Als diskussionsfreudiger und meinungsstarker Mensch habe ich zu unterschiedlichen Ansichten stets eine positive Einstellung gehabt. Erst im Wettstreit gegensätzlicher Sichtweisen und Einschätzungen kann eine Annäherung an das gelingen, was man im Rahmen des uns Menschen Möglichen für wahr und richtig halten kann.
Das ist keine Frage der Mehrheitsmeinung oder gar der Autorität, sondern schlicht der gründlicheren Betrachtung, der überzeugenderen Schlussfolgerungen, letztlich des besseren Arguments.
Wird ex cathedra behauptet, dass eine Sache abschließend geklärt sei, nicht in Frage gestellt oder auf seine Grundlage hin abgeklopft werden dürfe, werden gar bestimmte Ansichten und ihre Vertreter a priori von der Diskussion ausgeschlossen, dann darf man zuverlässig davon ausgehen, dass andere Interessen im Spiel sind.
Denn warum sollte einer sein Bild der Dinge nicht auf den Prüfstand unterschiedlicher Ansichten stellen wollen? Reiner Unsinn entlarvt sich entweder selbst als solcher oder lässt sich leicht durch das bessere Argumente, Evidenz oder schlicht Logik zurückweisen.
Gelingt das nicht, muss man sich wohl oder übel mit unterschiedlichen Ansichten auseinandersetzen – so schön es für manchen sein mag, ungestört seine exklusive Sicht der Welt verbreiten zu können.
Von daher plädiere ich für das unbedingte Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander unterschiedlicher Ansichten in allen Fragen – das gilt sogar für so banale Gegenstände wie alte Autos und ihre Einordnung in der Welt von gestern.
Dass manche Dinge wohl für immer im Nebel der Geschichte bleiben werden, soll uns nicht davon abhalten, uns dennoch damit auseinanderzusetzen, um vielleicht doch zu einer klareren Sicht zu gelangen:
Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Es könnte ein trüber Novembertag vor über 90 Jahren gewesen sein, als diese auf den ersten Blick wenig aufschlussreiche Aufnahme entstand.
Viel mehr als einen Lastkaftwagen, einen Traktor und eine Limousine konnte ich durch den Nebel eines stark verblassten Fotos kaum erkennen, als ich dieses erwarb. Doch mir gefiel die spätherbstliche Stimmung und die ungewöhnliche Konstellation.
Die oben gezeigte, etwas nachbearbeitete Fassung lässt schon mehr erkennen. Tritt man virtuell näher auf den Personenwagen zu – offensichtlich mit großem Sechsfenster-Aufbau – ahnt der Kenner bereits, worum es sich handeln dürfte:
Die Gestaltung der Trittschutzbleche unterhalb der Türen findet sich so nur bei Opels der zweiten Hälfte der 1920er Jahre unabhängig von der Größe des Wagens.
Die schiere Länge des Fahrzeugs ist jedoch bereits ein Hinweis darauf, dass wir es mit einem der beiden mächtigen Sechszylindertypen zu tun haben, die Opel ab 1927 unter Bezugnahme auf die Höchstgeschwindigkeit als Modell 90 bzw. 100 anbot.
Die jeweilige Motorenspezifikation der großen Opels lautete 12/50 PS bzw. 15/60 PS, wobei beide Varianten das gleiche Fahrgestell mit 3,5 Meter Radstand besaßen. Man fühlt sich dabei an den fast identisch dimensionierten Simson Typ R 12/60 PS erinnert, der Gegenstand meines vorherigen Blog-Eintrags war.
Opel musste freilich mit etwas mehr Hubraum für dieselbe Leistung aufwarten, da die von den Rüsselsheimern verwendeten Seitenventile nicht dieselbe Effizienz wie die im Zylinderkopf hängenden Ventile des Simson ermöglichten.
Der Simson mag auch luxuriöser ausgeführt und hochwertiger verarbeitet gewesen sein, war er nochmals teurer als die ohnehin enorm kostspieligen Opel-Sechszylinderwagen. Das kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass Opel bei der Fertigung von seiner Erfahrung als Großserienproduzent (Typ 4 PS “Laubfrosch”) profitierte.
