neu ordnet.

Warum sollte es uns auch anders ergehen als unseren Vorfahren? Dass vordergründig nichts bleibt, wie es ist, dass lässt sich schon in der Frühzeit des Automobils besichtigen.

Das Tempo der Umwälzungen war damals atemberaubend. Fünf Jahre entsprachen in der Vorkriegszeit bereits einer ganzen Autogeneration, was dazu beitrug, dass eben noch moderne Fahrzeuge wenig später heillos veraltet waren und vom Markt verschwanden.

Ein besonderes Jahr war in dieser Hinsicht 1910 – jedenfalls was Automobile im deutschsprachigen Raum angeht. Denn praktisch von einem Jahr auf das andere setzte sich in der Gestaltung eine dem Sport entlehnte Neuerung durch – der Windlauf.

Wem der Begriff noch nicht geläufig ist, der wird ihn am Ende der heutigen Betrachtung verinnerlicht haben. Doch zunächst gehen wir zurück ins Jahr 1909. Damals sah ein Wagen der renommierten Marke Stoewer aus Stettin noch so aus:

Stoewer Tourenwagen, wohl Typ G4; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Diese schöne Momentaufnahme entstand einst irgendwo im Baltikum, soviel ist überliefert. Deutsche Firmen hatten damals dank uralter Handelsverbindungen im Ostseeraum eine Präsenz in der Region, wie sie in der Nachkriegszeit wohl nie wieder erreicht wurde.

Stoewer hatte mit seiner günstigen Lage an der Ostsee besonders gute Voraussetzungen und exportierte seine Wagen nach Skandinavien und Russland, aber eben auch ins Baltikum mit seinem faszinierenden Nebeneinander an regionalen Kulturen.

Der Tourer auf dem Foto von Leser Klaas Dierks dürfte ein Exemplar des Typs G4 gewesen sein, der von 1908 bis 1910 gebaut wurde und einen 1,6 Liter-Motor mit 12 PS (später 15 PS) besaß.

Gegen die Ansprache als zeitgleichen, aber stärkeren 2,5-Liter-Typ PK4 sprechen trotz übereinstimmender Kühlerpartie mehrere Details. Dazu zählt die Gestaltung der Radnaben, vor allem aber der kurze Radstand (2,50 m im Vergleich zu 2,80 m).

Auch wenn es nicht einfach ist, die Größenverhältnisse aus einer solchen Perspektive abzuschätzen, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass der Radstand dieses Wagens 2,80 Meter betragen haben soll. Die 2,50 Meter des G4 finde ich realistischer.

Wichtiger ist ohnehin etwas anderes: Auf dieser Aufnahme trifft die Motorhaube noch rechtwinklig auf die Stirnwand, welche zugleich die Abtrennung zum „Innenraum“ darstellt. Auf besagter Stirnwand ragte vor 1910 steil die Windschutzscheibe auf.

Hier ist zwar das Unterteil nach hinten geneigt, was für ein gewisse Lenkung des Luftstroms bzw. einen Staubschutz für Fahrer und Beifahrer sorgt. Doch das musste eigens so eingestellt werden, war also noch kein fixes Element des Aufbaus.

Das änderte sich wie gesagt anno 1910 schlagartig.

Inspiriert von entsprechenden Bauteilen bei Sportwagen, die dort ab 1908 Anwendung fanden, verbauten die Hersteller im deutschsprachigen Raum erstmals einen „Windlauf“, auch Windkappe genannt.

Was damit gemeint ist, lässt sich an diesem Wagen nachvollziehen:

Stoewer Tourenwagen, wohl Typ LT4 von 1910; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Zu verdanken haben wir diese Aufnahme Leser Matthias Schmidt aus Dresden. Sie kann es nicht nur von der Qualität und Erhaltung mit dem Foto aufnehmen, das Klaas Dierks beigesteuert hat. Sie illustriert auch präzise den Modellwechsel bei Stoewer anno 1910!

Wer genau hinschaut, erkennt den neu eingeführten Windlauf in Form einer aufwärtsweisenden Blechpartie zwischen Motorhaube und Frontscheibe – hier noch mit einem Höhenversatz, der bereits 1912 meist verschwunden war.

Abweichend stellen sich auch die vorderen Rahmenenden dar – sie sind jetzt stärker nach unten gekröpft und wirken auch kräftiger in der Ausführung.

Das findet sich genau so beim 1910 eingeführten Nachfolger des Stoewer G4 – dem Typ LT4. Er besaß ebenfalls einen 1,6 Liter-Motor, der nunmehr 20 PS leistete.

Festzuhalten ist außerdem eine Art Innenkotflügel in Form eines zusätzlichen Blechs, das die Fahrzeugfront gegen Verschmutzung durch die Vorderräder schützt.

Der ab 1911 gebaute Stoewer B1 – der Nachfolger des LT4 – besaß dieses Detail ebenfalls. Doch die noch wie nachträglich aufgesetzt wirkende Windkappe des Wagens auf dem Foto von Matthias Schmidt spricht für die frühe Datierung auf 1910 und somit für den nur in jenem Jahr gebauten LT4.

Was bleibt von dieser Betrachtung außer der Erkennntnis, dass alles im Fluss ist und wir uns mit den unabänderlichen Umbrüchen in unseren Tagen abfinden müssen?

Nun, zwei Dinge: Zum einen kann man sich heute nach Belieben mit den Dingen und Phänomenen der Vergangenheit befassen und darin versenken, wie vielleicht noch in keiner Epoche zuvor. Unsere Welt besteht also nicht nur aus dem Hier und Jetzt, sondern wird auch durch alle die faszinierenden Dinge bereichert, die Menschen einst geschaffen haben.

Zum anderen ist es erstaunlich, wie vieles es gibt, das sich über die Zeiten erhalten hat und uns mit der Welt von gestern verbindet. Das gilt für eine Violine ebenso wie für das Beil, mit dem man sein Feuerholz zurichtet, das gilt für die Krawatte, die man sich zu einem bestimmten Anlass immer noch bindet, wie für den Reiz von Damenschuhen mit Absatz.

Und wenn Sie einmal bewusst um ihr Auto herumgehen, dann finden Sie da immer noch „Kotflügel“, obwohl es längst keine Pferdeäpfel mehr auf den Straßen mehr gibt, es gibt auch immer noch Handschuhfach und Hutablage.

Sogar der heute thematisierte Windlauf begleitet uns heute noch durch’s automobile Dasein. Es ist die unscheinbare Blechpartie zwischen dem hinteren Abschluss der Motorhaube und der Windschutzscheibe.

Erstaunlich, nicht wahr? Und wenn Sie mal wieder den Eindruck haben, dass Sie die Welt nicht mehr begreifen, weil alles so rasant im Wandel ist, dann suchen Sie Zuflucht in meinem Blog – hier steht die Zeit nämlich still in Form fotografisch eingefrorener Momente.

Im übrigen sei an den paradoxen Ausspruch des Fürsten von Lampedusa im sizilianischen Roman „Gattopardo“ erinnert: „Alles muss sich ändern, damit die Dinge so bleiben, wie sie sind.“ Begrüßen wir bei aller Begeisterung für die automobile Vergangenheit auch die Gegenwart und Zukunft – was auch Neues entsteht, trägt doch immer auch bekannte Züge…

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Gruß aus Carlsbad: Ein Panhard&Levassor von 1908/09

Kennen Sie Karlsbad in Böhmen? Wenn nicht, wird es höchste Zeit – der einst mondäne Badeort, der seit 1945 zu Tschechien gehört und seither Karlovy Vary heißt, ist immer noch eine Perle – wunderbar erhalten und mit viel Verstand und Liebe konserviert.

Man ist dort immer noch auch auf deutschsprachige Besucher eingestellt und man bekommt schnell den Eindruck, in einer Zeitmaschine in die Belle Epoque zurücktransportiert worden zu sein.

Sollten Sie es so bald nicht nach Karlsbad schaffen, so kann ich Ihnen heute zumindest eine kostenlose Schnuppertour nach „Carlsbad“ bieten.

So schrieb man den Ortsnamen jedenfalls im Jahr 1909, als eine Französin diese Postkarte an eine Freundin sandte, die im Küstenort Trestaou in der Bretagne wohnte:

Panhard & Levassor von 1908/09; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

„Wie gefällt Ihnen mein neues Auto? Es ist komfortabel und gut für die Reise geeignet“ – so schrieb die Dame in französischer Sprache auf der Rückseite.

Nun wissen wir, dass einst solche Aufnahmen von Automobilen gern als Postkarte versandt wurden, um augenzwinkernd zu suggerieren, dass es sich um den eigenen Wagen handelt – was freilich meist nicht der Fall war.

Das gilt besonders für die Frühzeit, als jede Benzinkutsche einen in monatelanger Manufakturarbeit entstandenen Luxusgegenstand darstellte, für dessen Gegenwert man auch ein einfaches Haus bekam.

Dabei wollte nicht nur die reine Arbeitszeit der hochspezialisierten Handwerker bezahlt sein, sondern auch die Investitionen in spezielle Maschinen und Werkzeuge, Fabrikgebäude und Energieversorgung, außerdem die Angestellten für die Verwaltung. Und natürlich wollten die Kapitalgeber eine dem hohen unternehmerischen Risiko angemessene Rendite sehen.

Wer sich am Ende ein reisetaugliches Automobil mit Fahrer leisten konnte, der musste daher vor dem 1. Weltkrieg zu den oberen Zehntausend gehören, das ging nicht anders.

Was bringt mich nun auf die Idee, dass die Absenderin dieser Postkarte tatsächlich selbst zu diesem exklusiven Kreis gehörte? Nun, die Tatsache, dass darauf auch ein französisches Fahrzeug abgebildet war, welches in Böhmen damals sicher nicht alltäglich war.

So konnte ich dieses Exemplar anhand der Kühlerpartie als gehobenes Modell der Firma Panhard&Levassor identifizieren:

Zugegeben, man muss einige frühe Wagen dieses einst hochbedeutenden Herstellers gesehen haben, um die Kühlerpartie auf Anhieb der Marke zuordnen zu können.

Langjährige Leser meines Blogs sind dabei in der komfortablen Lage, an meinem eigenen Erkenntniszuwachs quasi in Echtzeit teilhaben zu können.

Denn vor längerer Zeit habe ich hier dieses in jeder Hinsicht grandiose Foto eines Panhard von ca. 1908 vorgestellt:

Panhard & Levassor von 1908/09; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme, welche auch in der Literatur ihresgleichen sucht, verschafft einem einen denkbar klare Vorstellung vom Erscheinungsbild eines Panhard&Levassor jener Zeit.

Ich muss wirklich nicht eigens beschreiben, worin die Übereinstimmungen zwischen den beiden Fahrzeugen bestehen, das sehen Sie selbst. Nur ein Panhard besaß eine solche Kühlerpartie.

Im Fall des Fotos aus Karlsbad liefert das Datum der Postkarte – August 1909 – einen Hinweis auf die spätestmögliche Entstehung des dort abgebildeten Wagens. Ich würde ihn anhand einiger Details auf 1908/09 datieren.

Hilfreich ist dabei der Besitz des Standardwerks zur Marke Panhard von Bernard Vermeylen (Panhard & Levassor entre Tradition et Modernité).

Das Werk ist natürlich in französischer Sprache verfasst – aber herrje, wenn man die Handhabung komplexer elektronischer Gerätschaften mit hunderte Seiten umfassenden Anleitungen lernen kann, dann kann man sich zur Abwechslung wenigstens Lesekompetenz in einer eher einfachen europäischen Fremdsprache aneignen.

Andere Sprachen sind der Schlüssel zum Denken und Fühlen, dem Werteverständnis und Weltbild anderer Völker – es lohnt sich, auch einmal Zeit darin zu investieren.

Wenn man nach Karlsbad fährt, kommt man natürlich auch mit Deutsch durch. Aber warum nicht die Gelegenheit nutzen, sich zumindest ein paar tschechische Höflichkeitsformeln anzueignen, bevor man gleich mit der teutonischen Tür ins Haus fällt?

Die „Carlsbader“, welche vor über 100 Jahren Gäste aus aller Welt beherbergten, bemühten sich schließlich auch darum, diesen das Leben sprachlich möglichst leicht zu machen.

Bei der Gelegenheit: Ich kann mich noch an einen Aufenthalt in Karlsbad vor rund 25 Jahren erinnern – ich besitze sogar ein versilbertes Tablett des „Hotel Bristol“ mit Aufschrift „Carlsbad“, das ich dort damals in einem Antiquitätengeschäft gekauft habe.

Aber ich weiß nicht mehr genau, wo in Karlsbad diese schöne Aufnahme entstanden ist – vielleicht kann es einer von Ihnen aus dem Ärmel schütteln, verehrte Leser:

Panhard & Levassor von 1908/09; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nachtrag: Die Aufnahme entstand vor der Kulisse des monumentalen „Kaiserbads“, welches sich heute noch genau so darbietet.

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Spurensuche: Beckmann-Automobile (1908)

Mein gemeinsam mit Beckmann-Urenkel Christian Börner begonnenes Porträt der einstmals angesehenen Breslauer Automarke findet eine durchaus solide Resonanz bei den Lesern meines Blogs.

Das ist keineswegs selbstverständlich bei einem vordergründig so entlegenen Thema, das einen noch dazu in eine Zeit zurückführt, die mit unserer Welt des 21. Jahrhunderts nur wenig gemeinsam hat.

Nebenbei sei bemerkt, dass sich immerhin drei Phänomene über die letzten mehr als 100 Jahre als Konstante erwiesen haben: allgemein verfügbare Elektrizität, individuelle Motorisierung und schnelle internationale Kommunikation.

Beim letzten Punkt mögen Sie jetzt stutzen – doch tatsächlich: Schon das Telegramm ermöglichte um 1900 eine – wenn auch teure und limitierte – weltweite rapide Textübermittlung, wie wir sie heute mit E-Mail oder anderen Diensten praktizieren. Nur für die Bildübertragung war man noch auf die Zeitung und damit Eisenbahn und Postdampfer angewiesen.

Was das Automobil betrifft, hat der Fortschritt natürlich wahre Wunder gewirkt. In punkto Fahrwerk, Verbrauch, Sicherheit und Komfort ist das moderne Automobil von seinen Urahnen so entfernt wie eine Boeing 767 von den ersten Wright-Flugapparaten:

Aber: das Versprechen des Automobils – nämlich den Besitzer aus eigenem Antrieb und nach eigenem Gusto an beinahe jeden Ort des Planeten zu transportieren – das wurde schon in der Zeit eingelöst, in der wir heute zurückreisen, nämlich 1908.

