Ein Bergmann-Metallurgique Tourer von 1912

Gut zwei Monate ist es her, dass ich (hier) ein großartiges Foto eines Tourenwagens des belgischen Herstellers Metallurgique vorstellen konnte.

Die Aufnahme stieß auf einige Resonanz, vor allem bei internationalen Lesern, die echte Veteranenwagen eher zu schätzen als viele „Oldtimer-„Freunde in Deutschland, denen die spannende automobile Welt vor 1939 zunehmend fremd zu sein scheint.

Es mag am deutschen Hang zum Herdentrieb liegen, dass man sich mehr für jüngere Massenfabrikate interessiert, deren Wert und Prestige der Nachbar einzuschätzen weiß.

Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel und so fand dieser prächtige Metallurgique auch hierzulande einigen Widerhall:

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Metallurgique von ca. 1910/11; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ich hatte bereits im seinerzeitigen Porträt darauf hingewiesen, dass die Marke Metallurgique sehr enge Verbindungen zu Deutschland besaß.

Nachdem der belgische Eisenbahnbauer 1899 sein erstes Auto vorgestellt hatte, gab es schon ab 1905 eine Niederlassung der Firma Métallurgique in Deutschland (in Köln).

Diese wurde auf Initiative von Herzog Ludwig von Bayern, dessen Schwester mit dem belgischen König verheiratet war, von der Bergmann Elektrizitätswerke AG in Berlin übernommen, die übrigens auch Elektroautos baute.

Die deutsch-belgische Verbindung wurde dadurch unterstrichen, dass der autobegeisterte Herzog Mitglied des Aufsichtsrats der neugegründeten Bergmann-Métallurgique-Gesellschaft wurde. Sie baute Wagen von Métallurgique bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs in Lizenz.

Ein schönes Dokument, das eine raffinierte Limousine von Bergmann-Metallurgique zeigt, ist diese Zeitschriftenreklame:

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Bergmann-Metallurgique, Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Das Windlaufblech zwischen Motorhaube und Frontscheibe verrät, dass dieser Wagen nicht vor 1910 gebaut wurde. Da die Karosserie sicher in Deutschland gefertigt wurde, wird sie den hiesigen gestalterischen Tendenzen entsprechend kaum nach 1911 entstanden sein.

Während Metallurgique in Belgien wie auch einige französische und britische Hersteller teils bis kurz vor dem 1. Weltkrieg an einem wie nachträglich aufgesetzten Windlauf festhielten, wich dieser in deutschen Gefilden schon 1912 einer harmonisch integrierten Version wie hier:

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Bergmann-Metalllurgique um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Ansichtskarte wurde im Mai 1913 auf die Reise geschickt, womit eine Datierung „um 1912“ plausibel erscheint.

Zu diesem Zeitpunkt scheinen die belgischen Metallurgique-Wagen noch keine solchermaßen an die Motorhaube anschließenden Windlauf besessen zu haben. Deshalb nehme ich an, dass es sich um einen Tourenwagen aus der Lizenzfabrikation von Bergmann-Metallurgique mit deutscher Karosserie handelt.

Mit welcher Motorisierung wir es bei diesem Exemplar zu tun haben, lässt sich nur grob eingrenzen. Metallurgique bot seine Wagen ab 1912 in fünf Leistungsklassen an, wobei durchweg Vierzylinder verbaut wurden.

Die Bandbreite reichte von einem neuen kompakten 10CV-Modell mit nur 1,7 Litern Hubraum über die mittleren 12CV- und 16CV-Typen bis hin zu Hubraumriesen der Klassen 26CV und 40CV.

Anhand der Proportionen würde ich die ganz großen Modelle im vorliegenden Fall ebenso ausschließen wie den Einstiegstyp 10CV. Die genaue Motorisierung wird sich kaum klären lassen, aber das tut dem Reiz der Aufnahme keinen Abbruch.

Dazu tragen nicht zuletzt die sechs Insassen bei:

Metallurgique_um_1912_AK_gelaufen_05-1913_Insassen

Der junge glattrasierte Mann am Steuer mit „Kreissäge“ auf dem Kopf nimmt bereits den Stil der frühen 1920er Jahre vorweg, während die älteren Geschlechtsgenossen noch traditionelle Barttrachten zur Schau stellen – durchaus typgerecht, wie ich finde.

Die Damen an Bord mit großem Hut und hochgeschlossenem Kleid lebten zwar in äußerst privilegierten Verhältnissen, dennoch erscheint ihre Rolle aus heutiger Sicht zwiespältig.

Wer wollte letztlich heute mit den Insassen dieses Bergmann-Metallurgique tauschen?

Wenn man nicht wüsste, dass ihnen der Erste Weltkrieg und das darauffolgende Elend bevorstand, könnte man immerhin versucht sein, das Dasein dieser hauchdünnen Schicht an sehr Vermögenden mit einem gewissen Neid zu betrachten.

Denn wer die Mittel hatte, sich einen solchen Manufakturwagen zu leisten, dem stand im Europa vor 1914 eine Welt der Opulenz offen, die heute auch bei unbegrenzten Mitteln nicht mehr zugänglich wäre – weil sie 1918 untergegangen war.

Ich will hier nicht die Fortschritte in der Medizin, Kindersterblichkeit oder in der Teilhabe von Frauen an Bildung und politischer Willensbildung beispielsweise kleinreden, die es seither gegeben hat.

Doch der grenzenlose Genuss der phänomenalen Blüte der Technik, der Wissenschaften und der Künste in jener Zeit des späten Jugendstils, der den Bessergestellten damals möglich war, sucht bis heute seinesgleichen.

Die Insassen dieses Bergmann-Metallurgique bewegten sich in einer ungeheuer produktiven und zugleich ästhetisch bis ins letzte Detail auf höchstem Niveau durchgestalteten Welt.

Doch abgesehen von architektonischen Zeugen und überlebenden technischen Artefakten wie historischen Automobilen ist diese Kultur untergegangen, ohne dass m.E. etwas vom Anspruch her Vergleichbares an ihre Stelle getreten ist.

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

 

 

 

 

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