Dennoch blieben auch die Stückzahlen dieser beeindruckenden Opel-Oberklassewagen mit rund 3.500 Exemplare binnen drei Jahren weit unter dem Standard echter Massenproduzenten. Im Vergleich zu Simson waren sie gleichwohl ein großer Erfolg.
Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Man sieht daran, dass bei der Beurteilung eines Fahrzeugtyps durchaus unterschiedliche Ansichten dabei helfen, ein schlüssiges Gesamtbild im einstigen Kontext zu erhalten.
So ist es doch nicht sehr befriedigend, einem solchen großen Opel nur aus der schnöden Seitenansicht zu begegnen, nicht wahr?
Mit Vergnügen kann ich heute gleich zwei unterschiedliche Ansichten dieser beeindruckenden Wagen präsentieren. Ich bin sicher, dass beide etwas für sich haben, so gegensätzlich sie auch sind.
Möglich gemacht hat dies insbesondere Leser Matthias Schmidt (Dresden), der uns großzügig an zwei Fotodokumenten aus seiner Sammlung teilhaben lässt.
Hier haben wir das erste:
Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Matthias Schmidt (Dresden)
Eine phänomenales Foto, das den großen Opel in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Man könnte fast einen amerikanischen Luxuswagen vermuten, wäre da nicht das typische Markenemblem auf dem Kühlergehäuse.
Tatsächlich hatten sich die Rüsselsheimer wie fast alle deutschen Autohersteller jener Zeit an amerikanischen Vorbildern orientiert, die ab 1925 den deutschen Markt eroberten.
Opel hatte sich bei der Kühlergestaltung kühn bei Packard bedient, damals “die” US-Luxusmarke, die noch oberhalb von Cadillac angesiedelt war.
Dass die Amerikaner daran Anstoß genommen hätten, ist mir nicht bekannt, vermutlich war es ihnen egal, da Opel kein Konkurrent im Premiumsegment war.
In Deutschland jedenfalls war eine solcher großer Opel wie dieses in Hamburg zugelassene Exemplar aufsehenerregend. Mag sein, dass er neben dem Schulhof einer Mädchenschule geparkt hatte, da weit und breit kein Bub zu sehen ist.
Wer daran Anstoß nimmt, weil Autos doch weit überwiegend Männersache waren und man schon ein repräsentatives Bild zeichnen sollte, dem kann geholfen werden – diesmal von Leser Klaas Dierks, der ein ebenso beeindruckendes Fotodokument beisteuern konnte:
Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Klaas Dierks
Auf dieser an der Rheinpromenade in Remagen festgehaltenen Situation ist die Männerwelt wieder in Ordnung, auch wenn der Herr links etwas griesgrämig dreinschaut. Die verkrampfte Haltung seiner rechten Hand kann alle möglichen Ursachen gehab haben – von einem dringenden Bedürfnis über allgemeines Unwohlsein bis hin zu Zahnschmerzen.
Man sieht hier, dass es auch zu den Ursachen menschlicher Befindlichkeiten unterschiedliche Ansichten geben kann. Ihre ist wie stets willkommen.
Doch will ich nicht schließen, um nach diesen Betrachtungen doch noch einen überraschenden Kontrapunkt zu setzen.
Ein guter Geist und kluger Kopf hat nämlich einst dafür gesorgt, dass das Bild auf den großen Sechszylinder-Opel erst dann komplett ist, wen man konträr zum Konsens an die Sache herangeht:
Opel Model 90 (12/50 PS) bzw. 100 (15/60 PS); Originalfoto: Matthias Schmidt (Dresden)
Das ist natürlich derselbe Opel wie auf dem ersten Foto, das mir Matthias Schmidt in digitaler Form zur Verfügung gestellt hat. Dennoch bin ich der Überzeugung: So haben sie diesen Wagen noch nie gesehen!
Das Studium der Details überlasse ich dem Einzelnen. Für mich ist es heute genug, anschaulich gemacht zu haben, dass in unterschiedlichen Ansichten großer Reiz, bisweilen sogar Schönheit und am Ende vielleicht überraschende Erkennntnis liegt.