Sie werden überrascht sein, wohin uns die heutige Spurensuche in Sachen Beckmann dabei führen wird, das kann ich schon jetzt sagen.

Nun hat aber erst einmal Christian Börner das Wort, dem ich das Material und die Inspiration zu diesem Parforceritt durch die Beckmann-Historie verdanke, deren gründliche Aufarbeitung er sich zur Aufgabe gemacht hat:

„Auf geht’s – in das Jahr 1908, das für Beckmann bereits im Vorjahr begann. So präsentierten die Hersteller ihre 1908er Modelle nämlich schon im Dezember 1907 auf der Automobilausstellung in Berlin. Beckmann stellte dort gleich sechs Autos aus.

Erwartbar waren natürlich die bereits bewährten Vierzylindertypen, welche mit unterschiedlichen Aufbauten zu bestaunen waren. Doch wahrhaft Furore machte der neue Sechszylindertyp mit beeindruckenden 50 PS Leistung.“

Leser Wolfgang Spitzbarth (übrigens Betreiber der Website zu den Konstruktionen von Karl Slevogt) hat einen passenden Auszug aus „Der Motorfahrer“ von Ende 1907 beigesteuert:

Beckmann-Vier- und Sechszylinder des Modelljahrs 1908; aus: Der Motorfahrer, Nr. 48-1907; via Wolfgang Spitzbarth

Noch mehr hat mir Christian Börner zur Verfügung gestellt – und zwar einen Auszug der Besprechung des Beckmann-Sechszylinders in der „Allgemeine Automobil-Zeitung“ im Dezember 1907:

Als Clou des Standes können wir das in jeder Beziehung den weitreichendsten Ansprüchen Rechnung tragende 50 PS Sechszylinder-Chassis ansprechen, die Type, mit welcher die Firma die nächstjährigen Konkurrenzen bestreiten dürfte und welche wir als geradezu idealen Wagen des fashionablen Sportmannes bezeichnen können. Kenner und Fachleute werden gewiss nicht verfehlen, dieser neuesten Errungenschaft unserer heimischen Industrie Bewunderung zu zollen. Es ist hier, vom Guten das Beste zusammengenommen, etwas vollkommen Erstklassiges geschaffen worden.“

Herrlich, nicht wahr? So berechtigt die Begeisterung ob des mächtigen Sechszylinder-Beckmann auch war, beschleicht einen doch der Verdacht, dass sich hier ein damals wie heute in prekären Verhältnissen lebender „Pressebengel“ mit einem kleinen Schmiergeld zu solchen Lobeshymnen hat motivieren lassen.

Zwar waren Sechszylinderautos in deutschen Landen damals rar, doch mit dem Protos 26/50 PS gab es ab 1908 einen Konkurrenten – und das aus bestem Berliner Hause.

Der „fashionable Sportsmann“ war daher nicht unbedingt auf einen Beckmann angewiesen, wenn ihm der Sinn nach einem 100-Kilometer-Wagen mit 6-Zylinder-Laufkultur stand.

Wie wir gleich sehen, wurden Beckmann-Autos tasächlich eher für ihre unbedingte Zuverlässigkeit und Sparsamkeit in der soliden Vierzylinder-Klasse geschätzt.

So weiß Christian Börner zu berichten:

„Das Beckmann’sche Geschäft mit Droschken/Taxis lief im wahrsten Sinne des Wortes wie geschmiert. Die Beckmann Automobil-Vertriebs-Gesellschaft m.b.H. in Berlin-Wilmersdorf betrieb sogar einen eigenen großen Droschken-Fuhrpark.

Alleine im Jahr 1908 wurden 50 Stück aus Breslau dorthin geliefert. Beckmann-Droschken wurde bevorzugt mit 7/12 PS Zweizylinder- oder 10/14 PS Vierzylindermotoren georderte. Sie galten im Taxi-Gewerbe als sparsam und unverwüstlich. „

Hier haben wir eine hübsche Parade solcher Beckmann-Droschken, bei denen der Fahrer fast ausnahmslos außen saß – wie über Jahrhunderte bei Kutschen üblich:

Bckmann Droschken in Berlin; Originalabbildung via Christian Börner

Was in der Reichshauptstadt – damals neben London und Paris „die“ Kultur- und Industriemetropole in Europa – offensichtlich Erfolg hatte, konnte andernorts nicht unbemerkt bleiben.

Interessant und merkwürdig zugleich ist, dass die Automobile von Beckmann nicht unerhebliche Spuren in Dänemark, Schweden und Norwegen hinterlassen haben.

Man hätte aufgrund der geografischen Lage Breslaus vielleicht eher eine stärkere Präsenz in Osteuropa erwartet. Doch wie ich aus meiner eigenen Familiengeschichte weiß, war das engste Band der schlesischen Städte damals dasjenige an Berlin.

Offenbar wurde in Skandinavien genau registriert, was seinerzeit in Berlin angesagt war, jedenfalls in Sachen Automobil. Das erklärt, warum wir uns gleich warm anziehen müssen.

Doch keine Sorge, wir machen zum Akklimatisieren erst einmal einen Ausflug ins schöne Dänemark, wo angeblich mit die glücklichsten Menschen leben.

Ich glaube das sofort, auch wenn ich noch nicht dort war, denn ich habe noch nie etwas Gegenteiliges gehört. Wer so etwas Geniales wie das Romo Motor Festival veranstaltet, muss mit sich (und der Welt des Verbrennungsmotors) vollkommen im Reinen sein.

Wo waren wir? Im Jahr 1908, natürlich! Bevor ich weiter abschweife, übernimmt Christian Börner in bewährter Weise.

„Anno 1908 lief der erste Beckmann in Dänemark als Taxi, und zwar in Kopenhagen. Es war ein 7-sitziger 10/14 PS-Phaeton mit einer Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h. Anfang 1913 wurde dieser Wagen nach langem Gebrauch in den hohen Norden Norwegens verkauft und dorthin verschifft, denn das Straßennetz reichte bei weitem nicht bis ans Ziel. Käufer dieses Gebrauchtwagens war nämlich ein Fahrrad-Produzent, der seine Manufaktur in der Provinz Nord-Trøndelag auf der Insel Andøya in der Region Vesterålen hatte.“

Ich muss zugeben, dass mir das nichts sagte. Zwar war mein Paderborner Großonkel Ferdinand neben seiner Italien-Passion zeitlebens ein großer Norwegen-Reisender – noch heute höre ich ihn geheimnisvoll „Norrrwegen“ mit gerolltem „r“ sagen – doch die skandinavische Geografie ist mir zeitlebens fremd geblieben.

So habe ich erst von Christian Börner gelernt, dass die Insel Andøya sagenhafte 350 km nördlich des Polarkreises liegt. Dorthin hatte es also diesen 1908er Beckmann verschlagen, der offenbar an einem sonnigen Tag aufgenommen worden war (im Hochsommer klettern die Temperaturen dort auf über 13 Grad):

Beckmann Typ 10/14 PS von 1908 in Norwegen; Foto aus Bestand Rune Aschim/Norwegen

Wenn man der Überlieferung glauben kann, war dieser Beckmann „das erste Auto in Nord-Norwegen überhaupt und dürfte auf der Insel wenig Auslauf gehabt haben.“

So Christian Börner im O-Ton. Nun fragt man sich, was aus diesem Wagen geworden ist oder ob es noch andere Zeugnisse solcher Beckmann-Veteranen in Skandinavien gibt.

Ich sage ganz offen, dass ich nicht die geringste Ahnung habe. Denn ich habe mit Christian Börner vereinbart, dass er uns nur peu a peu verrät, was er bisher über die Automobile herausgefunden hat, welche einst seine Vorfahren im schlesischen Breslau fertigten, wo er kurz vor Kriegsende auf die Welt kam.

Liebe Leser, nun müssen wir uns bis Mitte Januar gedulden, bevor wir Neues aus dem alten Europa erfahren, in dem einst auch die Wagen von Beckmann ihren Besitzern eine Mobilität selbst unter widrigsten Bedingungen ermöglichten, welche bis dato selbst Kaisern und Königen nicht zu Gebote gestanden hatte.

Welche ungeheure Zäsur im Leben der Leute die Ankunft der ersten Motorkutschen gewesen sein muss, das ersehen wir schon daraus, dass einst jeder – wirklich jeder – damit für Mitwelt und Nachwelt festgehalten werden wollte.

Was könnte das schöner illustrieren als diese für heute (und 2023) letzte Aufnahme eines Beckmann – genau des10/14 PS-Typs von 1908, der einst nach Norwegen gelangte?

Beckmann Typ 10/14 PS von 1908 in Norwegen; Foto aus Bestand Rune Aschim/Norwegen

Damit sagen Christian Börner und ich für’s Erste „Auf Wiedersehen“, was die Beckmann-Automobile angeht.

Im Neuen Jahr geht unsere Spurensuche weiter und wie immer sind alle Leser eingeladen, etwaige Beckmann-Dokumente aus ihren Sammlungen zu diesem Projekt beizusteuern, so wie das diesmal dankenswerterweise Wolfgang Spitzbarth getan hat.

Bis zum Jahreswechsel setze ich indessen im Hinblick auf andere Vorkriegsmarken meine Mission (so sagt man heute, wenn man etwas mit Leidenschaft tut) fort – ich habe noch einiges vor, bevor wir 2023 adieu sagen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.   

Eine große Verwirrung: Horch 8/24 PS um 1912

„Eine große Verwirrung…“ das mag manchen an den verdatterten Prediger in der Filmsatire „Leben des Brian“ erinnern, der die selbsternannten Verkündiger vorgeblicher Glaubenswahrheiten und ihre Anhänger als lächerliche Figuren gnadenlos vorführt.

Wem dieser britische Anarchohumor nicht subtil genug oder gar anstößig ist, der mag es vielleicht mit Franz Kafkas († 1924) zeitloser Erzählung Die Abweisung halten.

Auch sie handelt von der großen Verwirrung der Leute – diesmal wenn es darum geht, der weltlichen Obrigkeit in Form eines Steuereinnehmers die eigenen Belange vorzutragen.

Die nötige innere Sammlung zu einer selbstbewussten Rede will dem Vertreter der Bürgerschaft dort einfach nicht gelingen, zu verwirrend ist die Präsenz des selbstherrlichen Beamten und der ihn begleitenden Uniformierten:

Mit dem „allerdemütigsten Lächeln, das sich vergeblich anstrengte, auch nur einen leichten Widerschein auf dem Gesicht des Obersten hervorzurufen… formulierte er die Bitte um Steuerbefreiung für ein Jahr, vielleicht auch noch um billigeres Holz aus den Wäldern. Dann verbeugte er sich tief und blieb in der Verbeugung.

Hübsch, nicht? Und wie so oft bei Meister Kafka bleibt man am Ende in einiger Verwirrung zurück – was war das eigentlich, was er da so merkwürdig präzis geschildert hat? Erlebtes, Geträumtes, vielleicht eine Vision der Verhältnisse 100 Jahre später?

Das muss jeder für sich entscheiden, welchen Reim er sich aus solcher literarisch meisterhaft bewirkten Verwirrung macht. Für ebensolche sorgt indessen auch ganz ohne künstlerische Ambitionen das Foto, das ich heute präsentieren möchte:

Horch 8/24 PS um 1912; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Schon bei Erwerb der Aufnahme war mir klar, dass diese einen Tourenwagen der sächsischen Marke Horch aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg zeigt.

Verflixt, wie kann der Kerl das so einfach erkennen – das mögen Sie jetzt vielleicht denken.

Nun, nach Betrachung einiger tausend solcher Fotos von Autos vorwiegend deutscher Provenienz sammelt sich auch ohne Talent im Kopf zwangsläufig ein Kompendium solcher Abbildungen an, an denen jede neue Aufnahme in Millisekunden abgeglichen wird.

Im vorliegenden Fall genügt für diese Musterkennung, für welche „Künstliche Intelligenz“ gigantische Rechenleistung und hochkomplexe Algorithmen benötigt, die Übereinstimmung von genau zwei Elementen:

Das eine sind die schrägstehenden Luftschlitze in der Motorhaube, die es zwar auch bei anderen Herstellern wie etwa Opel gab, aber bei Horch besonders stark geneigt sind (vgl. meine Horch-Fotogalerie:

Das zweite Element ist das Kühleremblem. Davon ist auf den ersten Blick zwar kaum etwas zu erkennen, aber warten Sie einen Moment.

Schneller als jede Künstliche Intelligenz anhand von unzähligen Beispielen mühsam lernt, Übereinstimmungen zuverlässig zu erkennen, kann ich subito das nötige Wissen vermitteln.

Das tue ich anhand einer einzelnen Aufnahme aus meinem Fundus, die noch dazu einen Horch aus völlig anderer Perspektive zeigt:

Horch 6/18 PS oder 8/24 PS um 1912; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieser Wagen trägt vorn das Horch-Emblem, wie es etwa ab 1910 bis einschließlich 1912 auf flachem Kühler Verwendung fand. Ab 1913 wich dieser einem Schnabelkühler (also mit vorkragendem Oberteil).

Jetzt sehen Sie sich nochmals die Kühlerpartie des eingangs gezeigten Horch an – sicher sehen Sie dort nun ebenfalls genau dieses Markenemblem.

Können Sie mir folgen, oder habe ich bereits für große Verwirrung gesorgt? Falls nicht, folgt diese auf dem Fuße und ich muss zugeben, dass ich ihr selbst zum Opfer gefallen bin.

Bevor ich bekenne, was mich so nachhaltig verwirrt an diesem Horch, dass mir die Worte fehlen (eine eher seltene Situation), sei noch festgehalten, dass die Proportionen dieses Wagens auf einen Horch der untere MIttelklasse hindeuten.

Sehr wahrscheinlich haben wir es mit dem Typ 9/24 PS zu tun, der 1911 eingeführt wurde und einen konventionellen 2-Liter-Vierzylindermotor besaß. Ein gewisse Neuerung stellte bei Einführung die Druckumlaufschmierung dar.

Die besaß auch das Schwestermodell 6/18 PS, das äußerlich kaum zu unterscheiden war. Doch der große Tourenwagenaufbau und die höhere Stückzahl (ca. 900 vs. 200) machen den 8/24 PS zum wahrscheinlicheren Kandidaten.

Für die heutige Betrachtung sind solche Fragen aber zweitrangig, denn für weit größere Verwirrung sorgt hier etwas ganz anderes:

Erkennen Sie, was ich meine? Oder sind Sie noch nicht verwirrt genug? Sieht doch alles ganz normal aus, könnte einer denken.

