Wenn man sich ein wenig mit der Welt von gestern auskennt, stellt man immer wieder staunend fest, womit man ahnungslose Zeitgenossen überraschen kann:
- Wie, in Berlin wurde vor dem 1. Weltkrieg dreimal am Tag Post zugestellt?
- Echt, Elektroautos waren vor über hundert Jahren schon ein alter Hut?
- Nee, frische Lebensmittel direkt vor die Tür geliefert gab’s auch schon?
Vermutlich denken die Hipster von heute mit “Bätschelor-Abschluss” in irgendwas mit Medien, dass sie auch den Vollbart erfunden hätten…
Nun, alles schon mal dagewesen. Echte Innovation ist rarer denn je, vor allem in Deutschland mit der heute wohl ärmsten Hauptstadt in der entwickelten Welt.
In deutschen Landen war einst auch dieser eigentümliche Lieferwagen zugelassen, den schauen wir uns heute näher an:

Peugeot 120 oder 122; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Bei der zeitlichen Einordnung des stark gebraucht wirkenden Fahrzeugs helfen folgende Details:
- flügelartige Kotflügel ohne Schmutzschutz an der Innenseite,
- übergangslos auf die Schottwand treffende horizontal verlaufende Motorhaube
- rudimentäre Frontscheibe oberhalb eines flexiblen Wetterschutzes aus Leder
So etwas findet man bei Wagen aus deutscher Produktion zuletzt um 1908/09.
Ab 1910 setzten sich modernere Karosserieformen durch. Dabei ist an erster Stelle der Windlauf zu nennen – eine Blechhaube, die einen strömungsgünstigen Übergang zwischen Motorhaube und Frontscheibe bewirkte.
Das Fehlen eines solchen Windlaufs gibt im Fall dieses Autos allerdings keinen verlässlichen Datierungshinweis. Es handelt sich nämlich ganz offenbar um keinen Wagen eines Herstellers aus dem deutschsprachigen Raum:
Auf dem oberen Teil des Kühlergehäuse sehen wir das verspielte Emblem von Peugeot, wie es vor dem 1. Weltkrieg üblich war.
Also gilt es, die damaligen Typen des ältesten noch existierenden französischen Autoherstellers auf Übereinstimmungen hin zu überprüfen.
An Literatur liegt mir dazu nur Wolfgang Schmarbecks Standardwerk “Alle Peugeot Automobile 1889-1980” vor. Eine aktuellere Quelle in deutscher Sprache als dieses verdienstvolle, doch bald 40 Jahre alte Werk ist mir nicht bekannt.
An dieser Stelle sei – wie schon so oft – die Frage gestellt, was die Automobilhistoriker hierzulande heute eigentlich machen. Von wenigen Ausnahmen (Aga, Röhr, Steiger…) abgesehen, passiert da m.E. viel zu wenig.
Die deutschsprachige Literatur zu europäischen Vorkriegswagen konzentriert sich im wesentlichen auf Werke der 1960er bis 80er Jahre. Zu den rühmlichen Ausnahmen gehören die vorbildlichen Bücher zu den Marken der einstigen Auto Union.
In meinem bevorzugten Klassikermagazin “The Automobile” werden dagegen Monat für Monat neue einschlägige Bücher vorgestellt – Werke in englischer, italienischer und französischer Sprache. Deutsche Neuerscheinungen sind eine seltene Ausnahme.
Ich werte das als eine von vielen Verfallserscheinungen hierzulande – ein auffallendes Desinteresse am alten Europa, neuerdings in zunehmend militanter Form sogar als Geringschätzung und Verächtlichmachung des eigenen Erbes.
Kehren wir zurück vom für mich bedrückenden, weil (selbst)zerstörerischen Zeitgeist zu einer Momentaufnahme aus einer deutschen Großstadt vor rund 100 Jahren:
Was hat es mit diesem geheimnisvollen Peugeot auf sich?
