Arrivierter Typ: Ein Minerva von 1906/07

Einst pflegte man zu sagen, dass jemand „arriviert“ sei, wenn er es in Wirtschaft und Gesellschaft zu einer herausgehobenen Position gebracht hatte. Das war dem Französischen „être arrivé“ entlehnt, was schlicht „angekommen sein“ bedeutet.

Sprachlich geht es damit schon einmal in die richtige Richtung, denn heute haben wir es mit einem „arrivierten Typ“ aus Belgien zu tun – wobei sich das nicht nur auf das Auto bezieht, sondern auch auf den Besitzer mit Melone im Fond:

Minerva Typ 22 CV bzw. 24 CV von 1906 bzw. 1907; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schöne Foto schlummerte eine ganze Weile in meinem Fundus. Es war bis dato eines von hunderten, bei denen das abgebildete Automobil der Identifikation harrt.

Von Zeit zu Zeit gehe ich diese Aufnahmen durch in der Hoffnung, dass irgendwo „der Groschen fällt“. Nebenbei ein Bonmot, das jemand aus Deutschland, der heute Anfang 20 ist, schon nicht mehr kennt. Er hat statt der harten, von der Bundesbank verteidigten Mark zeitlebens nur die hemmungslos inflationierte Kunstwährung Euro erlebt.

So ändern sich die Zeiten. Umbrüche – wie heute nicht nur zum Besseren – kennzeichneten auch die Epoche, in der das Automobil den Kinderschuhen entwuchs und ein alltagstaugliches Fortbewegungsmittel für „arrivierte Leute“ wurde.

Doch in welche Zeit transportiert uns eigentlich diese Aufnahme zurück und was für ein Fahrzeug ist darauf zu sehen? Nun, die erste Frage ist noch recht leicht anhand einiger Details der Frontpartie zu beantworten:

Die großen, mit Karbidgas betriebenen Messingscheinwerfer sind schon einmal ein klarer Hinweis auf ein Fahrzeug aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Damals war elektrische Beleuchtung an Automobilen noch selten und meist nur als Extra erhältlich.

Für eine Entstehung vor 1910 spricht tendenziell das Fehlen einer „Windkappe“ – eines strömungsgünstig gestaltenen Blechs, das von der Motorhaube zur Windschutzscheibe überleitet – mitunter auch als „Windlauf“ oder „Torpedo“ bezeichnet.

Speziell Fahrzeuge aus dem französischen Sprachraum kamen zwar oft noch bis zum 1. Weltkrieg ohne dieses dem Rennsport entlehnte Karosseriedetail aus, doch verrät ein Element, dass wir sogar noch weiter die Vergangenheit zurückgehen müssen.

So finden sich die schräg wie Flügel ausgestellten und noch nicht nahtlos ans Trittbrett anschließenden Vorderschutzbleche nur etwa bis 1908.

Beim Studium des Vorderwagens fallen weitere Details ins Auge. Zu nennen ist vor allem die beiderseitige Einbuchtung des Oberteils der Motorhaube, in der sich die geschwungene Silhouette des Kühlergehäuses fortsetzt.

So etwas findet man zwar an einer Reihe von Wagen jener Zeit, doch als wahrscheinlichster Kandidat kommt Minerva aus Belgien in Frage. Denn in der Literatur (Kupélian/Sirtaine: Le Grand Livre de l’Automobile Belge“) findet sich im Kapitel über Minerva eine Abbildung, die ein nahezu identisches Fahrzeug aus fast derselben Perspektive zeigt (S. 73).

Der einzige Unterschied besteht darin, dass sich dort keine Kisten auf dem Trittbrett befinden, sodass der Blick auf den noch unverkleideten Rahmen geht. Alles übrige wie die Gestaltung der Luftschlitze, Position des Haubenhalters, Kotflügelform, Lage und Ausführung von Schalt-/Bremshebel und sogar der komplette Aufbau stimmen überein.

Das ist ein ausgesprochener Glücksfall, denn besagtes Foto aus der Literatur zeigt einen Minerva des Typs 22CV, der 1906 eingeführt wurde. Damit war die noch junge Marke – das erste Automobil von Minerva war erst 1900 vorgestellt worden – endgültig unter den bedeutenden europäischen Herstellern „arriviert“.

