Um gleich Protesten von Lokalpatrioten vorzubeugen: Natürlich verfügte die berühmte, bald 1000-jährige Wartburg in Thüringen anno 1904 über ein Dach.
Daran kann es keinen Zweifel geben, schließlich waren die Bauarbeiten zur Wiederherstellung der Ruine nach sechsjähriger Bauzeit schon 1859 abgeschlossen. Seither bietet sich die Anlage so dar, wie sie der Besucher des 21. Jh. zu sehen bekommt.
Die These “Wartburg ohne Dach” ist mir in einem anderen Zusammenhang untergekommen, der nur indirekt mit der Festungsanlage zu tun hat, dieser aber keineswegs fernliegt.
Kenner der frühen deutschen Automobilgeschichte wissen jetzt natürlich, was kommt. Denn unweit der Wartburg wurden von der Fahrzeugfabrik Eisenach ab 1899 ein Automobil gebaut, das als “Wartburg-Wagen” verkauft wurde.
Dabei handelte es sich um ein noch sehr einfaches Gefährt nach Lizenz des französischen Herstellers Decauville, dessen Konstruktion damals in Frankreich bereits veraltet war. So war hier der Motor noch im Heck verbaut und gelenkt wurde über einen Hebel:

Viele deutsche Hersteller wählten damals diesen Weg des Lizenznachbaus französischer Fabrikate wie Darracq, De Dion, Decauville oder Panhard, um überhaupt erst einmal in die Autoherstellung einsteigen zu können. Eigenentwicklungen in Deutschland waren um 1900 noch die Ausnahme und führten meist in Sackgassen.
Nachdem man in Eisenach mit diesen Vehikeln, die luft- bzw- wassergekühlte Zweizylindermotoren mit 3 bzw. 5 PS Leistung besaßen, erste Erfahrungen gesammelt hatte, folgten 1902 erstmals Modelle mit Frontmotor und Motorhaube. Diese Bauweise wurde damals von Panhard in Frankreich bereits seit über 10 Jahren praktiziert…
Immerhin gaben die Fahrzeugwerke Eisenach jetzt ordentlich Gas und bauten nun auch Vierzylindermodelle mit rund 15 bis 30 PS. Hier ein Exemplar von 1905, das bereits unter dem neuen Markennamen “Dixi” firmierte:

Dieses Auto sieht mit einem Mal richtig erwachsen aus – das Einzige, was noch wie ein Fremdkörper wirkt, ist die Dachkonstruktion.
Wie es scheint, ist diese lediglich mit sechs vertikalen Rohren an der eigentlichen Karosserie befestigt. Gut möglich, dass sie sich einfach demontieren ließ bzw. erst nachträglich angebracht wurde.
Jedenfalls wird hier deutlich, dass ein festes Dach auf relativ simple Weise ergänzt werden konnte, wenn man das wollte. Damit sind nun endlich beim eigentlichen Thema.
Denn heute darf ich einen weiteren Wartburg aus der frühen Automobilproduktion der Fahrzeugwerke Eisenach präsentieren, den es so eigentlich gar nicht geben dürfte, wie er sich hier darbietet:

Diese stimmungsvolle und gut erhaltene Aufnahme stammt aus dem Familienalbum von Andreas K. Vetter aus Detmold. Nach seinen Angaben entstand das Foto 1904 in Langensalza, wo der Wagen einem Veterinär als Alltagsfahrzeug diente.
Ich muss gestehen, dass ich zunächst eine Weile ergebnislos herumgerätselt habe, was für ein Fahrzeug hier abgebildet ist.
Zwischenzeitlich befasste ich mich mit einem anderen Rätselfoto, das eventuell einen Dixi zeigen sollte. Beim Durchblättern von Halwart Schraders immer noch unübertroffenem (wenn auch nicht perfekten) Standardwerk zu BMW-Automobilen von 1978, das auch Dixi bzw. die Vorgängermarke Wartburg abdeckt, stieß ich dann auf die zuvor gesuchte Lösung.
Diese Technik hat mich übrigens schon einige Male zum Ziel gebracht: Wenn eine intensive erste Recherche ohne Erfolg bleibt, ist es Zeitverschwendung, angestrengt weiterzubohren oder sich den Kopf zu zerbrechen.
Befasst man sich dann mit etwas anderem, bleibt das ungelöste Problem nämlich im Hinterkopf auf Wiedervorlage und oft genug läutet es dann unvermittelt, wenn sich in einem anderen Kontext die gesuchte Lösung offenbart.
So hielt ich auf S. 104 des Schraderschen Werks inne, denn dort (und m.W. nur dort) ist das gesuchte Automobil mit der eigenwillig gestalteten Motorhaube abgebildet – ein Wartburg 5,5 PS. Das Modell war zwischen dem ersten Wartburg und den ersten Dixis angesiedelt.
Zwar verfügte der Motor nach wie vor nur über 2 Zylinder, er befand sich nun aber vorn und war auf 1,1 Liter Hubraum gewachsen. Der Aufbau hatte an Substanz gewonnen, obwohl es sich nach wie vor um einen Zweisitzer handelte. Immerhin wurde das Auto jetzt mit einem Lenkrad gesteuert.
Nach Angabe von Halwart Schrader verfügte der Wartburg 5,5 PS über einen Röhrenkühler, der um die Motorhaube herumgelegt war. Damit meinte er vermutlich die pfeifenartigen Elemente auf der Haube.
Ganz sicher bin ich mir nicht, welche Funktion diese tatsächlich hatten. Waren es in Wirklichkeit nach außen gewölbte Luftschlitze oder röhrenartige Ausbuchtungen, die einen zusätzliche Oberflächenkühlung bewirken sollten – oder waren sie rein dekorativ?
Ich meine nämlich, hinter der Motorhaube die eigentlichen Kühlschlangen zu erkennen:

Was sagen die technisch versierteren Leser dazu? Kennt vielleicht jemand noch eine weitere Quelle, die sich mit diesem speziellen Wartburg 5,5 PS befasst und die mehr Informationen liefert?
In einer Hinsicht kann ich selbst eine neu hinzugewonnene Erkenntnis konstatieren. So heißt es bei Schrader, dass es zu diesem Wagen kein Verdeck gab. Strenggenommen hat er damit auch recht. Doch im nächsten Satz verweist er darauf, dass man einen Gummimantel tragen müsse, wenn man bei Regen fahren wollte.
Genau das musste aber nicht sein – denn den Wartburg 5,5 PS gab es ganz offensichtlich doch auch mit Dach! Und dafür dürften die damaligen Insassen dankbar gewesen sein…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.