Vorne gasbetriebene Scheinwerfer, Holzspeichenräder mit demontierbaren Felgen (und Reifen) – ein dazu passendes Reserverad (also nicht nur der Reifen), dahinter die außenliegenden Hebel für Gangschaltung und Handbremse.

In Reichweite des Fahrers befindet sich außerdem eine Ballhupe, die Frontscheibe ist oben ausklappbar und kann außerdem geneigt werden. Was soll da für große Verwirrung sorgen?

Na, dann schauen wir uns doch einmal an, was sich da sonst noch an Gerätschaften findet:

Keine Probleme bereiten die in das Windlaufblech zwischen Motohaube und Windschutzscheibe halb eingelassenen elektrischen Standlichter.

Doch was ist das für ein zylinderförmiges Rohr neben der Ballhupe? Für die Zeitung sicher zu klein und als Behälter für die Fahrzeugpapiere vielleicht etwas ungünstig angebracht.

Um die Verwirrung noch zu vergrößern, möchte ich außerdem auf die kuriose Rohrleitung verweisen, die vom Armaturenbrett aus zunächst nach oben steigt und dann rechtwinklig nach vorne abknickt um schließlich wieder abzutauchen, dabei immer breiter werdend.

Ich habe eine Vermutung, um was es sich bei diesen ominösen Anbauteilen handelt, doch möchte ich meine möglicherweise unbegründete Interpretation für mich behalten.

Daher sind jetzt Sie an der Reihe, liebe Leser. Und ganz gleich wie groß die Verwirrung sein mag, in meinem Blog sind alle gleichberechtigt, ihre Sicht der Dinge vorzutragen.

Wenn ich hier mit meinen tagebuchartigen Gedanken in Vorlage trete (ein Blog ist genau das: ein Online-Diarium, englisch: Web-Log), dann setze ich diese der Prüfung durch eine beeindruckende Zahl an Kennern und Sammlerfreunden aus, die hier mitlesen.

Also nur zu: Lässt sich die Verwirrung auflösen, die sich bei Betrachtung dieses Fotos eines Horch 8/24 PS von ca. 1912 einstellt? Oder bleibt es letztlich bei der Akzeptanz des Gegebenen wie in Franz Kafkas Erzählung „Die Abweisung“?

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Lichtblick gefällig? Sunbeam 16-20 hp Double Phaeton

An diesem Wochenende wird in Mitteleuropa die Uhr zurückgestellt – irgendwie passend für eine Region, die generell auf dem absteigenden Ast zu sein scheint.

In meiner Tätigkeit als Finanzübersetzer fällt mir das auf spezielle Weise auf: Waren vor 25 Jahren noch viele deutsche Unternehmen bei internationalen Aktienanlegern gefragt, sind sie in den Portfolios global ausgerichteter Investoren zunehmend unterbelichtet – sofern sie dort überhaupt noch vertreten sind.

Deutsche Großbanken inzwischen ebenso zurückgefallen wie heimische Universitäten, von denen längst keine mehr Weltrang erreicht. Auch bei Kennziffern für Wettbewerbsfähigkeit und Korruption ist ein besorgniserregender Abwärtstrend ablesbar.

Zur Korrektur dieser düsteren Lage bräuchte es einen Befreiungsschlag, wie ihn nach dem 2. Weltkrieg Wirtschaftsminister Ludwig Erhard wagte, als er mit der Aufhebung staatlicher Preiskontrollen in Deutschland die phänomenalen Kräfte der Marktwirtschaft entfesselte.

Fatalerweise zeigen die Signale weiterhin in die falsche Richtung und dann steht uns auch noch die dunkle Jahreszeit bevor! Da ist man für jeden Lichtblick dankbar, meine ich.

Den liefert uns heute Leser Klaas Dierks mit einem Fotodokument aus seinem Fundus, das im wahrsten Sinne des Wortes die Sonne aufgehen lässt – denn so eine großartige Aufnahme vertreibt zuverlässig alle Trübsal:

Sunbeam 16-20 hp von 1909/10; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Gewiss, von Sonnenlicht durchflutet ist die Szenerie nicht gerade. Es mag ein bedeckter, doch recht heller Tag gewesen sein, als sie vor über 100 Jahren auf eine Fotoplatte gebannt wurde.

Das Mauerwerk des Hauses, die Form der Dachziegel und der Kiesweg entlang eines sorgfältig gestutzten Rasens lassen einen an England denken, wo die Sonne übrigens öfters lacht, als es das alberne Klischee der ewig Regenschirm tragenden Nation will.

Ich gebe zu, dass ich erst mit Hilfe meiner Facebook-Gruppe für Vorkriegswagen den Hersteller und Typ dieses großzügig wirkenden Tourenwagens ermitteln konnte.

Passenderweise handelt es sich um einen „Sunbeam“, der erste seiner Art in meinem Blog und ein wahrlich willkommener Lichtblick. Denn mir ist wichtig, hierzulande kaum bekannte Fabrikate vorzustellen, damit den Kennern nicht langweilig wird.

Bevor wir uns an den Details dieses Fotos erbauen, möchte ich zur Einordnung eine Reklame zeigen, die genau solch einen Sunbeam zeigt, der Ende 1909 eingeführt wurde:

Sunbeam-Reklame aus: The Autocar, November 1909, Quelle: Grace’s Guide

Demnach sah der Sunbeam des Typs 16-20 hp so aus wie der Wagen auf dem heute präsentierten Foto.

Speziell die Form des Vorderkotflügels und die „getreppte „Anordnung des Aufbaus mit getrennten Abteilen für Fahrer und Passagiere stimmen bis ins Detail überein.

Wer das auf der obigen Reklame nur schwer nachvollziehen kann, wird mit der folgenden Aufnahme zufriedener sein. Hier ist zwar der Vorderkotflügel etwas anders ausgeführt, doch der übrige Aufbau ist identisch mit dem des Wagens auf Klaas Dierks‘ Foto:

Sunbeam 16-20 hp von 1910; Quelle: Autovercity

Man mag jetzt kleine Abweichungen beanstanden wie das fehlende seitliche Lederpolster im Fahrerabteil oder den fehlenden Spritzschutz zwischen Trittbrett und Chassisrahmen.

Aber ich bitte Sie: Mehr Übereinstimmung ist bei einem solchen Manufakturwagen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg nicht zu erwarten.

Also mäkeln wir nicht herum, sondern genießen wir, was uns dieser „Sunbeam“ an Einblicken gewährt:

Man sieht hier sehr schön, wie sich der mehrsitzige Tourenwagen aus der Verdoppelung des ursprünglich für zwei Personen reservierten „Phaeton“-Aufbaus entwickelt hat.

Der Fahrer sitzt erkennbar in einer äußerlich noch separierten „Wanne“, an welche eine weitere für die rückwärtigen Passagiere gesetzt wurde. Das hatte auch mit der „Arbeitsteilung“ zu tun, denn anfänglich fuhren die meisten Autobesitzer noch mit Chauffeur.

Vorne wurde gelenkt, geschaltet, gebremst und das Verkehrsgeschehen im Blick behalten – die Brötchengeber im Fonds genossen unterdessen die Fahrt, waren ins Gespräch vertieft oder grüßten huldvoll das Fußvolk, sofern sie es nicht ignorierten.

Haben Sie übrigens bemerkt, dass hier weder Schalt- noch Bremshebel zu sehen sind, wie sie noch bis in die 1920er Jahre meist rechts vom Fahrer außerhalb der Karosserie angebracht waren? Offenbar war dies ein frühes Beispiel für eine Anbringung im Innenraum.

Zeittypisch verfügt der 1909/10 gebaute Sunbeam noch über kein strömungsgünstiges Windlaufblech zwischen Motorhaube und Frontscheibe. Bei britischen und französischen Wagen wurde dieses Detail auch erst später Standard als bei deutschen Serienautos, die ab 1910 fast ausnahmslos mit dieser im Sport erprobten Lösung ausgestattet wurden.

Wenn die beiden Damen im Heck des Wagens wenig enthusiastisch erscheinen bzw. uns ganz ignorieren, ist zu bedenken, dass eine solche Aufnahme damals je nach Helligkeitsverhältnissen mehrere Sekunden Belichtungszeit erfordern konnte.

So lange halten nur professionelle Schauspieler ein Lächeln durch. Also seien wir gnädig mit den Insassen des hinteren Abteils dieses Sunbeam „Double Phaeton“:

Immerhin ist auch dieser Ausschnitt ein erfreulicher Lichtblick, finde ich. Denn er zeigt uns die Haarpracht der beiden Ladies ganz von opulenten Hüten befreit, wie sie damals in der Öffentlichkeit üblich waren.

Dass es sich um eine intime Situation auf einem Privatgrundstück handelt, das belegt nicht zuletzt der wackere Wachhund, der sich zufrieden mit sich selbst und der Welt in seinem vertrauten Zuständigkeitsbereich zeigt.

Das außerordentliche Talent von Haushunden, in solchen Momenten eine perfekte Pose einzunehmen, ist mir schon oft aufgefallen – man könnte Bildbände füllen mit solchen Fotos:

Letztlich erkennen wir uns in unseren vierbeinigen Begleitern selbst zum erheblichen Teil wider – das ist keine Einbildung. sondern unserer engen Verwandschaft geschuldet. Auch von daher verdienen Haustiere unsere Sympathie. Die Freundschaft mit ihnen ist eine Konstante im menschlichen Dasein seit unserer Sesshaftwerdung.

Auch sie sind ein Lichtblick in einem Dasein, das genügend Anlass zu düsteren Gedanken gibt und in dem es vielen versagt bleibt, ein materiell sorgenfreies Leben zu führen wie die Eigner des großartigen Sunbeam vor über 100 Jahren.

Das ist ein weiterer Gedanke, der sich bei der Betrachtung früher Autofotos einstellt. Individuelle Mobilität ist eines der großen Geschenke menschlichen Erfindungsgeist an den Menschen – sie sollte jedermann zugänglich sein und bleiben.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Wirklich alles gut bedacht? Ein „Piccolo“ 5/6 PS

Ende Oktober – wechselhaftes Wetter wie immer um diese Zeit. Gegen Mittag recht mild und trocken, da bietet sich nach getaner Schreibtischarbeit ein Gang in den Garten an, dachte ich. Der mächtige alte Maronenbaum wirft nämlich beängstigende Mengen Laub ab.

Ein kurzer Blick zum Himmel, dort zeigen sich die ersten Kraniche in V-Formation auf dem Weg in südliche Gefilde, damit ist immer eine Empfindung von Abschied für mich verbunden.

Zwei Stunden später fällt die geplante Schicht im Garten ins Wasser und bis abends bleibt es regnerisch. Gut bedacht zeigt sich da der ehemals gläserne kleine Wintergarten am östlichen Ende des Hauses. Noch vor Einsetzen der Schlechtwetterperiode erhielt er ein Dach in Ziegelrot passend zu den alten Tonziegeln des gut 120 Jahre alten Fachwerkbaus.

Eine hübsch anzuschauende Regentonne ist jetzt an das Fallrohr angeschlossen. Doch hatte ich nicht bedacht, welche Mengen Wasser trotz der kleinen Fläche herunterkommen. Jetzt ist das Teil kurz vor dem Überlaufen, und ich weiß kaum wohin mit dem Inhalt. Denn der Garten ist seit Wochen tief durchfeuchtet.

So ist das in der hessischen Wetterau – wir haben oft meist warme trockene Sommer, doch der Wasserhaushalt kommt in der kühlen Jahreshälfte stets wieder ins Lot.

Die Wetteraussichten um diese Zeit ließen es auch schon vor 120 Jahren angeraten erscheinen, sich auf teils ergiebige Regenfälle einzustellen. Da stand man dumm da, wenn man beim Kauf seines ersten Automobils am Zubehör gespart hatte wie hier:

„Piccolo“ 5-6 PS; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Tatsächlich war ein Dach bei diesem leichten Zweisitzer aufpreispflichtig. Gebaut wurde er ab 1904 unter dem Namen „Piccolo“ von der Firma Ruppe & Sohn im thüringischen Apolda.

Das vom Chassis her noch der Kutschentradition entstammende Gefährt besaß einen vorn montierten luftgekühlten 2-Zylinder (V-Anordnung), der aus 800ccm Hubraum 5-6 PS leistete.

Speziell für Landärzte war das ein ideales Einstiegsautomobil, sie verdienten auch gerade genug, um sich so eine teure Maschine leisten zu können. Für die breite Masse war auch nur der Gedanke an irgendein motorisiertes Gefährt völlig abwegig.

Das hatte man bei Ruppe & Sohn wohl nicht gut bedacht, als man den „Piccolo“ in Reklamen vollmundig als Volksauto anpries. Dennoch scheint der Absatz bis Produktionsende 1907 recht ansehnlich gewesen zu sein, da man immer wieder auf Fotos davon stößt.

Die wohl umfangreichste Kollektion an zeitgenössischen Fotos, Werbung und Presseartikeln zum „Piccolo“ hat Wolfgang Spitzbarth auf seiner hochinformativen Website zum deutschen Automobilkonstrukteur Karl Slevogt zusammengetragen.

Unter der Rubrik „Ruppe, MAF“ findet man dort reichhaltiges Material und viele Erläuterungen zum Piccolo, weshalb ich interessierte Leser ausdrücklich darauf verweise.

Mir geht es bekanntlich ohnehin eher um eine spielerische, meist sehr subjektive Auseinandersetzung mit den Autos aus der Vorkriegszeit sowie den Menschen, in deren Leben sie eine Rolle spielten – daher das Format als Online-Tagebuch (Web-Log, kurz: Blog).

Wichtiger als Konstruktionsdetails und Fahreigenschaften ist mir oft das Erscheinungsbild oder auch die Aufnahmesituation. Dabei gilt es auch, ein einmal gewähltes Thema durchzuhalten – heute geht es um Variationen von „Alles gut bedacht“.

Im Unterschied zu dem Herrn auf dem ersten Foto hat es der Besitzer dieses „Piccolo“ besser gemacht und tatsächlich auch die Eventualität von Regenwetter bedacht:

„Piccolo“ 5-6 PS; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Wohl als Praktiker mit zwei- oder vierbeinigen Patienten im Umland, die bei jedem Wetter seine Hilfe brauchen können, hat er sich nicht nur für das Klappverdeck entschieden, sondern auch einen ledernen Beinschutz geordert.

Dieser hielt Nässe und Kälte ab, denn eine Heizung besaß damals noch kein Auto – das tauchte meines Wissens erst ab den frühen 1920er Jahren als Zubehör auf. Erwähnenswert ist auch der Spritzschutz am vorderen Ende der Kotflügel, selten zu sehen beim „Piccolo“.