Nun, soweit das Foto diese Einschätzung zulässt, handelte es sich hier um einen der Typen 120 oder 122 von Peugeot, die 1908 bzw. 1910 eingeführt wurden.
Sofern man der Literatur trauen kann, waren das Vierzylindertypen mit 3,1 bzw. 4,6 Liter Hubraum. Die in erwähnter Literatur angegebene Leistung von 16 bzw. 22 PS erscheint gering – evtl. handelte sich um die Dauerleistung, nicht die Spitzenleistung.
Interessanter finde ich aber die Frage, was die Aufschrift auf dem umlaufenden Tuch bzw. der Plane des Wagens bedeutete: “KAFFEE IMPORT RÖSTEREI” steht dort in verblichenen Buchstaben.
Ich glaube nicht, dass es sich dabei um eine reine Werbung für eine ortsansässige Kaffeerösterei handelte. Vielmehr dürfte es sich um einen Lieferwagen für das begehrte Produkt selbst gehandelt haben, vielleicht sogar um eine mobile Rösterei.
So oder so bekamen die Kunden dieses ernst in die Kamera schauenden Peugeot-Fahrers – die damals recht langen Belichtungszeiten der Kameras forderten ihren Tribut – ein denkbar frisches Produkt direkt ins Haus geliefert.
Aus den gerösteten Bohnen mussten sie zwar den Kaffee noch selbst herstellen, aber dieser Lieferwagen brint uns mit einiger dichterischer Freiheit dem Konzept des Kaffee “to go” schon recht nahe.
Mitnehmen konnte man hier zwar noch nicht das Endprodukt, aber die verlockende Vorstufe dazu – und gewiss jeder, der seine Sinne beisammen hat, kennt den betörenden Duft frischgerösteter Kaffebohnen.
Um nicht gänzlich abzudriften – wer hat jetzt nicht genau diesen Duft in der Nase? – will ich zum Abschluss noch einmal den Blick auf den Peugeot lenken:
Wer auf diesem Ausschnitt genau hinschaut, kann links neben dem rechten Bein des Fahrers, der statt Stiefeln mit Lederriemen befestigte Gamaschen trägt, unterhalb des Trittbretts die Glieder der Kette erkennen, die die Antriebskraft vom Getriebe auf die Hinterachse übertrugen.
Laut Wolfgang Schmarbecks Peugeot-Buch war der Typ 122 der letzte PKW der Marke, der einen solchen Kettenantrieb aufwies. Dies bestätigt die Einschätzung, dass wir es mit einem Peugeot von spätestens 1910 zu tun haben.
Die reizvolle Aufnahme mit dem schon etwas mitgenommenen Wagen würde ich auf die Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg datieren. Beim Nummernschild meinte ich zunächst “IA” für Berlin zu lesen.
Mittlerweile neige ich jedoch eher zu München (“IIA”), der heute wohl sympathischsten deutschen Großstadt, die es als einzige verstanden hat, nach den Verheerungen des alliierten Bombenkriegs ihre einstige – fast südländische – Schönheit fast vollständig wiederzuherstellen.
Dazu gehört immer noch eine ausgeprägte Kaffeekultur – heute unter dem Label “to go”!
