Ein 200er Mercedes und extravagant – das scheint auf den ersten Blick unvereinbar zu sein.
Wer in den 1970/80er Jahren sozialisiert wurde, kann sich an drei Möglichkeiten erinnern, mit denen sich Besitzer eines Mercedes-Benz 200 in ihr Schicksal fügten:
- Man verzichtete auf die Typenbezeichnung auf dem Kofferraumdeckel
- oder montierte nachträglich frech die eines 230er bzw. 280er Modells
- oder stand mutig zu seiner Entscheidung für einen “200 D” beispielsweise.
Umgekehrt verfielen einige Zeitgenossen auf die Idee, ihren in Wahrheit stärkeren Benz mittels Typenschild als biederen “200er” auszugeben und dann auf der Autobahn die Maske fallen zu lassen.
Solche Sachen macht man heute nicht mehr – nur eine Minderheit scheint noch der Auffassung anzuhängen, dass man mit Autos Spaß haben darf. Selbst in Italien scheint man die Lust am Fahren verloren zu haben (Taxifahrer in Neapel ausgenommen).
Auch deshalb beschäftigen wir uns so gern mit Wagen der Vorkriegszeit, als ein Automobil noch ein Vergnügen darstellte, selbst wenn es so bieder daherkam wie hier:

Mercedes-Benz 200 Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Die vier Herren im mittleren Alter, die im Mai 1937 bei Augustusburg in Sachsen auf dem Trittbrett einer braven Limousine des Typs Mercedes-Benz 200 (W21) posierten, sind aus heutiger Sicht selbst Musterexemplare an Biederkeit.
Man stellt sie sich als Beamte, Lehrer und Advokaten vor, vielleicht war auch ein Hausarzt dabei. Draufgängerisches, Sportlichkeit oder Blendertum geht ihnen ab – und das ist durchaus wohlwollend gemeint.
Solcher soliden Stützen der Gesellschaft bedarf es vermutlich mehr als irgendwelcher von Sturm und Drang beseelter Charaktere, die zwar vorübergehend das aufregendere Leben führen mögen, aber kein solides Dasein finanzieren können.
Dann gibt es aber noch eine weitere Kategorie – die des durch Unternehmertum, Erbe oder Glück zu Geld und Unabhängigkeit gekommenen Lebemanns. Einen solchen sieht der Verfasser auf dieser Aufnahme:
Der nach Art eines Großgrundbesitzers gekleidete Herr ist erkennbar mit sich selbst im Reinen – obwohl auch er “nur” einen 200er Mercedes fährt.
Tatsächlich fällt es schwer zu glauben, dass dieses luxuriös und großzügig anmutende Automobil etwas mit dem braven Gefährt auf dem ersten Foto gemein haben soll.
Tatsächlich wurden beide vom selben 6-Zylinder-Motor mit mageren 40 PS angetrieben, den Mercedes damals seinen Kunden vorsetzte.
Hansa etwa bot dieselbe Leistung bei seinem 6-Zylinder des Typs 1700 aus deutlich weniger Hubraum, BMWs Sechszylindertyp 319 bot 10 % mehr Leistung bei identischem Hubraum – alle bei deutlich geringerem Gewicht.
Aber: eine dermaßen großzügige Karosserie bot in dieser Klasse kaum einer der Konkurrenten – vielleicht vom Wanderer W22 abgesehen.
Hier haben wir eine viertürige Cabriolimousine vor uns, wie es scheint. Doch ein Detail fällt dabei aus dem Rahmen:
Die verchromte Sturmstange ist normalerweise ein Element, das sich an Cabriolets findet. Doch der feste obere Abschluss der Türen ist typisch für eine Cabrio-Limousine.
An sich wird bei einem solchen soliden Aufbau keine Sturmstange zur Stabilisierung des Verdecks benötigt. Doch findet sich dieses Detail in der Vorkriegszeit sogar an Limousinen und Coupés als Dekor.
Der Verfasser konnte bisher keine Vergleichsaufnahme finden, die einen Mercedes 200 des Typs W21 als Cabrio-Limousine mit Sturmstange zeigt. Insofern haben wir es am Ende tatsächlich mit einer extravaganten Ausführung zu tun.
Konnte man eine Sturmstange bei diesem Modell als Zubehör ordern? Oder hat sich hier der prestigebewusste Besitzer eine Spezialversion anfertigen lassen?
Ideen und Hinweise dazu sind wie immer willkommen!
© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.