Ein Gräf & Stift von 1911 vor dem Grand Hotel in Trient

Dieser Oldtimerblog spiegelt eine persönliche Passion ebenso wider wie ein objektives Defizit: Denn Vorkriegswagen und speziell Automobile der Pionierzeit werden in einschlägigen deutschsprachigen Publikationen stiefmütterlich behandelt.

Der Verfasser will dazu beitragen, dass Veteranenfahrzeuge hierzulande nicht lediglich als Kuriositäten wahrgenommen werden, sondern als technisch wie historisch faszinierendes Thema mit unerschöpflichen Facetten.

Dazu werden hier unveröffentlichte Originalfotos besprochen, die die Bandbreite an Marken, Typen und Konzepten illustrieren, die es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab – und die unsere moderne Mobilität ermöglichten.

Hier kommen Großserienhersteller wie Nischenproduzenten gleichermaßen zu ihrem Recht. Keine Marke ist zu volkstümlich, kein Name zu elitär – präsentiert wird alles, was einst auf unseren Straßen unterwegs war und in Fotos festgehalten wurde.

Heute haben wir es mit einem echten Leckerbissen zu tun. Eine solche Aufnahme und einen solchen Wagen sucht man in der Klassikerpresse meist vergeblich:

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Gräf & Stift von 1911, aufgenommen vor dem Grand Hotel in Triest

Bevor es an die Identifikation des Wagens und des Aufnahmeorts geht, einige Gedanken zur Wirkung dieser weit über 100 Jahre alten Fotografie.

Bildaufbau und Belichtung sind perfekt – hier wurde bewusst der vor einer Fassade im Stil des Historismus platzierte Wagen ins Visier genommen. Das Auto wird ebenso durch den repräsentativen Bau geadelt wie dieser durch das luxuriöse Gefährt eine willkommene Ergänzung erfährt.

Man stelle sich dieselbe Situation mit einem der wild in alle Richtungen wuchernden Wagen unserer Tage vor – man würde sich hier jedenfalls kein „SUV“ wünschen…

Das Geheimnis der Wirkung liegt darin, dass die frühen Automobile derselben gestalterischen Tradition entstammten wie die Gebäude, vor denen sie – damals noch in maßvoller Anzahl – abgestellt wurden.

Unser Fotograf verstand auch etwas von Inszenierung. So hat er die beiden in helle Staubmäntel gewandeten Herren links und rechts neben dem Wagen posieren lassen – das betont die Länge des Wagens und rahmt ihn wirkungsvoll ein. Die grandiose Fassade schafft den passenden Hintergrund dazu.

Nun aber ein näherer Blick auf dieses repräsentative Automobil:

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Aus stilistischer Sicht lässt sich der Entstehungszeitraum auf 1910-12 einengen. In dieser Zeit traf die Motorhaube nicht mehr abrupt auf die Schottwand, hinter der sich Armaturen und Fahrer befanden. Erst später verschmolzen die Partie vor der Frontscheibe (hier nicht vorhanden) und der Motorhaube zu einer Einheit.

Die hellen Reifen (noch ohne Rußbeimischung) und das Fehlen von Vorderradbremsen sprechen ebenfalls für eine Entstehung vor dem 1. Weltkrieg. So weit, so gut. Doch lassen sich auch Marke und Typ des Wagens bestimmen?

Den Schlüssel dazu liefert das Gebäude im Hintergrund. Das Schild über dem Eingang mit der Aufschrift „Grand Hotel Trento“ verweist auf die Stadt Trient, die vor dem 1. Weltkrieg im österreichisch-ungarischen Reich lag.

Somit spricht die Wahrscheinlichkeit für ein deutsches oder österreichisches Automobil. Eine Umfrage in der Vorkriegsauto-Gemeinschaft im Netz (www.prewarcar.com) lieferte „Gräf & Stift“ als wahrscheinlichen Hersteller.

Der Verfasser unternahm auf dieser Grundlage eigene Recherchen und gelangte zu folgendem Ergebnis:

Das Auto auf dem Foto ist ein Gräf & Stift aus dem Jahr 1911. Auf Seite 77 des Buchs „Die Brüder Gräf“ (Hans Seper, Wien 1991) ist ein ähnlicher Wagen zu sehen. Er trägt zwar einen Limousinenaufbau, doch die Frontpartie ist praktisch identisch.

Ein Tourenwagen der österreichischen Luxusmanufaktur Gräf & Stift passt hervorragend zur mondänen Örtlichkeit, an der dieses Bild einst entstand.

Man mache nicht den Fehler, nach einem zeitgenössischen „Grand Hotel Trento“ im Netz zu suchen. Man findet so nur eine Scheußlichkeit gleichen Namens, die in den 1930er Jahren ein Ignorant in die Altstadt von Trient hineinbetonierte.

Zum Glück gibt es das klassische Gebäude noch, vor dem vor 105 Jahren (wir schreiben das Jahr 2016) der majestätische Gräf & Stift von einem fähigen Fotografen zur Freude der Nachwelt abgelichtet wurde.

Der Bau liegt an der Piazza Dante in Trient und beherbergt heute die Verwaltung der Autonomen Provinz Trento.

Ein Gedanke zu „Ein Gräf & Stift von 1911 vor dem Grand Hotel in Trient

  1. Tja, auch das einer von vielen deutschen Sonderwegen nach dem 1. Weltkrieg wie das Festhalten am Spitzkühler. Selbiger harmonierte allerdings durchaus mit einer Reihe hinreißender Entwürfe, die selbst in England Bewunderung fanden, wo man einen gänzlich anderen Stil pflegte. Beispiele dazu folgen…

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