So gesehen hat dieser „Piccolista“ wirklich alles gut bedacht, was den Einsatz bei Wind und Wetter angeht. Dank recht großen Gasscheinwerfer waren sogar nächtliche Fahrten möglich. Schön nebenbei, dass hier das Töchterchen mit aufgenommen wurde.

Nur eines konnte dem Fahrer gegebenenfalls dazwischenfunken und das war ein Defekt am Motor, speziell an der damals allgemein noch anfälligen Zündanlage. Hatte der Hersteller ansonsten alles gut bedacht bei diesem Wagen?

Ich möchte hier Zweifel äußern. Ein luftgekühlter Motor mit frei im Fahrtwind stehenden einzelnen Zylindern sollte thermisch stabil sein, wenn er korrekt konstruiert ist, meint der Motorradfahrer in mir.

Warum aber setzte man beim „Piccolo“ einen zusätzlichen Lüfter in einem runden Gehäuse vor das Aggregat?

Sollte diese über den Motor und einen Riemen angetriebene Vorrichtung ein thermisches Defizit ausgleichen? Und konnte sie das überhaupt wirksam oder störte sie möglicherweise sogar den kühlenden Luftstrom durch ihre Platzierung vor den Zylindern?

Bar jeder Fachkenntnis würde ich vermuten, dass eine zusätzliche Kühlung der nicht im Fahrtwind liegenden Zylinderhälften wichtiger gewesen wäre, sofern diese zu heiß werden drohten. Dann hätte sich aber eine andere Lösung mit Luftleitblechen angeboten.

Mir scheint, dass der Zusatzlüfter nicht gut bedacht war, vielleicht brachte er gar nichts oder war sogar eher abträglich. Dass man die Strömungseffekte irgendwie gemessen oder gar berechnet hat, möchte ich bezweifeln.

Im damaligen Automobilbau war längst noch nicht alles mit Bedacht wohlersonnen, sondern vieles basierte auf Bauchgefühl und Erfahrung. Im Fall von Ruppe & Sohn wurde vermutlich erst mit dem Antritt des brillianten Ingenieurs Karl Slevogt wirklich auf rationaler Grundlage konstruiert und nach Möglichkeit alles gut bedacht.

Die Apollo-Wagen waren das Ergebnis dieses neuen Kapitels bei Ruppe & Sohn.

Das ist aber eine andere, sehr umfangreiche Geschichte, die Sie am besten auf Wolfgang Spitzbarths Website studieren können, auch wenn ich hier ab und zu Apollo huldige…

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Eine Frau will nach oben: Renault um 1911

Vielleicht haben Sie schon einmal von „gläsernern Decken“ gehört – eingebildeten (und daher unsichtbaren) Hindernissen, welche Frauen im 21. Jh. in unseren Gefilden davon abhalten, in hohe und gut bezahlte Positionen zu gelangen.

Böse Zungen behaupten, dass diese These bereits durch auffallend oft qualifikationsloses Politpersonal widerlegt wird. Aber dass wäre ja unvorstellbar, da doch schon bei einfachen Jobs hohe Anforderungen zu erfüllen sind, oder?

Bleiben wir bei den Verhältnissen in der freien Wirtschaft bzw. dem, was davon übrig ist. Niemand, wirklich niemand, der alle Sinne beisammen hat und es will, wird durch irgendwen oder irgendetwas davon abgehalten, Top-Qualifikationen in gefragten Berufsfeldern zu erlangen und einen Karriereweg bis in die obersten Etagen zu absolvieren.

Die Damen, welche dennoch anderes behaupten und sich von bösen Männern in patriarchalisch geführten Firmen kleingehalten sehen, können ja schlicht ihren eigenen Laden aufmachen und dort endlich Geschlechtergerechtigkeit praktizieren. Sicher wären dann die Chefetagen in der Autoindustrie oder der IT-Branche ganz anders besetzt, oder?

Damit wir uns recht verstehen: Tatsächlich meinte der Gesetzgeber hierzulande früher, mit absurden Vorschriften Frauen schon den Einstieg ins Berufsleben möglichst schwerzumachen. So mussten bis in die Nachkriegszeit verheiratete Frauen in Deutschland vor Aufnahme einer Berufstätigkeit eine Genehmigung des Ehemanns vorlegen.

Dass sich ein übergriffiger Staat in die persönliche Wahlfreiheit einmischt, ist also wahrlich nichts Neues – immerhin sind wenigstens diese Hürden später restlos abgebaut worden.

Zu Beginn meiner Berufstätigkeit im Finanzsektor zu Beginn der 1990er Jahre waren jedenfalls ehrgeizigen und fähigen Frauen längst keine Grenzen außer denen gesetzt, die sich selbst auferlegten.

Geht man weiter in die Vergangenheit zurück, waren die Verhältnisse grundlegend andere.

Bis zum 1. Weltkrieg war der Haushalt noch die Domäne der Weiblichkeit, weil irgendjemand diesen anspruchsvollen Job machen musste und die Männer dafür die körperlich noch fordernderen und oft hochriskanten übrigen Tätigkeiten übernahmen.

So äußerten viele Damen damals zwar den berechtigten Wunsch, ebenfalls das Wahlrecht zu erhalten – doch dass sie auch Zugang zu den „privilegierten“ Männer-Arbeitsplätzen auf Segelschiffen oder Lokomotiven, im Bergbau oder in Stahlwerken, im Baugewerbe oder Chemiefabriken wünschten, ist nicht überliefert.

Man sieht: Nicht jede Ungleichverteilung in einer Gesellschaft war und ist zwanghaft als Ergebnis boshafter „Diskriminierung“ zu werten.

Wie konnte aber eine Frau trotz aller Zwänge kurz nach der Jahrhundertwende nach oben gelangen? Nun, der einfachste Weg bestand darin, eine gute Partie zu machen.

Eine gute Partie auf’s Land erforderte nicht gleich den Gang zum Traualtar, sondern ließ sich damals bei den oberen Zehntausend bereits mit dem Automobil absovieren:

Renault Chauffeurlimousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Die Damen kommen einem hier nicht sonderlich durch das Patriarchat beeinträchtigt vor, auch wenn sie sicher keinen Franc zum Haushaltseinkommen beitrugen – von einer eventuell opulenten Mitgift abgesehen.

Gut gefällt mir hier zweierlei: Zum einen die galante Geste des Herrn mit Zylinder, zum anderen die lässige und durchaus selbstbewusste Haltung des Herrn über die Zylinder, welche sich unter der Haube dieses Wagens verbargen:

Dieser junge Mann war „nur“ der Chauffeur der Familie, aber zugleich hochgeschätzt für sein Können, weshalb er hier wie selbstverständlich mitposiert.

Betrieb und Wartung eines solchen frühen Automobils erforderten große Kompetenz und äußerste Disziplin – gute Umgangsformen waren weitere Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein weit über dem Durchschnitt abhängig Beschäftigter liegendes Salär winkte.

Was aber war das für ein Fahrzeug, dessen Aufbau man als Chauffeur-Limousine oder auch Außenlenker bezeichnen würde?

Den einzigen Hinweis liefert die eigentümliche Gestaltung der Motorhaube, welche erkennen lässt, dass dieser Wagen keinen Kühler an der Front, sondern hinter dem Antriebsaggregat besaß.

Diese Anordnung und die daraus resultierende Formgebung war Anfang des 20. Jh typisch für Renault-Wagen, wurde aber auch zeitweilig von etlichen anderen Herstellern übernommen – darunter der weitgehend vergessenen deutschen Marke Komnick.

Ein Detail lässt mich annehmen, dass wir es tatsächlich mit einem Renault zu tun haben. Dazu werfen Sie bitte noch einmal einen Blick auf die Radnabe auf dem vorherigen Foto und prägen sich deren Gestaltung ein.

Nicht immer, aber oft war diese Partie markentypisch ausgeführt – im Idealfall war der Herstellername auf der Nabenkappe eingeprägt. Das ist hier zwar nicht der Fall, doch der Vergleich mit dem Renault auf folgendem Foto macht die Sache klarer:

Renault Landaulet um 1911; Bildquelle: „Renault – L’Empire de Billancourt“, J. Borgé und N. Viasnoff, 1977, S. 94

Diese Aufnahme stammt aus dem Standardwerk von Borgé/Viasnoff zu Renault-Automobilen – nicht mehr ganz taufrisch, aber etwas Besseres liegt mir nicht vor.

Der dort abgebildete Renault – mit Aufbau als Landaulet – weist nicht nur dieselbe Gestaltung von Haube und Rädern auf, sondern besitzt auch bereits eine Art „Schwellerblech“ bzw. einen ledernen Schutz zwischen Trittbrett und Chassisrahmen.

Das findet man erst bei Renaults ab etwa 1910/11, was einen ungefähren Datierungshinweis liefert. Die frühen Wagen der Marke sind nicht leicht nach Entstehungszeitpunkt und Motorisierung zu unterscheiden.

Uns interessiert heute ohnehin etwas anderes: Wie kam damals eine Dame der feinen Gesellschaft entgegen allen Hindernissen leichtfüßig nach oben?

Das verrät uns ein kleines Detail auf folgendem Bildausschnitt:

Welches Detail ich meine, das wird spätestens bei Betrachtung der zweiten Aufnahme desselben Renaults klar, die mich bereits seit längerem fasziniert.

Der Abzug ist im Original von hervorragender Qualität – ich habe ihn bloß etwas zu grob aufgelöst eingescannt. Jedenfalls ist es ein beeindruckendes Dokument, auf dem uns zumindest eine Person bereits bekannt – der sympathisch wirkende Chauffeur.

Daneben finden sich zwei hervorragend gekleidete Herren, die hier auf vorzügliche Weise posieren und sich zu inszenieren wussten.

In den Schatten gestellt werden sie indessen von einer imposanten Dame, welche es hier tatsächlich nach oben geschafft hat, was angesichts ihrer Kleidung gewiss einiges Geschick und vielleicht etwas Förderung durch einen ihr zugetanen Herren erforderte:

Renault Chauffeurlimousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Na, was meinen Sie? Dieses Frauenzimmer wirkt nicht gerade wie ein Mauerblümchen, das unbeachtet am Wegesrande sein bescheidenes Dasein fristet.

Nein, diese Dame strahlt eine enorme Selbstsicherheit aus, die auf eine herausgehobene gesellschaftliche Position schließen lässt. Vielleicht war sie eine vermögende Witwe, welche in Wahrheit die Sponsorin dieses Ausflugs und Besitzerin des Wagens war.

Auf jeden Fall macht sie nicht den Eindruck, dass sie den beiden Herren in irgendeiner Form untergeordnet gewesen wäre – was hätte sie wohl zu den angeblichen Hindernissen gesagt, die ihre Geschlechtsgenossinen über 100 Jahre später auf dem Weg nach oben aufhalten?

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Bote einer neuen Zeit: Opel Tourer von 1910

Ich bin ein wenig in Eile heute abend – eigentlich wollte ich dem Blog wieder mehr Zeit widmen. An Material und Ideen mangelt es wahrlich nicht.

Doch dann sah ich in der Dämmerung den Igel, der seit letztem Jahr im Garten lebt, wie er sich auf Nahrungssuche auf die Straße hinaus gewagt hatte. Schnell ein Kehrblech hervorgeholt, den stachligen Kerl draufgehoben und zurück dorthin gebracht, wo er schon im letzten Herbst mit Futter für den Winter versorgt wurde.

Es brauchte eine Weile, bis er Mut fasste und sich auf das Angebot einließ. Anschließend scheint er wieder in den Garten zurückgekehrt zu sein, wo reichlich altes Laub unter dem prächtigen Maronenbaum Unterschlupf bietet.

Nun hoffe ich, dass ich wieder allabendlich am Klappern der Schalen vor der Tür zum Garten erkenne, dass es sich der Igel schmecken lässt. Auch wenn es heute noch einmal spätsommerlich mild war, steht doch unweigerlich die kalte Jahreszeit bevor.

So kam mir der Igel heute wie der Bote einer neuen Zeit vor, die nicht gerade zu meinen Favoriten gehört – von mir aus kann es das ganze Jahr über warm und sonnig sein.

Doch kann der Anbruch einer neuen Zeit auch seine Reize haben, jedenfalls wenn sich diese so behutsam andeutet wie auf dem alten Autofoto, das ich heute präsentiere:

Opel Chauffeurlimousine ab 1910; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ziemlich beeindruckend und beinahe ein wenig unheimlich erscheint das antike Automobil hier, während es von acht Personen umlagert ist, die teils noch wie aus dem 19. Jh wirken.

Tatsächlich hatten die Porträtierten auf der linken Seite den überwiegenden Teil ihres Lebens noch im 19. Jahrhundert zugebracht, als diese Aufnahme entstand.

Vor allem für sie, die noch das Kutschenzeitalter erlebt hatten, war dieses Fahrzeug Bote einer neuen Zeit. Doch auch den jüngeren drei Personen rechts davon muss das Auto ziemlich modern vorgekommen sein.

Der Grund dafür ist auf der Aufnahme sehr gut zu erkennen:

Die Gestaltung des Kühlers und die Form des Markenemblems sind typisch für Opel-Automobile vor dem 1. Weltkrieg, welche damals das gesamte Spektrum vom leichten Doktorwagen bis zur starken Limousine wie hier abdeckten.

Das Fahrzeug war dem Kennzeichen nach zu urteilen in Waiblingen bei Stuttgart zugelassen und war dort sicher eines der ersten Automobile überhaupt. Noch 1912 reichte der Nummernkreis in Waiblingen gerade einmal von 301 bis 400 (Quelle: Andreas Herzfeld, Handbuch Deutsche Kfz-Kennzeichen, Band 1, S. 117).

Bote einer neuen Zeit war dieser Opel auch deshalb, weil er mit dem 1910 bei deutschen Serienwagen eingeführten „Windlauf“ ausgestattet war – ein dem Sport entliehenes strömungsgünstiges Blech, das von der Motorhaube zur Windschutzscheibe überleitete.

Hier wirkt besagter Windlauf noch wie nachträglich aufgesetzt und so mag es sich tatsächlich verhalten haben, sofern der Besitzer des Wagens diesen ebenfalls als Bote einer neuen Zeit erscheinen lassen wollte.

In die Zukunft weist auch das Erscheinungsbild der beiden Damen rechts von dem Opel, die für die Zeit vor 1914 bemerkenswert leger wirken. Im Halbschatten neben ihnen ist der Chauffeur zu erkennen – damals noch Vertreter einer hoch angesehenen Zunft, der jedoch nach dem 1. Weltkrieg keine große Zukunft mehr beschieden war.