1906 war zugleich das Jahr, in dem Minerva-Wagen erstmals an der charakteristischen Einbuchtung in der Haube erkennbar waren. Sie blieb bis in die 1930er Jahre ein Markenzeichen neben der Kühlerplakette mit der römischen Göttin Minerva.

Äußerlich praktisch unverändert wurde das Modell auch 1907 angeboten – lediglich der Motor war von 3,6 auf 4,1 Liter vergrößert worden und besaß nun die Bezeichnung 24 CV.

Der zuletzt gezeigte Bildausschnitt lässt übrigens ein interessantes – gewiss nicht serienmäßiges – Detail erkennen: eine Leitung, die sich an der Wagenflanke entlang über den hinteren Türgriff zum Heck schlängelt.

Offenbar handelt es sich um eine Gasleitung, die zusätzliche Lampen am Heck versorgte. So etwas war meines Wissens seinerzeit noch unüblich und die Verlegung der Gasleitung verrät, dass diese nachträglich improvisiert wurde.

Das lässt darauf schließen, dass man den Begriff „Alltagswagen“ sehr wörtlich nahm – dieser Minerva wurde wohl öfters auch bei Dunkelheit und schlechter Sicht bewegt. Dafür hielt man die damals üblichen Petroleumleuchten am Heck für unzureichend.

Was mag das nun für ein Mann gewesen sein, der diesen Minerva mit Chauffeur offenbar intensiv nutzte?

Leider verrät der Originalabzug nichts darüber. Doch der Hintergrund mit einer Art Verladestation für Fässer unbekannten Inhalts dürfte nicht zufällig gewählt sein. Vermutlich entstand das Foto auf dem Gelände einer Fabrik, deren Inhaber der uns freundlich anschauende Passagier im Heck des Minerva gewesen sein dürfte.

Trotz seines doppelreihigen Mantels befand er sich gegenüber dem Chauffeur bei Fahrt mit niedergelegtem Verdeck in der kühlen Jahreszeit in keiner komfortablen Position.

Das mit Lederriemen fixierte Gestänge spricht dagegen, dass man das Verdeck für diese Aufnahme vorübergehend geöffnet hatte. Denkbar ist, dass der Wagenbesitzer es sich während der Fahrt neben dem Chauffeur gemütlich machte, der durch die Windschutzscheibe besser geschützt war und außerdem die Abwärme von Motor und Getriebe genießen konnte.

Dass der Fahrer hier dennoch mit riesigem Pelzkragen, Fellhandschuhen und Pelzdecke über den Beinen posiert, dürfte der Eitelkeit geschuldet sein – solche Details waren wie die Schirmmütze Insignien der damals für ihr Können geschätzten Chauffeure.

Dass sich Wagenbesitzer mit dem Fahrer ablichten ließen und diese bei der Gelegenheit oft noch eine weitere Aufnahme allein nur mit „ihrem“ Wagen spendiert bekamen, war durchaus üblich und verrät viel von der Wertschätzung, die die Chauffeure genossen.

Über 110 Jahre dürfte es nun her sein, dass dieses schöne Dokument eines frühen Firmenwagens entstand – und darf mit Recht sagen, dass der Besitzer damit ebenso arriviert war wie die Marke Minerva, die noch eine große Zukunft vor sich hatte.

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Arrivierter Typ: Ein Minerva von 1906/07

  1. Besten Dank für Ihren Kommentar, Herr Huber! Die Windkappe tauchte erstmals bei der Prinz-Heinrich-Fahrt von 1908 auf, ab 1910 setzte sie sich dann auf breiter Front im deutschsprachigen Raum durch. Dass sie vereinzelt auch nach Prinz-Heinrich benannt wurde, war mir neu, aber man lernt ja nicht aus. Viele Grüße, Michael Schlenger

  2. Sehr geehrter Herr Schlenger,
    Windkappe etc.

    mir wurde erklärt, dass der Teil zwischen Spritzwand und Windschutzscheibe „Prinz Heinrich“ genannt wird, da dieser, für Fahrzeuge welche anläßlich der Prinz Heinrich Fahrt 1910 starteten, erstmals konstruiert wurde. siehe Austro Daimler Prinz Heinrich Wagen

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