Unter dem Dach der Auto-Union der 1930er Jahre wurde einst neben Audi, DKW und Horch auch die heute kaum bekannte Marke Wanderer integriert. Neben den wenig eingängigen Modellbezeichnungen mag die anspruchslose Technik dazu beigetragen haben, dass Wanderer weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Dabei war ein Wanderer ab den späten 1920er Jahren ein ausgewiesenes Qualitätsauto, das das Kleinwagenimage des Erstlings – des “Puppchens” – abgelegt hatte.
Kürzlich haben wir hier den Wanderer W10 / IV besprochen, mit dem sich die Firma als Mittelklassehersteller etablierte. So gut verarbeitet diese Vierzylinderwagen auch waren – der zunehmenden Konkurrenz aus Übersee in Form preisgünstiger, leistungsfähiger und komfortabler 6-Zylinder Autos aus US-Produktion hatten sie nichts entgegenzusetzen.
Wie die Frankfurter Marke Adler mit dem “Standard 6” beschloss auch Wanderer 1927 den Bau eines Sechszylinders, der als W11 bezeichnet wurde. Der Motor war aus dem 4-Zylinderaggegrat des W10 abgeleitet, auch formal ähnelte der ab 1928 gebaute W11 zunächst dem Vorgänger.
1929 wurden dann endlich eine der Klasse des Wagens entsprechende Karosserie angeboten, die sich eng an amerikanischen Vorbildern orientierte. Einen solchen 6-Zylinder-Wanderer mit vier Grazien zeigt folgendes Originalfoto:
© Wanderer Typ W11, Bj. 1929/30; Foto aus Sammlung Michael Schlenger
Bevor wir uns den Damen zuwenden, steht als Pflichtprogramm zunächst die Identifizierung des Wagentyps an. Denn dass es ein Wanderer W11 ist, der hier als dekorativer Hintergrund und Sitzgelegenheit dient, ist nicht ganz einfach herauszufinden.
Dieses Bild ist ein Beispiel dafür, dass man auch im Internetzeitalter am guten alten Autobuch nicht vorbeikommt, wenn es um die zuverlässige Ansprache von Marke und Typ geht. Zwar wird in unseren Tagen viel von digitaler Intelligenz schwadroniert, doch keine noch so schlaue Suchmaschine wird einem jemals verraten, was das für ein Auto ist.
Dagegen reicht ein Fundus an -sagen wir – zwei Dutzend gut bebilderten Autobüchern und vielleicht eine Stunde Recherche, um den genauen Typ zutagezufördern.
Am Anfang steht die plausible Annahme, dass ein in Deutschland erworbenes Foto der Vorkriegszeit wahrscheinlich ein Fahrzeug zeigt, dass auch hierzulande gebaut wurde. Damit schließen wir bei aller äußeren Ähnlichkeit insbesondere amerikanische Wagen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre aus, obwohl auch sie einst recht zahlreich im deutschen Sprachraum zu finden waren.
Um 1930 kommen für ein Auto dieses Formats nur wenige Großserienhersteller in Frage: Adler können wir anhand der Kühlluftschlitze ausschließen, Brennabor ebenso. Opels 12/50 PS Modell und der NAG 12/60 PS wirken von Dimension und Proportion auf den ersten Blick ähnlich, dennoch ergibt sich auch hier keine volle Übereinstimmung.
So bleibt der Verdacht, dass es sich um einen Wanderer handelt und tatsächlich liefert die einschlägige Literatur ein exaktes Pendant zu dem Auto auf unserem Foto. So ist im vorbildlichen Werk “Wanderer Automobile” von Erdmann/Westermann (Verlag Delius Klasing, 2. Auflage 2011) auf Seite 111 praktisch derselbe Wagen abgebildet.
Typisch sind die schlichten Luftschlitze in der Motorhaube, die Chromscheinwerfer, die Scheibenräder mit fünf Radbolzen und verchromter Nabenkappe sowie die Platzierung der Türgriffe in der dunkel abgesetzten Zierleiste unterhalb der Dachpartie. Ahnen lassen sich auch die Blinkleuchten auf den Schutzblechen, die es so nur bei Wanderer gab.
In dieser Ausführung wurde der Wanderer W11 ab 1928 angeboten. Mit seinem 2,5 Liter großen und 50 PS starken Sechszylinder, hydraulischen Bremsen und bester Verarbeitung konkurrierte der Wagen insbesondere mit dem Adler Standard 6.
Leider verhinderte die Weltwirtschaftskrise einen größeren Erfolg dieses repräsentativen Wagens. Dennoch erwarb sich Wanderer mit dem W11 beträchtliches Prestige, das auf die nachfolgenden Modelle abstrahlte.
Zum Schluss seien auch die vier Damen gewürdigt, die für unsere Aufnahme auf dem Trittbrett Platz genommen haben:
Der Reiz dieser vier Grazien liegt nicht zuletzt darin, dass sie vollkommen individuell wirken – sowohl vom Typ als auch von Kleidung und Frisur her. Das Klischee vom Modediktat der Vorkriegszeit erweist sich hier als ebensolches.
Bei keiner der Damen hat man den Eindruck, dass sie einem ihrem Typ widersprechenden Vorbild aus Film, Funk und Fernsehen nacheifern oder sich von ihrer Friseuse oder Visagistin zu einem deplatzierten Erscheinungsbild haben überreden lassen.
Der geneigte Leser stelle sich die Vier für einen Moment mit sogenannter Funktionsjacke, Trekkinghosen und Turnschuhen vor. Wäre das Ergebnis auch nur halb so attraktiv?
Genau. Deshalb sind diese alten Fotos von Autos und den Menschen, die einst damit unterwegs waren, in vielerlei Hinsicht eine Offenbarung.