So mahnt uns diese Aufnahme daran, dass nichts bleibt, wie es ist – außer den Dingen, an denen wir entschlossen festhalten, weil wir ohne sie nicht sein wollen.

Tatsächlich müssen wir nicht jeden Boten der Moderne unterschiedslos willkommen heißen, auch wenn der Zeitgeist anderes behauptet. Wir sollten uns schon darüber im Klaren sein, wo wir klare Grenzen ziehen müssen, um uns und unsere mühsam und unter Opfern erarbeiteten Werte nicht selbst zu verlieren.

Im dem heute vorgestellten Foto wirft die ungeheure Zäsur des 1. Weltkrieg bereits ihre Schatten voraus – die darauf versammelten Personen hätten sicher gern auf die große Transformation verzichtet, welche den Völkern Europas danach verordnet wurde…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Spurensuche: Beckmann-Wagen (Folge 3: Wieder 1903)

Heute geht es weiter auf der im Juli begonnenen Suche nach Spuren der einst im schlesischen Breslau beheimateten Automarke Beckmann. In der letzten Folge waren wir bereits bei den ersten selbstkonstruierten Wagen mit bis zu 30 PS Leistung angelangt.

Eigentlich müssten wir das nächste Kapitel ab 1905 aufschlagen, in dem die Beckmann-Wagen immer mehr an Format gewannen.

Doch bei der Beschäftigung mit Vorkriegswagen muss man es im 21. Jahrhundert nicht eilig haben – die Epoche liegt bereits so weit zurück, dass man sich die eine oder andere Abweichung von der Chronologie leisten kann, wenn sich der Anlass dazu ergibt.

Nur zu gern lasse ich mich von der öden geraden Linie der Geschichtschreibung ablenken, vor allem dann, wenn ein Beinahe-Zeitzeuge und Nachkomme eines einstigen Autofabrikanten mich mit reizvollem Material versorgt.

Die Rede ist von Christian Börner, Urenkel des Gründers der Beckmann-Autowerke.

Er hat mir nicht nur das Material zu den beiden bisherigen Folgen dieser Spurensuche zur Verfügung gestellt. Ihm verdanke ich auch eine bemerkenswerte Rückblende in das Jahr 1903, in deren Mittelpunkt – unter anderem – ein Beckmann-Auto steht.

Heute soll Christian Börner selbst zu Worte kommen und zwar anhand dieses Fotos:

Beckmann-Wagen von 1903; Originalfoto aus Familienbesitz (Christian Börner)

„Wer sind diese drei Kinder? Welches Fahrzeugmodell ist das? Wann und wo ist das Foto entstanden?“ Das mögen Sie jetzt fragen.

Mein Name ist Christian Börner, und ich will es Ihnen erzählen.

Zunächst zu den Fahrzeuginsassen, oder eher Fahrzeug“auf“sassen: Das sind die drei Kinder des Fabrikbesitzers Paul Beckmann, meines Urgroßvaters.

Am Lenker sitzt etwas arrogant Otto (Jg. 1894), als wüsste er, dass er einst die Nachfolge seines Vaters antreten würde. Das war zwei Jahre nach dessen Tod im Jahr 1914 der Fall, als Otto volljährig und uneingeschränkt geschäftsfähig wurde. 

In der Mitte hat die 1896 geborene Erna Platz genommen, meine Großmutter. Sie schaut wenig begeistert drein, sie mochte das Autofahren ihr Leben lang nicht.

Anders verhielt es sich mit ihrer Schwester Ilse (Jg. 1898), die vis-a-vis sitzt und sich uns zuwendet. Man sieht es ihr noch nicht an, aber sie sollte später als Sportfahrerin auf Beckmann Karriere machen.

Was lässt sich zu der abgebildeten Voiturette sagen?

Nun, es handelt sich um die seitlich offene Version (Beckmann-Modell XIV), deren Produktion 1901 begann und 1903 endete. Aber ich kann es noch genauer sagen. Hier sehen wir die erste Version mit senkrechter Lenksäule und Hebel. Denn ab 1902 gab es eine schrägstehende Lenksäule mit Lenkrad.

Diese Aufnahme stammt von 1903 und zählt zu den drei Fotos, welche die Frauen meiner Familie bei ihrer Flucht aus Breslau im Januar 1945 als einziges „Erbe“ retten konnten.

Meine schon erwähnte Großmutter und ihre Tochter Ursula hatten wichtigeres Fluchtgepäck mitzuschleppen und vor dem Erfrieren zu bewahren – den ein halbes Jahr alten Enkel Christian. Ihnen ist es zu verdanken, dass Sie heute meine Zeilen lesen können.“

Soweit Christian Börner im O-Ton.

Er weiß auch augenzwinkernd zu berichten, dass die Beckmann-Wagen die ersten mit Sicherheitsgurt waren. Wenn Paul Beckmann seine Kinder auf dem Automobil umherkutschierte, sicherte er sie nämlich mit Ledergurten davor, beim Bremsen oder in scharfen Kurven aus dem Wagen zu fallen. 

Gefällt Ihnen diese persönliche Rückschau in Sachen Beckmann, die Sie wohl nirgends anders finden?

Dann schauen Sie zur Mitte des nächsten Monats wieder in meinen Blog, wenn die nächste Folge ansteht. Aber gern auch vorher – es gibt ja soviel zu erzählen…

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Spurensuche: Beckmann-Wagen (Folge 2: 1903-1905)

Vielleicht haben Sie die Fortsetzung der im Juli begonnenen Spurensuche nach Überbleibseln der Beckmann-Wagen aus dem schlesischen Breslau vermisst. Ich muss zugeben, dass ich den anvisierten Termin zur Monatsmitte nicht einhalten konnte.

Als Ausrede führe ich den vielzitierten Klimawandel an, der den August hierzulande zu einem Wetterdesaster gemacht und mir die Laune gründlich verdorben hat. Ein einwöchiger Italienurlaub entschädigte ein wenig, aber dieser ins Wasser gefallene Sommer hat mich doch ein wenig aus der Spur gebracht.

Doch noch bevor es an den Fund des Monats geht, will ich rasch die versprochene nächste Folge nachreichen, bei der ich mich wieder auf die Ausführungen und Dokumente von Christian Börner stützen darf, des Urenkels von Firmengründer Paul Beckmann.

Er hat mir noch einige Ergänzungen zu den bis 1902 gebauten Modellen zukommen lassen, die ich in den ersten Teil eingearbeitet habe. Nun sind dort auch die Typen XV und XVI erwähnt, welche dem Modell XVII 12-16 PS vorangingen.

An diesen Typ will ich heute anknüpfen – hier noch einmal eine Abbildung zur Erinnerung:

Beckmann Model XVII 12-16 PS; Abbildung aus Sammlung Chr. Börner (Pinneberg)

Dieser Typ, der noch mit einem Motor des französischen Lieferanten Aster ausgestattet war, erhielt 1903 ein Schwestermodell, das sich äußerlich auf den ersten Blick vor allem durch die längere und nun eckige Motorhaube unterscheidet.

Doch tatsächlich markiert dieser Typ XVIII bei aller Ähnlichkeit eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der Beckmannn-Automobile. Denn sein 30 PS leistender Motor war ein „Eigengewächs“ des Hauses – ein beeindruckender Kompetenzbeweis und mit Spitze 75 km/h für damalige Verhältnisse ein recht schneller Wagen:

Beckmann Modell XVIII 30 PS; Abbildung aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Interessanterweise hielt Beckmann auch bei diesem leistungsfähigen Modell noch an der Chassiskonstruktion mit dickwandigen Stahlrohren fest – ein Gebiet, auf dem der Hersteller aufgrund seines Ursprungs im Rohrleitungs- und Fahrradbau besondere Expertise besaß.

Übrigens erhielt auch das schwächere Vorläufermodell XVI 12-16 PS später ein moderneres Erscheinungsbild ähnlich dem des 30 PS-Typs XVIII.

Hier haben wir dieses Modell auf einer Abbildung von 1904:

Beckmann 12-16 PS (Ausführung von 1904); Abbildung aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Nun ist erstmals auch ein Kühlwassereinfüllstutzen auf dem jetzt direkt vor der Haube montierten Kühler zu erkennen.

Noch besser ist selbiger auf der folgenden Aufnahme zu sehen, welche einen Beckmann des Modells XVIII von 1904 zeigt. Der Wagen wurde beim 5. Deutschen Automobiltag von Mitgliedern des Schlesischen Automobilklubs eingesetzt:

Beckmann Modell XVIII von 1904; Abbildung aus „Allgemeine Automobil-Zeitung“ (Sammlung Christian Börner, Pinneberg)

Schon ein Jahr später – anno 1905 – hatte sich der nächste Entwicklungsschritt vollzogen und die Beckmann-Wagen bekamen ein modern anmutendes Kühlergehäuse, auf dem nun auch ein Firmenschild angebracht war.

Damit präsentierten sich jedenfalls die Beckmann-Automobile anlässlich der Internationalen Automobil-Ausstellung im Jahr 1905 in Berlin:

Beckmann-Stand auf der IAA 1905; Abbildung aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Zu diesem Zeitpunkt waren Beckmann-Wagen mit einer breiten Auswahl von 2- und 4-Zylindermotoren erhältlich, die das Leistungsspektrum von 10 bis 30 PS abdeckten.

Immer noch gab man der Bauweise mit Stahlrohrrahmen den Vorzug, die einen guten Kompromiss aus Leichtigkeit und Festigkeit bot. Davon scheint man erst 1906 mit dem Aufkommen noch stärkerer Wagen abgekommen zu sein.

Daran werde ich in einer der nächsten Folgen wiederum mit Unterstützung von Christian Börner anknüpfen – dann schlagen wir gemeinsam ein neues Kapitel in der Geschichte dieses einst bedeutenden schlesischen Autoherstellers auf.

Unterdessen sind Leser wieder aufgerufen, etwaige ergänzende Informationen und Dokumente zur Markengeschichte von Beckmann beizusteuern, damit wir dieses Fabrikat noch besser würdigen können.

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Begegnung in Biarritz: Ein Benz 24/40 PS

Der August nähert sich seinem Ende und nimmt bereits seit Wochen den Herbst vorweg. Tagsüber keine 20 Grad, immer wieder Regen, das kennt man so nicht hier in der klimatisch sonst so begünstigten Wetterau, in der ich wohne.

Die Störche sind am Wochenende davongeflogen.

Könnte man es ihnen nicht einfach nachtun und sich vorzeitig ein hübsches Plätzchen im Süden suchen? Wie wäre es mit einem Aufenthalt in Frankreich? Am äußersten Südwestzipfel lockt beispielsweise der einst mondäne Badeort Biarritz.

Das klingt nach einem Plan und das passende Gefährt dazu wäre vorhanden. Also auf dorthin, der Wagen steht mitsamt Fahrer bereit. Rund 1400 km sind zu absolvieren, doch die Aussicht auf einen Späthochsommer am Meer ist alle Mühe wert.

Heute wäre das binnen eines Tages machbar, doch ganz so flott ging das anno dazumal noch nicht. Vielleicht nahm man ja doch die Eisenbahn und gönnte sich erst vor Ort ein angemessenes Automobil mitsamt Chauffeur:

Benz Kettenwagen, wohl Typ 24/40 PS um 1908; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das sieht nicht wirklich nach sonnigem Süden aus. Doch auf dem Abzug ist überliefert, dass dieses Foto einst in Biarritz entstand, als Fotograf ist ein Herr Lückefett genannt.

Die Zulassung des Wagens scheint eine französische zu sein, aber auf diesem Sektor kenne ich mich nicht aus, das zu beurteilen überlasse ich gern anderen.

Dafür kann ich ziemlich genau sagen, was wir für ein Fahrzeug vor uns haben, und das will bei so frühen Automobilen etwas heißen.

In diesem Fall geht es nicht bloß 100 Jahre zurück – nein, Anfang der 1920er Jahre waren elektrische Scheinwerfer Standard, während wir hier noch gasbetriebene sehen. Auch 110 Jahre genügen noch nicht ganz – denn da stieß die Motorhaube längst nicht mehr so unvermittelt auf die Windschutzscheibe:

Vor 1910 muss dieser Wagen entstanden sein, jedenfalls gilt das für deutsche Fabrikate und mit einem solchen haben wir es eindeutig zu tun.

Zwar sind das Kühleremblem und die Radnabenkappen nicht genau zu erkennen, doch die Kühlerform in Verbindung mit den ungewöhnlichen Luftschlitzen in zwei Dritteln des Oberteils der Motorhaube ist typisch für mittlere bis große Benz-Wagen von ca. 1907/08.

Sogar die Motorisierung lässt sich recht genau bestimmen. So gab es besagte Luftschlitze im Haubenoberteil nicht bei den kleinen Benz-Modellen mit 18 bzw. 28 PS Höchstleistung. Diese besaßen auch nur 10 Speichen und fünf Radbolzen statt wie hier 12 bzw. sechs.

Die 50 bzw. 60 PS leistenden Spitzenmodelle wiesen größere Radstände auf und kamen besonders eindrucksvoll daher, ich würde sie daher in diesem Fall ausschließen.

Tatsächlich entspricht „unser“ Benz in Biarritz von den Proportionen präzise einem 24/40 PS-Modell mit fast identischem Aufbau in der Literatur (Benz & Cie, hrsg. von der Mercedes-Benz AG, Motorbuch-Verlag 1994, S. 91) und im Mercedes-Online-Archiv.

Als Besonderheit ist hier festzuhalten, dass es sich noch um die Variante mit Kettenantrieb handelt, die parallel zur moderneren Version mit Kardanwelle angeboten wurde. Man sieht einen Teil der Kette unterhalb des Trittbretts vor dem Hinterrad:

Nun mögen Sie sich fragen, warum der Fahrer auf dieser Aufnahme so warm gekleidet ist, wenn das Foto doch im südlichen Biarritz entstanden ist.

Ein Blick auf das örtliche Wetter sorgt für Ernüchterung: Selbst dort sind es tagsüber aktuell gerade einmal knapp über 20 Grad und nachts kühlt es spürbar ab. Da ist der Fahrer am Morgen gut beraten, sich gegen den Wind zu wappnen, dem er an der See ausgesetzt ist, während die Passagiere es sich im Fahrgastabteil gemütlich machen können.

Kommuniziert wurde übrigens bei Bedarf über das Sprechrohr, dessen Ende in etwa auf Kopfhöhe des Fahrers zu sehen ist.

