Das kleine Belgien ist vermutlich das Land mit der höchsten Dichte an historischen Automobilmarken – gemessen an Fläche und Einwohnerzahl. Davon sind beim großen östlichen Nachbarn heute bestenfalls noch zwei bekannt: Metallurgique und Minerva.
Der 1878 von Sylvain de Jong in Anvers gegründeten Firma Minerva gelang ein kometenhafter Aufstieg wie kaum einem anderen belgischen Hersteller. Auf die Fabrikation von Fahrräder und Motorrädern folgte 1900 das erste Automobil.
Nur wenige Jahre später war Minerva in der europäischen Spitzenklasse angelangt, insbesondere mit leistungsfähigen und komfortablen Sechszylindermodellen.
Auch nach dem 1. Weltkrieg blieb man auf Erfolgskurs, das Werk hatte die jahrelange deutsche Besatzung recht intakt überstanden.
1920 stellte Minerva einen neuen Sechszylinderwagen vor, den Typ 30 CV mit 5,4 Litern Hubraum. 1923 wurde das Modell mit Vorderradbremsen ausgestattet und auch sonst laufend modernisiert.
Um 1925 stellte sich ein solcher Minerva 30 CV so imposant dar wie hier zu sehen:

Selbst die nochmals wesentlich schwereren geschlossenen Versionen des Minerva 30 CV erreichten damals bei Versuchsfahrten bereits Höchstgeschwindigkeiten von 120 km/h.
Ausfahren ließ sich das zwar kaum, aber man ahnt die kolossale Leistungsfähigkeit der verbauten Motoren – Voraussetzung für eine vollkommen unangestrengte und leise Kraftentfaltung, die außer zum Anfahren selten einen Schaltvorgang erforderte.
1928 wurde das Aggregat auf fast 6 Liter aufgebohrt, was sich in der Modellbezeichnung widerspiegelte, welche den Steuer-PS entsprach, also nunmehr 32 CV. Die effektive Höchstleistung erreichte während der fast zehnjährigen Bauzeit zuletzt 150 PS.
Ein recht frühes Exemplar des Minerva 32CV findet sich auf diesem Foto, das mir Leser Matthias Schmidt in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat:

Zurecht werden Sie jetzt einiges an dieser Aufnahme auszusetzen haben: die geringe Auflösung etwa, aber auch die kunstlederne Manschette mit verstellbarem Rollo, welche in der kalten Jahreszeit eine Anpassung der Kühlerleistung ermöglichte.
Mangels Thermostat im Kühlkreislauf ließ sich nur durch teilweises Verdecken der Kühleroberfläche erreichen, dass der Motor auch bei kalten Außentemperaturen rasch warm werden konnte. Nebenbei weiß vielleicht ein Leser, bei welchem Serienauto zuerst ein Kühlerthermostat verbaut wurde, ich würde hier auf eine US-Marke tippen.
Zu beanstanden ist hier des weiteren, dass der Wagen ohne Vorderstoßstange merkwürdig unfertig wirkt. Mag sein, dass er gerade erst frisch ausgeliefert worden war und eine Stoßstange wie damals noch teilweise üblich erst nachträglich angebracht wurde.
Bei der Gelegenheit prägen wir uns auch das Kennzeichen (AXVI 18) und die “Scheibenräder” ein. Aufgenommen wurde das Foto übrigens im März 1929.
Wir halten kurz inne: Gegenüber der Tourenwagenausführung von Mitte der 1920er Jahre ist der Sechszlinder-Minerva inzwischen deutlich gereift – nun strahlt er statt der Offenheit von einst eine auf Distanz bedachte Würde aus.
Die Insassen dieses Wagens wollten nicht mehr zwangsläufig für jedermann sichtbar im Straßenverkehr unterwegs sein, wenngleich die Möglichkeit bestand, das Cabrioletverdeck zu öffnen, und zwar unabhängig vom Fahrerabteil.
Ein Jahr und gut drei Monate später – im Juli 1930 begegnet uns derselbe Minerva 32 CV wieder – doch hier sieht er wie verwandelt aus:

Das Kennzeichen ist dasselbe – übrigens eines aus Wien.
Neu hinzugekommen ist indessen ein Stoßfänger in einem damals eigentlich längst veralteten Stil, man hätte hier eine elegante Ausführung aus zwei durchgehend parallelen Stangen erwartet – etwas merkwürdig.
Verschwunden ist natürlich die erwähnte Kühlermanschette und nun ist der Minerva-typische Kühler zu erkennen, über dem die namengebende römische Göttin der Weisheit und der Wehrhaftigkeit thront.
Ebenfalls dem Frühjahrsputz zum Opfer gefallen sind die Abdeckscheiben auf den Drahtspeichenrädern. Seinem eigenen Freiheitsdrang hat auch der Fahrer nachgegeben. Er sitzt nun unter offenem Himmel, während die Herrschaften im Heck weiterhin die Privatheit eines Salons auf Rädern genießen können.
In Würde gereift steht der große Minerva-Sechszylinder da – es gab übrigens auch schon früh eine “kleinere” Ausführung mit der Typbezeichnung 20 CV.
Als hinreißend schön würde man dieses mächtige Automobil zwar sicher nicht bezeichnen, aber in natura sind diese luxuriösen Minervas dennoch äußerst beeindruckend.
Bedrückend ist eher die kaum vorhandene Kenntnis von der einstigen Klasse und Bedeutung dieser Spitzenklasseautomobile – wie überhaupt der enorm reichen belgischen Fahrzeugtradition – in deutschen Landen.
Ja, liebe “Oldtimer”freunde im frühen 21. Jh, es gibt jenseits von Mercedes, Horch und Maybach oder auch Alfa, Bentley und Bugatti eine unermessliche Welt großartiger Vorkriegswagen da draußen, von der man hierzulande leider viel zu wenig sieht.
Der Besuch einer Klassikerveranstaltung bei unseren westlichen Nachbarn ist in der Hinsicht augenöffnend – in Würde gereiftes Vorkriegsblech gibt es dort in atemberaubender Form und Fülle zu entdecken…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.