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Allesamt valide Punkte. Dennoch sehe ich, was im Ausnahmefall auch bei längst untergegangenen Marken ohne Zeitzeugen auch heute möglich ist, wenn es jemand will: Die Bücher über AGA, Steiger sowie WOC in Berlin belegen das. Heute sind einem Autoren dank Internet zudem viel mehr der erhaltenen Dokumente und Photos zugänglich (die im Fall deutscher Vorkriegsmarken oft über die ganze Welt verteilt sind). Wenn ich quasi im Vorübergehen (und mit Hilfe internationaler Kontakte) ganze Typengalerien wiederauferstehen lassen kann, können das die Automobikhistoriker erst recht, die zudem Zugriff auf weitere Materialien wie Prospekte haben, die mir fehlen. Anhand von Zeitungsartikeln, Reklamen, Fotos und Prospekten ist – einige Sorgfalt und Zeit vorausgesetzt auch heute noch möglich, die PKW-Historie von sagen wir Adler, Brennabor und NAG weit besser aufzubereiten, als dies in der älteren Literatur möglich war. Da ich kein Markenspezialist, sondern dilettierender Universalist bin, fehlen mir letztlich die Voraussetzungen, die in den einschlägigen Clubs und IGs mit weit besserem Quellenzugang eher vorhanden sein dürften. Im übrigen sehe ich an den vielen Veröffentlichungen zu absoluten Exotenmarken aus Großbritannien, das man eine schlechte Quellenlage auch sportlich nehmen kann. Von daher behaupte, ich dass es hierzulande nicht zuletzt am ernsthaften Interesse, dem Willen und dem nötigen Biss mangelt…
Nein, der Mangel an deutscher Automobil-Literatur über die Vorkriegszeit ist kein Desinteresse, sondern schlicht und einfach fehlende Quellen. Fast alle mir bekannten Bücher über sekundäre Vorkriegsthemen, also nicht mehr existierende Marken, Persönlichkeiten der zweiten Reihe, lokale Rennveranstaltungen, oder ähnliches, basieren in der Regel auf einem erhalten gebliebenen Archiv, sei es des Unternehmens, des Veranstalters, oder der Familie. Manchmal sind das nur Fotoalben, bei denen man die Bilder mühsam in einen Kontext bringen muss, aber mit viel Glück können das auch schon einmal Firmenarchive oder persönliche Aufzeichnungen sein. Was prädestiniert jemanden ein Buch über ein bestimmtes Thema zu schreiben? Richtig, Wissensvorsprung, was in der heutigen digitalen Welt schlicht und einfach “Papier” bedeutet, welches von Google & Co. auch mit grössten Einsatz nicht gefunden werden kann, solange es in irgendwelchen Kisten auf Dachböden und in Kellern vor sich hingilbt. Je umfangreicher ein solch potentieller Fund ist, desto mehr kann man damit anfangen, vorausgesetzt jemand verfügt über ausreichend Basiswissen und Erfahrung, um die einzelnen Fragmente zu einem harmonischen Gesamtwerk zu verarbeiten.
Gegenüber Frankreich, England, Italien und der Schweiz hat Deutschland in dieser Beziehung einen nichtz zu unterschätzenden Nachteil, nämlich die teilweise flächendeckenden Zerstörungen im 2. Weltkrieg, die viele Archive unwiderruflich dahingerafft haben. Nicht nur die öffentlichen und die grossen der Zeitungsverlage, sondern auch die vielen privaten und persönlichen Photoalben und Schriftverkehrmappen.
Wer z.B. sollte denn ein Werk über Brennabor, Fafnir, Protos oder NAG schreiben? Die haben alle bereits in den 20er oder 30er Jahren dichtgemacht, bzw. den Krieg nicht überlebt. Warum wohl wurden in den 60er bis 80er Jahren noch Bücher über Vorkriegsautomobile geschrieben und veröffentlicht? Weil es eben noch Zeitzeugen gab, die aus erster Hand berichten konnten, und auch noch das eine oder andere Dokument oder Photo besaßen. Wo aber sollen heute noch entsprechende Informationen herkommen? Einmal quer durchs Internet? Das kannst du auch selber, Warum also sollen andere bessere Voraussetzungen haben als du und ich um eine “Bibel” über irgendeine vergessene Marke zu produzieren?
Besten Dank, Herr Dege! Haben Sie vielleicht ein Foto des Wagens Ihres Herrn Großvater? Vielleicht könnten wir das im Blog vorstellen, natürlich mit Nennung des Besitzers.
Ich lese sehr gerne Ihre Texte, die Bilder sind sehr schön. Mein Großvater war einer der ersten, der im Dorf damals ein Kraftfahrzeug hatte. Herzliche Grüße aus Berlin, Peter