Bevor Sie nun den Mann bedauern, bedenken Sie: Ein Chauffeur war ein gut bezahlter Fachmann, der neben fahrerischem und technischem Können über makellose Manieren verfügen musste. Und bei Wind und Wetter draußen arbeiten müssen Bauleute und andere fleißige Geister, ohne die nichts läuft im Lande, noch heute.

Das wäre nun schon fast alles zur „Begegnung in Biarritz“. Doch während das ernüchternd kühle Wetter auch dort zu wünschen übrig lässt, muss sich dem Thema doch noch etwas Herzerwärmendes abgewinnen lassen.

Tatsächlich gab es vor gut 40 Jahren unter dem deutschen Titel „Begegnung in Biarritz“ einen faszinierenden Film, der wohl wenig bekannt ist. Ich habe ihn jedenfalls erst heute entdeckt.

Zwar ist dort die automobile Seite weniger spektakulär ausgeprägt, aber man wird durch das Spiel einer Dame entschädigt, der vermutlich jeder Mann mit Faible für klassische Schönheit auch an frühherbstlichen Tagen in Biarritz gern begegnen würde…

Vorschau zu „Begegnung in Biarritz“, 1982; Videoquelle: Youtube; hochgeladen von Vintage Trailers

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Auf Tour durchs Tibertal – ein NAG „Puck“!

Wem der Titel meiner heutigen Bildergeschichte ein wenig abenteuerlich erscheint – „Durch’s wilde Kurdistan“ von Karl May lässt grüßen – liegt ganz richtig.

Denn was ich heute präsentiere, ist das Dokument eines geradezu unglaublichen Abenteuers, doch im Unterschied zu Karl May musste ich nichts dazudichten.

Die besten Geschichten schreibt ohnehin das Leben, vor allem wenn man Fortuna walten lässt. Was mir der Zufall diesmal zugespielt hat, daran will ich Sie gern teilhaben lassen.

Kürzlich erwarb ich wieder einmal einen Stapel alter Autofotos für einen überschaubaren Betrag – der eigentliche Preis für solche Schnäppchen ist der, dass man erst einmal nicht genau weiß, was sich auf den meist verblichenenen oder unscharfen Bildern verbirgt.

Bei der ersten Durchsicht blieb mein Blick kurz an diesem vergilbten Abzug hängen – naja, dachte ich, vermutlich ein schwer identifizierbares frühes Mobil irgendwo in Südeuropa:

NAG „Puck“ bei Todi (Umbrien); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Eigentlich wollte ich mich erst später damit beschäftigen, doch die Silhouette der Stadt im Hintergrund interessierte mich aus irgendeinem Grund.

Also tat ich, was ich auch sonst in solchen Fällen tue – ohne dass Sie das mitbekommen: Ich stellte die Bilddatei auf „Schwarzweiß“ um, erhöhte den Kontrast, entfernte einige störende Flecken und Kratzer.

Und auf einmal sah das Ganze schon vielversprechender aus:

Zwar kann man von dem Wagen noch nicht allzuviel erkennen, doch immerhin ist jetzt zu ahnen, dass er ein deutsches Kennzeichen trägt.

Noch war mir nicht bewusst, wo der Wagen aufgenommen worden war, doch war schon an dieser Stelle klar – da waren deutsche Reisende vor 1910 irgendwo im Süden unterwegs!

Da mir dieser Drang prinzipiell sympathisch ist, zumal er heute ohne die meist rein destruktiven Eroberungsgelüste unserer germanischen Vorfahren daherkommt, war ich elektrisiert. Was war das für ein Wagen und wo war er unterwegs?

Also schaute ich genauer hin und plötzlich sah ich den runden Kühlerausschnitt und (wenn ich mich nicht irre) die Kennung „IA“ für Berlin – das muss ein NAG sein!

Der Wagen besitzt zwar einen Tourenwagenaufbau für vier bis fünf Personen – anfangs noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – dennoch sind seine Abmessungen sehr kompakt.

Im Programm der Berliner NAG gab es aber neben den beeindruckenden mittleren und großen Typen, die damals zur deutschen Spitzenklasse gehörten, tatsächlich auch ein solches Kleinauto – den NAG „Puck“.

Dieser 1908 eingeführte Wagen ist auf der folgenden Originalreklame zu sehen:

NAG 6/12 PS „Puck“; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Der Vorteil des Drucks liegt darin, dass er den Blick für’s Wesentliche schärft, auch wenn die zugrundeliegenden Zeichnungen selten in allen Details präzise waren.

NAG-typisch war bis zum Ende des 1. Weltkriegs der runde Kühlerausschnitt – er ist also weder baujahrs- noch modellspezifisch, erlaubt aber in der vorliegenden Form schon einmal die Ansprache der Marke.

Einprägen sollte man sich die Ausführung der Vorderkotflügel – eher dünn, nach hinten breiter werdend und nahezu rechtwinklig an das Trittbrett anschließend. Auch die weit auskragenden, nur wenig gebogenen vorderen Rahmenausleger kann man sich merken.

Dann wäre da noch die kurze Motorhaube und der im Vergleich zum Lenkrad sehr kompakte Vorderwagen, was für ein kleines Modell spricht.

Haben Sie noch alles parat? Dann schauen wir jetzt, so ein NAG „Puck“ in der Realität aussah:

NAG 6/12 PS „Puck“; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Erkennen Sie die Übereinstimmungen, auch wenn allerlei Accessories und die Insassen natürlich für ein anderes Gesamtbild sorgen?

Jetzt stellen Sie sich nur noch vor, dass auf der Fahrerseite zwei Reservereifen in einer gemeinsamen Hülle mitgeführt wurden und außerdem auf dem Trittbrett der Beifahrerseite ein Gepäckkoffer angebracht war – denn einen Kofferraum gab es damals ja noch nicht.

Mit diesen Extras versehen war nämlich der NAG „Puck“ auf meinem Foto:

Sind Sie einverstanden mit der Identifikation dieses Wagens als NAG „Puck“?

Ich unterstelle, dass ich hier richtig liege. Nun kann es an die noch spannendere Frage gehen, wo dieser NAG unterwegs war, als er auf Fotoplatte verewigt wurde.

Die Antwort fällt sensationell aus, wenn man bedenkt, dass der NAG „Puck“ einen 1,6 Liter-Vierzylindermotor besaß, der gerade einmal 12 PS Spitzenleistung abwarf.

Tatsächlich ist dieser Wagen einst über die Alpen nach Italien gefahren, was an sich schon ein Abenteuer der besonderen Art war. Doch haben es die Insassen nicht dabei bewenden lassen, die Großstädte Oberitaliens Turin, Mailand und Bologna zu besuchen.

Nein, liebe Leser, diesen Leuten stand der Sinn nach etwas anderem.

Wir kennen die genaue Route nicht, doch vermutlich sind sie über Florenz weiter südlich in die Toscana vorgestoßen, sind dann am Trasimenischen See vorbei nach Osten abgedreht in Richtung Perugia, der Hauptstadt der angrenzenden Region Umbrien.

Von dort muss es dann durch das mittlere Tibertal weiter nach Süden gegangen sein – vielleicht war Rom das Ziel. Ein Halt auf dem langen Weg dorthin ist dokumentiert, nämlich auf dem Foto, das ich heute vorgestellt habe.

Darauf fiel mir links am Rand etwas auf, das wie eine Vision der venezianischen Kirche Santa Maria della Salute im flimmernden Licht am Horizont zu schweben schien:

Als ich das sah, war ich mit einem Mal 30 Jahre jünger! Damals fuhr ich zum ersten Mal nach Umbrien. Ich war Student und hatte in den Semesterferien eine hübsche Summe verdient.

Eine Woche war ich mit Bahn und Bus in der Valle Umbra zwischen Spoleto und Assisi unterwegs; eine Woche lang gönnte ich mir einen Mietwagen (Ford Escort) für die entlegeneren Höhepunkte dieser für mich schönsten Region Italiens.

Den Namen der mir so bekannt vorkommenden Kirche hatte ich nach dieser langen Zeit natürlich nicht mehr parat – Santa Maria della Consolazione heißt sie.

Doch eines wusste ich plötzlich wieder: Das ist in Todi!

Todi (Umbrien); Panoramafoto von Giuseppe Marzulli

Kurios, dass diese Aufnahme an fast derselben Stelle entstand wie einst das Foto mit dem NAG „Puck“, nämlich an der südlich stadtauswärts führenden SS79Bis „Via Angelo Cortesi“ kurz vor der scharf nach Osten drehenden Kurve.

Wie so oft in Umbrien hat sich das Stadtbild in mehr als 100 Jahren kaum verändert. Es wird mit hierzulande kaum vorstellbarem Stolz gepflegt und mit authentischen Baumaterialien und -techniken bis ins Detail erhalten.

Wie bei allen umbrischen Hügelstädten haben wir es mit Siedlungen zu tun, die seit mindestens 2.500 Jahren existieren und schon Stadtcharakter hatten, lange bevor die Römer Italien unter ihre Herrschaft brachten.

Diese noch heute erlebbare kulturelle Kontinuität, welche auch die Nutzung der Landschaft umfasst, ist phänomenal und auch in Italien in dieser Breite wohl einzigartig.

In Deutschland sagt Umbrien dennoch bis heute nur wenigen etwas, allenfalls von der Pilgerstadt Assisi hat man schon einmal gehört. Doch anstatt ebendort durch die Valle Umbra zu fahren, entschieden sich die Insassen des NAG „Puck“ einst, dem westlich davon gelegenen Tibertal nach Süden zu folgen.

Dabei kamen Sie an Todi vorbei und waren offenbar gebannt von dem Stadtbild, obwohl es in Umbrien noch weit grandiosere gibt. Diese Leute müssen jedenfalls Kenner des Besonderen und mit einem Hang zum Abenteuer ausgestattet gewesen sein.

Mit 12 PS von Berlin nach Todi – allein das waren schon 1.500 Kilometer auf oft nur mäßig befestigten Straßen. So etwas machte man auch dann nicht nebenher, wenn man sehr gut situiert war, wie dies bei allen frühen Automobilisten zwangsläufig der Fall war.

So gehört heute meine Sympathie wieder einmal den Pionieren des Autowanderns im Süden. Und weil mir gerade der Sinn danach steht, werde ich es ihnen für ein gute Woche nachtun – mit mehr als 12 PS, aber derselben Leidenschaft und natürlich: in Umbrien!

Nach meiner Rückkehr geht es weiter im Blog, es gibt ja so viel zu erzählen. Sollte Ihnen unterdessen langweilig werden, unternehmen Sie doch mal einen Spaziergang durch Todi

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Experten unter sich: Ein Adler Tourer um 1907

Heute lasse ich Sie an einem Moment teilhaben, bei dem eigentlich die Kenner unter sich bleiben wollen. Als bei den meisten Vorkriegsmarken nur Halbgebildeter kenne ich aber keinen Respekt vor Autoritäten und mische mich gern frech ein.

Mir passt es nämlich gar nicht, wenn die Experten ihr Wissen am liebsten für sich behalten wollen, damit sie nicht vom gemeinen Pöbel belästigt werden. Dergleichen Attitüden legen keineswegs nur Sprösslinge alter Adelsgeschlechter, Kirchenfürsten oder sonstige Vertreter der jeweils herrschenden Priesterkaste an den Tag.

Schlimmer sind die eifrigen Aufsteiger, die sich einbilden, es noch besser zu wissen als die bis dato Mächtigen und sich umgehend die Aura der Unantatstbarkeit zulegen, sobald sie höhere Sphären erreicht zu haben glauben als der erdverbundene Fußgänger.

In der Frühzeit des Automobils waren dieser Versuchung insbesondere diejenigen ausgesetzt, welche einen der neuartigen und enorm komplexen Kraftwagen beherrschten.

Diese Experten – wichtigtuerisch Chauffeure genannt – wussten, was sie ihren vermögenden Brötchengebern wert waren und blieben nach Dienstschluss gern unter sich. Mit dem übrigen Personal wollte man wohl nichts zu tun haben.

Hier haben wir zwei Exemplare dieser benzingetriebenen Elite ins Fachgespräch vertieft:

Adler Tourenwagen um 1907; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht ein hübscher Schnappschuss, der hier einem frühen Vertreter der Paparazzi gelungen ist? Wir dürfen sicher sein, dass die eigentlichen Besitzer dieses mächtigen und kolossal teuren Tourenwagens irgendeine Form von Prominenz genossen.

Wie komme ich als bloßer Betrachter – keinesfalls Eingeweihter – dieser Szene zu einer derart kühnen Vermutung? Sagen wir, dass ein gesundes Halbwissen meist schon reicht, um in diesen Kreisen einigermaßen bestehen zu können.

Das erforderliche Mindestmaß an Bildung kann man sich mit etwas Disziplin im Selbststudium aneignen. Dazu schule man sich am besten an hochkarätigem Material – beispielsweise diesem:

Adler-Reklame von 1907; Original: Sammlung Michael Schlenger

Wen diese Reklame eher verwirrt als orientiert, dem sei zweierlei empfohlen:

Erstens das Studium der Kühler- und Haubenpartie, zweitens die genaue Betrachtung der Armlehne der vorderen Sitzbank mit dem auffallenden Haltegriff. Den übrigen Aufbau vergisst man am besten – der war weder typ- noch markenspezifisch.

Die Frontpartie entspricht derjenigen stark motorisierter Wagen der Adlerwerke aus Frankfurt am Main, wie sie zwischen 1906 und 1908 gebaut wurden. Diese Autos verfügten über kolossale Hubräume von über sieben Liter, welche eine Spitzenleistung von 40 bis 50 PS bereits bei Drehzahlen von etwas über 1.000 Umdrehungen pro Minute abwarfen.

Hier ein Adler-Landaulet dieses Kalibers, welches 1908 in Wandlitz abgelichtet wurde:

Adler Landaulet um 1907; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sicher erkennen Sie die weitgehende Übereinstimmung von Kühler- und Haubenpartie – typisch für Adler-Wagen aus der Zeit kurz vor 1910.

Der vor dem Landaulet abgelichtete Fahrer war ebenfalls ein Experte seines Fachs, doch immerhin zeigt er sich uns zugewandt – von ihm hätten wir vermutlich alles über „seinen“ Adler erfahren, was wir wissen wollen.

Doch leider kann er nicht mehr zu uns sprechen – ganz wie die beiden Kollegen auf dem eingangs gezeigten Foto. Dabei hätten wir gern einiges von ihnen erfahren, und sei es nur, welcher der am Armaturenbrett aufgereihten Öler für welchen Schmierpunkt zuständig war:

Dergleichen Details werden die beiden Magier des Motorwagens vermutlich als Berufsgeheimmis für sich behalten haben wollen.

Dabei hätten wir doch bloß gewusst, ob wir mit der Vermutung richtig liegen, dass es sich bei dem großzügig dimensionierten Automobil tatsächlich um einen Adler mit 40 PS aufwärts handelte, wie er ab 1906 im Programm auftaucht.

Dazu ist freilich das Votum eines Kenners der frühen Adler-Modelle vonnöten. Wäre doch schade, wenn die heutigen Experten dieser einst so bedeutenden deutschen Marke unter sich blieben und ihr zweifellos vorhandenes Wissen für sich behielten – die mir bekannte Literatur dazu ist nämlich über 40 Jahre alt (Werner Oswald, Adler Automobile, 1981)…

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Schon mit Scheinwerfer! Ein Renault von 1902/03

Ein 100 Jahre altes Auto – das erscheint einem beinahe vertraut gemessen an dem, was ich heute präsentieren möchte. Das gilt vor allem für US-Fabrikate, die damals international die Führungsrolle innehatten und diese bis in die frühen 1930er Jahre halten konnten.

Nehmen wir als Beispiel diesen Studebaker des Modelljahrs 1923, den ich hier bereits näher vorgestellt habe. Von ein paar Details abgesehen sollte die Grundform dieses Tourers den Großteil der Zwischenkriegszeit über einigermaßen aktuell bleiben:

Studebaker Modelljahr 1923; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn jetzt jemand die Stirn runzelt und meint, dass sich bis zum 2. Weltkrieg doch noch einige Entwicklungssprünge ergeben haben, dann hat er zwar recht. Doch letztlich ist das eine Frage des Maßstabs und der Perspektive.

In den 20 Jahren vor dem Erscheinen des 1923er Studebaker hatte das Auto nämlich noch größere Evolutionsstufen absolviert, weshalb ein Wagen von 1902/03 verglichen mit den Fahrzeugen der Zwischenkriegszeit wie ein Geschöpf aus fernster Urzeit erscheint.

Die damaligen Autos waren einerseits bereits so ausgereift, dass man damit längere Reisen unternehmen konnte, andererseits war so etwas Selbstverständliches wie ein Scheinwerfer noch eine Neuerung. Das glauben Sie nicht?

Nun, nehmen wir als Ausgangspunkt der heutigen Betrachtung diese Aufnahme eines frühen Renault, den ich auf 1902/03 datieren würde (Quelle: Renault – L’Empire de Billancourt, von Borgé/Viasnoff, 1977):

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sie sehen, dass dieser adrette Viersitzer von den Rädern abgesehen wenig bis nichts mit dem 20 Jahre später entstandenen Studebaker zu tun hat.

Dabei zählte Renault damals zu den international fortschrittlichsten Herstellern überhaupt, zusammen mit anderen französischen Farbikaten wie DeDion-Bouton, Darracq oder Panhard – die im Ausland fleißig studiert und nachgebaut wurden, auch in Deutschland.

Die charakteristische Form der Motorhaube fand sich damals bei etlichen Herstellern wie Charron und Clément Bayard, aber auch bei frühen Wartburg-Wagen sowie Komnick aus dem Deutschen Reich.

Die Detailausführung ist hier allerdings typisch für frühe Renaults. Die seitlich angebrachten Kühlerspiralen wichen bald einem hinter der Haube liegenden Kühler, wie er bis in die 1920er Jahre typisch für die große französische Marke bleiben sollte.

Auf eine Kleinigkeit möchte ich noch aufmerksam machen. Dieser offene Viersitzer besitzt keine Scheinwerfer an der Frontpartie (auch keine Halterungen dafür). Wie zur Kutschenzeit beschränkte sich die Beleuchtung auf seitlich angebrachte Petroleumlaternen, die eher als Park- bzw. Positionsleuchten fungierten.

Nun wenden wir uns einem weiteren Renault zu, der sich zwar anhand der seitlichen Kühlwasser“schlangen“ ebenfalls auf etwa 1902/03 datieren lässt, aber dennoch ganz anders wirkt:

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Manche Details weichen zwar ab, etwa die Ausführung der Radnaben und der Vorderkotflügel, doch das dürfte nur auf eine stärkere Motorisierung zurückzuführen sein.

Auch das Vorhandensein einer Frontscheibe und eines Dachs sind Indizien dafür, dass dieser Renault eher für längere Touren und nicht nur kurze Schönwetter-Ausflüge diente.

Sogar einen Chauffeur hatte man angestellt – der für dieses schöne Foto (aus Sammlung Jörg Pielmann) auf den Rücksitz verbannt wurde. Der gut genährte Besitzer hatte es sich nicht nehmen lassen, zu diesem Anlass selbst hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen:

Die uns nachdenklich anschauende Dame auf dem Beifahrersitz erscheint mir deutlich älter zu sein – aber vielleicht hatte unser Renault-Besitzer aus – sagen wir – geschäftlichen Gründen eine reiche Witwe geehelicht, das gab es ja durchaus.

Interessanter ist aus meiner Sicht in diesem Fall aber etwas anderes, so sehr mich die menschliche Komponente auf solchen historischen Dokumenten sonst interessiert.

Sicher haben Sie bemerkt, dass auch dieser Renault mit Positionslampen ausgestattet ist. Doch im Unterschied zum eingangs gezeigten Wagen aus derselben Zeit besitzt er außerdem vorne Halterungen für echte Scheinwerfer, von denen einer montiert ist.

Damals war es noch üblich bzw. möglich tagsüber ohne die empfindlichen Scheinwerfer zu fahren, weshalb man auf vielen Fotos früher Automobile nur die Halterungen dafür sieht.

Erleichtert wurde diese Lösung dadurch, dass frühe Scheinwerfer über eine integrierte Brennstoffversorgung verfügten und daher einfach demontiert werden konnten:

Zumindest für den großen Scheinwerfer wird man statt Petroleum das ergiebigere Acetylengas verwendet haben, das im Scheinwerfer selbst aus Calciumcarbid und Wasser erzeugt wurde.

Diese Erfindung war anno 1902/03 noch recht jung, sodass hier vielleicht eine sehr frühe Anwendung an einem Automobil dokumentiert ist.

Jedenfalls unterstützt das Vorhandensein eines Frontscheinwerfers die These, dass dieser Renault bereits für Fahrten auch bei Dämmerung oder Dunkelheit genutzt wurde. Das müssen nicht zwangsläufig längere Nachtfahrten gewesen sein, schon beim abendlichen Besuch in der Oper oder im Theater würde der Scheinwerfer sich als nützlich erweisen.

Fernfahrten, bei denen man mit einer Ankunft erst bei Dunkelheit rechnen mussten, kamen mit einem solchen Renault aber ebenfalls in Betracht – das Auto war kein unzuverlässiges Kuriosum mehr, sondern ermöglichte den Besitzern eine ganz neue Form des Reisens.

Rund 120 Jahre ist das jetzt her, dass dieser Wagen am Hoftor zu Beginn einer Ausfahrt abgelichtet wurde. Und wie so oft auch bei späteren solcher Fotos wollte einer unbedingt mit auf’s Foto – der Hofhund!

Schauen Sie oben noch einmal genau hin, dort ist er am halbgeöffneten Tor zu sehen, neugierig und am faszinierenden Treiben „seiner“ Familie interessiert wir eh und je.

Es sind diese kleinen Konstanten im menschlichen Dasein, die aus einem Autofoto mehr machen als nur ein Dokument eines technischen Objekts – es ist Zeuge gelebten Lebens und so etwas rührt einen an, selbst wenn einem ein so früher Wagen fremdbleiben mag.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kutsche oder Kunstwerk? Benz Kettenwagen um 1905

Es ist wieder einmal an der Zeit, in die wirkliche Frühzeit des Automobils einzutauchen. Je bizarrer mir das aktuelle Zeitgeschehen vorkommt, desto wohltuender ist das.

Genügt es dazu, die Zeitmaschine auf „110 Jahre retour“ einzustellen? Schauen wir einmal, was wir dann in Sachen Automobil geboten bekommen:

Benz 10/30 oder 16/40 PS Chauffeurlimousine, um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Benz wurde im Juni 1914 in Itzehoe aufgenommen und dürfte kaum früher als 1913 entstanden sein – dafür sprechen die elektrischen Parkleuchten im „Windlauf“ vor der Windschutzscheibe.

Das Fahrzeug entspricht bereits ziemlich genau dem, was man sich unter einem Auto vorstellt, nicht wahr? Gewiss, die noch freistehenden Kotflügel sind eine Spezialität der Vorkriegszeit, aber kurioserweise heißen sie immer noch so.

Ansonsten ist alles dort, wo man es erwartet, sieht man einmal von der Rechtslenkung ab. Der hohe Aufbau bietet genau den Komfort beim Ein- und Aussteigen, der heute wieder geschätzt wird – die Autobesitzer werden ja nicht jünger.

Kutsche oder Kunstwerk?“ – Diese Frage stellt sich hier offenbar nicht. Also kehren wir in die Gegenwart zurück und justieren unsere Zeitmaschine noch einmal neu. Diesmal stellen wir sie auf „125 Jahre retour“ und schauen, was passiert:

Benz-Reklame von 1898; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Verflixt, nur 15 Jahre Unterschied und wir scheinen im Kutschenzeitalter gelandet zu sein – allerdings ohne Pferde, dafür mit Benzinmotor nach Patent von Carl Benz anno 1898.

Wie kann es in so kurzer Zeit einen solchen Entwicklungssprung gegeben haben? Auf die Gegenwart übertragen wäre das so, als habe Tesla anno 2008 gerade einmal ein elektrisches Golf-Car gebaut. Tatsächlich wurde damals bereits das Model S entworfen, welches nach 15 Jahren immer noch gebaut wird. Soviel zum Thema Fortschritt heutzutage.

Irgendetwas muss damals radikal anders gewesen sein. Zum einen arbeiteten einst tausende Erfinder und Unternehmer auf eigene Faust an der Weiterentwicklung des Benziners, zum anderen redeten ihnen keine Politiker hinein.

Wenn es damals schon den EU-Bürokratenadel gegeben hätte, würden wir immer noch mit der Pferdekutsche fahren und Autos gäbe es bestenfalls für Funktionäre. Eine erschreckende Vision, man stelle sich das Gleiche für Kühlschränke oder Telefone vor.

Unsere Altvorderen haben auch viel Mist gebaut, aber sie wussten zumindest, was Sie besser dem Markt überlassen (so ziemlich alles, außer Militär und Bildungswesen).

Also geben wir uns zuversichtlich, stellen unsere Zeitmaschine nochmals neu ein – diesmal auf das Jahr 1905 – genau in die Mitte des bisher betrachten Zeitraums, et voilá!

Benz Kettenwagen um 1905; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ist das nicht eine faszinierende Schöpfung? Die hintere Hälfte noch Kutsche, die vordere schon erkennbar Automobil, wenn auch noch wie angesetzt wirkend.

Diese Kreation irritiert und fasziniert – genau das macht ein gelungenes Kunstwerk aus. Es befördert uns aus dem Alltag heraus und lässt uns auf eine Entdeckungsreise durch die Assoziationen gehen, die sich bei seinem Anblick einstellen.

Die Heckpartie transportiert uns zurück ins 19. Jh. und noch weiter in die Vergangenheit:

Lediglich die Luftreifen, die Bremstrommel und der Kettenantrieb (zwischen Rad und Trittbrett sichtbar) deuten auf die technische Neuzeit hin.

Alles übrige, einschließlich der Blattfedern an der Hinterachse, ist über Jahrhunderte gewachsene Tradition.

Die Formen und Verzierungen des Passagierabteils sind ebenfalls Ergebnis über Generationen gepflegten kunsthandwerklichen Könnens.

Ob der vertikale Streifendekor eine Zutat des Jugendstils ist, also der zum Entstehungszeitpunkt des Wagens vorherrschenden gestalterischen Richtung, sei dahingestellt.

Jedenfalls haben wir es hier mit einem Element zu tun, das noch dem Kutschenzeitalter zuzuordnen ist. Wo aber bleibt die Kunst bei alledem?

Nun, die besteht aus meiner Sicht in der spannenden Kombination mit dem Maschinenzeitalter, das sich am Vorderwagen durchgesetzt hat:

Hier überwiegt noch das Diktat der funktionellen Gestaltung. Die gelungene ästhetische Verbindung zwischen Motorraum und Passagierraum lag zum Entstehungszeitpunkt noch in der Zukunft – etwa drei Jahre, schätzungsweise.

Wie komme ich auf eine so genaue Einordnung?

Nun, dieser prächtige Chauffeurwagen – ein „Außenlenker“ hätte man einst gesagt – lässt sich anhand der Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube und der Form des Kastens über dem vorderen Kettenritzel als Benz aus der Zeit zwischen 1905 und 1908 identifizieren.

Vergleichsfotos gibt es in der Literatur beklagenswert wenige – es ist verstörend, dass es kein inhaltlich erschöpfendes und umfassend bebildertes Standardwerk zu frühen Benz-Autos gibt.

Doch in den immer noch unersetzlichen alten Schinken von Heinrich v. Fersen und Halwart Schrader zu deutschen Vorkriegsautos bis 1920 finden sich passende Prospektabbildungen von Benz-Kettenwagen jener Zeit.

Wer es genauer weiß, möge uns das über die Kommentarfunktion kundtun. Was den Typ angeht, will ich mich selbst nicht festlegen, eigentlich ist es auch egal.

Denn was nach so langer Zeit bleibt, ist der Eindruck, dass man bei den ganz frühen Automobilen kaum sagen kann, ob es sich um eine motorisierte Kutsche, ein expressives Kunstwerk oder beides handelte.

Wir kehren zur reinen Bewunderung dieser Zeugen zurück und belassen es bei der Feststellung, dass diese phänomenalen Schöpfungen menschlichen Erfindungsgeists und Schönheitssinns am Anfang einer Entwicklung standen, die eine Bewegungsfreiheit für jedermann ermöglichte, welche es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat.

Wir müssten verrückt sein, uns das wieder nehmen zu lassen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Gruß vom Adler aus Italien: Aquila

Am Wochenende bin ich von einer meiner kleinen Fluchten nach Italien zurückgekehrt – zumindest physisch.

Wieder war ich in Umbrien – der einzigen italienischen Region, die nicht ans Meer grenzt und die eine Balance aus Natur und Menschenwerk bietet, die ihresgleichen sucht.

Am Morgen der Abfahrt von meinem Aufenthaltsort Collepino bot sich mir folgender Anblick:

Blick auf Spello (Umbrien) von Osten, März 2023: Bildrechte: Michael Schlenger

Dies ist das an den Ausläufern des Monte Subiaso gelegene Städtchen Spello – wie alle umbrischen Hügelstädte über 2.000 Jahre alt, dennoch voller Leben und mit Hingabe gepflegt.

Keine Bausünde der Nachkriegszeit trübt das Bild, hier wurde und wird nur der örtlich anstehende leicht rosafarbene Kalkstein verbaut und auch bei Sanierungen nur der typische Tondachziegel verwendet, dessen Form sich seit der Römerzeit nicht verändert hat.

Niemand kommt auf solche Geschmacklosigkeiten und Primitivlösungen, wie sie im „reichen“ Deutschland seit Jahrzehnten beim Bauen im historischen Bestand gang und gebe sind. Dabei lag diese Region 1945 ebenso am Boden und die Menschen waren bitterarm.

Die Front zwischen Wehrmacht und Alliierten war gnadenlos auch durch diese idyllische Welt gewandert. Weder US-Bombenterror noch verstörende Verbrechen des deutschen Militärapparats an Zivilisten blieben den Umbrern erspart.

Erst ab den 1960er Jahren begann sich die Region – wie das übrige Italien – zu erholen. Ungebrochen ist der Stolz auf eine uralte Geschichte und eine Kulturlandschaft, deren Anmutung sich seit der Antike nicht geändert hat, sieht man vom Gewerbe in der Ebene ab.

Die fruchtbaren Böden werden nicht für den Anbau sogenannter Biokraftstoffe missbraucht, die Hügel und Berge sind nicht den Profitinteressen der Windindustrie geopfert worden. Umbrien ist im wirklichen Sinn grün geblieben, nicht grünlackierten Lobbys ausgeliefert.

Diese Eindrücke sind aber nicht alles, was ich aus dem Land südlich der Berge mitgebracht habe. Vielmehr darf ich automobile Grüße vom italienischen Adler überbringen.

Vielleicht denkt jetzt einer an die gleichnamige Marke aus Frankfurt/Main, die tatsächlich sehr früh auch in Italien eine Niederlassung unterhielt:

Adler-Reklame von 1906/07; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Dies ist das erste und einzige Zeugnis früher Adler-Wagen aus Frankfurt/Main aus Italien, das mir bislang begegnet ist.

Dass Automobile von Adler dort größere Verbreitung fanden, wage ich zu bezweifeln, denn Wagen vergleichbarer Qualität brachte die italienische Industrie selbst zustande. Und sogar mit dem Namen „Adler“ hatten die Frankfurter kein Alleinstellungsmerkmal.

So waren es bereits vor über 2.000 Jahren die römischen Legionen, die mit ihren Feldzeichen den Adler als erste in andere Länder gebracht hatten – zunächst gewaltsam, dann mit den Segnungen einer haushoch überlegenen Zivilisation.

Da wundert es nicht, dass der Adler schon lange vor der faschistischen Episode unter Mussolini als symbolträchtige Figur herhalten musste.

Hier schmückt er die Monatsschrift des italienischen Touring Clubs von Oktober 1916, die mir mein Wetterauer Oldtimer-Kamerad Rolf Ackermann zur Verfügung gestellt hat:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von 1916; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Wer schon immer wissen wollte, was das Vorbild des Adlers der deutschen Luftwaffe ab den 1930er Jahren war, weiß es jetzt vermutlich.

Nebenbei: Weite Teile der als ikonisch geltenden Symbolik im NS-Regime sind der Ästhetik im späteren italienischem Faschismus entlehnt, um es wertfrei auszudrücken.

„Aquila“ heißt der Adler im Lateinischen und wie etliche andere antike Wörter hat er es unverändert ins Italienische geschafft.

Etwa zu dem Zeitpunkt, als Adler aus Frankfurt/Main die oben gezeigte Reklame in Italien platzierte, also 1906, wurde in Turin die „Fabbrica Italiana d’Automobili Aquila“ gegründet.

Man war vielleicht etwas später dran als der Namensvetter aus Deutschland, doch dafür machte man gleich Nägel mit Köpfen.

Während viele Hersteller noch mit separat gegossenen Zylindern arbeiteten, besaßen die von Giulio Cesare Cappa konstruierten Aquila-Wagen von Anfang an einen einzigen Motorblock und das Getriebe war direkt angeflanscht.

Die Kurbelwelle lief in Kugellagern, die Einlassventile befanden sich strömungsgünstig im Zylinderkopf und als erster Serienhersteller überhaupt verbaute Aquila Leichtmetall-Kolben. Wie gesagt: 1906/07!

Neben Vierzylindern bot Aquila früh auch Sechszylindermotoren an, die bei deutschen Fabrikaten damals eine seltene Ausnahme blieben. Mit diesem Programm blieb man bis in den 1. Weltkrieg präsent.

Besonders stolz war man darauf, dass sich Aquila-Wagen auch im Ausland einiger Beliebtheit erfreuten, darunter auch den USA und sogar Australien. Das ergibt sich aus einem Bericht in der Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914.

Auch dieses Originaldokument verdanke ich Rolf Ackermann, hier das Titelblatt:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Die Auflage von 160.000 Stück ist für das Jahr 1914 bemerkenswert hoch, auch wenn sicher nicht alle Exemplare an die italienischen Clubmitglieder („soci“) gingen.

Zum Vergleich: Im Deutschen Reich gab es Mitte 1914 insgesamt gerade einmal 95.000 PKW, Motorräder und LKW (Quelle: Otto Meibes, Die deutsche Automobilindustrie, 2. Auflage, 1928).

Insofern scheint das Automobil kurz vor dem 1. Weltkrieg in Italien mindestens eine derartige Aufmerksamkeit genossen zu haben wie in Deutschland.

Zurück zum italienischen Adler – dem Aquila aus Turin. In der erwähnten Zeitschrift von Juni 1914 findet sich eine lobende Besprechung (oder eher als solche verkappte Reklame) des kleinen Vierzylindertyps K mit 15 PS Leistung:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Hervorgehoben wird die Belastbarkeit und absolute Zuverlässigkeit der Konstruktion, die viele tausend Kilometer klaglos bei moderatem Benzinverbrauch absolviert, wie Langstrecken-Prüfungen in Frankreich erwiesen haben.

Am Ende wird neben dem 15 PS-Typ ein weiteres Vierzylindermodell mit 30 PS Spitzenleistung sowie ein großer Sechszylinder erwähnt, der 50 PS leistet, außerdem ist die Rede von Einbaumotoren mit bis zu 200 PS.

Hier haben wir noch einmal den kompakten Aquila K-Typ von 1914 in der Ausführung als offener Zweisitzer mit sportlich anmutenden Drahtspeichenrädern:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von Juni 1914; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Nur ein Jahr später, im August 1915, werden in der Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano erneut die Meriten des Aquila Tipo K hervorgehoben.

Dabei wird auf die laufende Verbesserung im Detail hingewiesen, die sich nicht notgedrungen auch in äußerlichen Merkmalen niederschlagen muss.

Immerhin wird nun neben dem bereits bekannten Sport-Zweisitzer auch eine fünfsitzige Tourenwagenausführung gezeigt, außerdem eine LKW-Version:

Mitgliederzeitschrift des Touring Club Italiano von August 1915; Original aus Sammlung Rolf Ackermann

Inzwischen ist der 1. Weltkrieg in vollem Gang und seit Mai 1915 befindet sich Italien im Krieg gegen Österreich-Ungarn, ohne bis Kriegsende 1918 wirklich relevante Gebietsgewinne erzielen zu können. Die gab es dafür anschließend anstrengungslos in Form von Südtirol.

Unterdessen hatte die Fabbrica Italiana d’Automobili Aquila bereits 1917 die Segel gestrichen. Der einstige Chefkonstrukteur Giulio Cesare Cappa sollte später bei Fiat und anderen italienischen Herstellern wie Ansaldo und OM noch zu großer Form auflaufen.

Das aber ist eine andere Geschichte, die nichts mehr mit dem Adler aus Turin zu tun hat…

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Doch auch mit Dach: Wartburg anno 1904

Um gleich Protesten von Lokalpatrioten vorzubeugen: Natürlich verfügte die berühmte, bald 1000-jährige Wartburg in Thüringen anno 1904 über ein Dach.

Daran kann es keinen Zweifel geben, schließlich waren die Bauarbeiten zur Wiederherstellung der Ruine nach sechsjähriger Bauzeit schon 1859 abgeschlossen. Seither bietet sich die Anlage so dar, wie sie der Besucher des 21. Jh. zu sehen bekommt.

Die These „Wartburg ohne Dach“ ist mir in einem anderen Zusammenhang untergekommen, der nur indirekt mit der Festungsanlage zu tun hat, dieser aber keineswegs fernliegt.

Kenner der frühen deutschen Automobilgeschichte wissen jetzt natürlich, was kommt. Denn unweit der Wartburg wurden von der Fahrzeugfabrik Eisenach ab 1899 ein Automobil gebaut, das als „Wartburg-Wagen“ verkauft wurde.

Dabei handelte es sich um ein noch sehr einfaches Gefährt nach Lizenz des französischen Herstellers Decauville, dessen Konstruktion damals in Frankreich bereits veraltet war. So war hier der Motor noch im Heck verbaut und gelenkt wurde über einen Hebel:

Wartburg-Wagen von 1899/1900; Postkarte des Verkehrsmuseums Dresden; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Viele deutsche Hersteller wählten damals diesen Weg des Lizenznachbaus französischer Fabrikate wie Darracq, De Dion, Decauville oder Panhard, um überhaupt erst einmal in die Autoherstellung einsteigen zu können. Eigenentwicklungen in Deutschland waren um 1900 noch die Ausnahme und führten meist in Sackgassen.

Nachdem man in Eisenach mit diesen Vehikeln, die luft- bzw- wassergekühlte Zweizylindermotoren mit 3 bzw. 5 PS Leistung besaßen, erste Erfahrungen gesammelt hatte, folgten 1902 erstmals Modelle mit Frontmotor und Motorhaube. Diese Bauweise wurde damals von Panhard in Frankreich bereits seit über 10 Jahren praktiziert…

Immerhin gaben die Fahrzeugwerke Eisenach jetzt ordentlich Gas und bauten nun auch Vierzylindermodelle mit rund 15 bis 30 PS. Hier ein Exemplar von 1905, das bereits unter dem neuen Markennamen „Dixi“ firmierte:

Dixi Typ S12 oder S13 (1904-07); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses Auto sieht mit einem Mal richtig erwachsen aus – das Einzige, was noch wie ein Fremdkörper wirkt, ist die Dachkonstruktion.

Wie es scheint, ist diese lediglich mit sechs vertikalen Rohren an der eigentlichen Karosserie befestigt. Gut möglich, dass sie sich einfach demontieren ließ bzw. erst nachträglich angebracht wurde.

Jedenfalls wird hier deutlich, dass ein festes Dach auf relativ simple Weise ergänzt werden konnte, wenn man das wollte. Damit sind nun endlich beim eigentlichen Thema.

Denn heute darf ich einen weiteren Wartburg aus der frühen Automobilproduktion der Fahrzeugwerke Eisenach präsentieren, den es so eigentlich gar nicht geben dürfte, wie er sich hier darbietet:

Wartburg 5,5 PS (1902-03); Originalfoto: Sammlung Andreas K. Vetter (Detmold)

Diese stimmungsvolle und gut erhaltene Aufnahme stammt aus dem Familienalbum von Andreas K. Vetter aus Detmold. Nach seinen Angaben entstand das Foto 1904 in Langensalza, wo der Wagen einem Veterinär als Alltagsfahrzeug diente.

Ich muss gestehen, dass ich zunächst eine Weile ergebnislos herumgerätselt habe, was für ein Fahrzeug hier abgebildet ist.

Zwischenzeitlich befasste ich mich mit einem anderen Rätselfoto, das eventuell einen Dixi zeigen sollte. Beim Durchblättern von Halwart Schraders immer noch unübertroffenem (wenn auch nicht perfekten) Standardwerk zu BMW-Automobilen von 1978, das auch Dixi bzw. die Vorgängermarke Wartburg abdeckt, stieß ich dann auf die zuvor gesuchte Lösung.

Diese Technik hat mich übrigens schon einige Male zum Ziel gebracht: Wenn eine intensive erste Recherche ohne Erfolg bleibt, ist es Zeitverschwendung, angestrengt weiterzubohren oder sich den Kopf zu zerbrechen.

Befasst man sich dann mit etwas anderem, bleibt das ungelöste Problem nämlich im Hinterkopf auf Wiedervorlage und oft genug läutet es dann unvermittelt, wenn sich in einem anderen Kontext die gesuchte Lösung offenbart.

So hielt ich auf S. 104 des Schraderschen Werks inne, denn dort (und m.W. nur dort) ist das gesuchte Automobil mit der eigenwillig gestalteten Motorhaube abgebildet – ein Wartburg 5,5 PS. Das Modell war zwischen dem ersten Wartburg und den ersten Dixis angesiedelt.

Zwar verfügte der Motor nach wie vor nur über 2 Zylinder, er befand sich nun aber vorn und war auf 1,1 Liter Hubraum gewachsen. Der Aufbau hatte an Substanz gewonnen, obwohl es sich nach wie vor um einen Zweisitzer handelte. Immerhin wurde das Auto jetzt mit einem Lenkrad gesteuert.

Nach Angabe von Halwart Schrader verfügte der Wartburg 5,5 PS über einen Röhrenkühler, der um die Motorhaube herumgelegt war. Damit meinte er vermutlich die pfeifenartigen Elemente auf der Haube.

Ganz sicher bin ich mir nicht, welche Funktion diese tatsächlich hatten. Waren es in Wirklichkeit nach außen gewölbte Luftschlitze oder röhrenartige Ausbuchtungen, die einen zusätzliche Oberflächenkühlung bewirken sollten – oder waren sie rein dekorativ?

Ich meine nämlich, hinter der Motorhaube die eigentlichen Kühlschlangen zu erkennen:

Was sagen die technisch versierteren Leser dazu? Kennt vielleicht jemand noch eine weitere Quelle, die sich mit diesem speziellen Wartburg 5,5 PS befasst und die mehr Informationen liefert?

In einer Hinsicht kann ich selbst eine neu hinzugewonnene Erkenntnis konstatieren. So heißt es bei Schrader, dass es zu diesem Wagen kein Verdeck gab. Strenggenommen hat er damit auch recht. Doch im nächsten Satz verweist er darauf, dass man einen Gummimantel tragen müsse, wenn man bei Regen fahren wollte.

Genau das musste aber nicht sein – denn den Wartburg 5,5 PS gab es ganz offensichtlich doch auch mit Dach! Und dafür dürften die damaligen Insassen dankbar gewesen sein…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.