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Der Titel meiner heutigen Betrachtung ist aus der Not geboren. Etwas Besseres ist mir spontan nicht eingefallen, und auf die Überschrift ver(sch)wende ich normalerweise nur ein paar Sekunden. Geistesblitze stellen sich entweder sofort ein oder nicht.
So ist es also diesmal ein “mobiler Blumenladen”, den ich Ihnen heute nahebringen will. Ganz abwegig erscheint dies schon deshalb nicht, weil diejenigen, welche es sich leisten konnten, sich auch vor 100 Jahren schon alles Mögliche ins Haus liefern lassen konnten.
Das geschah zunehmend mit dem Lieferwagen, bisweilen aber auch mit einem für eine ansprechende Warenpräsentation besser geeigneten Auto mit offenem Tourenaufbau.
Das folgende Beispiel verdanke ich Leser Matthias Schmidt (Dresden), und er teilte mir auch mit, dass der Originalabzug mit dem Vermerk “Berlin, Juni 1929” versehen ist:
Simson “Supra” Typ So 8/40 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Wer sein Leben nicht nur von Notwendigkeiten geleitet gestaltet – solche Zeitgenossen gibt es auch oberhalb der Armutsgrenze – der hat nicht nur ein Herz für den großen Freiheitsbeförderer in Form des Automobils, sondern schätzt auch die Gaben der Natur.
So verbinden sich auf dieser Aufnahme beide Welten vorzüglich – die Sphäre der unauffällig funktionierenden Technik und die Magie der opulenten Farbe und Form, wie sie sich uns in Gestalt blühender Pflanzen zweckfrei zum reinen Plaisir präsentiert.
Mindestens ein Leser dieses Blogs vereint in seiner Vita dieses Nebeneinander in kaum zu übertreffender Form: einst erfolgreicher Blumenhändler und bis heute leidenschaftlicher Liebhaber des alten Blechs. Ihm sollte dieser Transporter also besondere Freude bereiten.
Aber was war das überhaupt für ein Automobil, das uns hier so wundersam belebt begegnet? Die Antwort liefert wie so oft bei Vorkriegsmodellen die Frontpartie:
Lassen Sie sich nicht von dem Blick der jungen Dame ablenken, welche hier vorgibt, den Motor des Wagens mit der Anlasserkurbel zu starten. Solches war bei hochwertigen Wagen ab 1920 kaum mehr notwendig, wenn nicht gerade die Batterie streikte.
Der professionelle Blick fokussiert sich auf die Gestaltung der Kühlerpartie mit dem vorkragenden Einfüllstutzen und der Motorhaube mit den auffallend schmalen und hohen Luftschlitzen sowie der umlaufenden Nietenreihe. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?
Nein? Dann beginnen wir zu Schulungszwecken zunächst mit dieser Reklame von 1927:
Simson-Reklame von 1927; Original aus Sammlung Michael Schlenger
So bewarb der thüringische Nischenhersteller Simson sein von 1925 bis 1928 gebautes Modell So 8/40 PS – eine “zivile” Variante des Sportwagentyps Supra Typ S 8/50 PS.
Das 2-Liter-Aggregat verfügte über eine moderne Ventilsteuerung mittels obenliegender Nockenwelle, welche wiederum direkt über eine Königswelle (nicht über eine Kette oder Stirnräder) angetrieben wurde. Das sollte bis in die Nachkriegszeit die Ausnahme bleiben.
Der Tourer in der Anzeige sieht unserem Blumenlieferwagen doch schon ziemlich ähnlich, nicht wahr? Die eigentümliche Gestaltung des Kühlwassereinfüllstutzens – ich liebe diese aneinandergekoppelten deutschen Wörter – ist absolut typisch.
Auch die Gestaltung der Luftschlitze in der Haube, die Vierradbremsen und die Form der Türen mit darunterliegenden Trittschutzblechen sind identisch.
Der Fall ist klar: Auch dieser Simson war ein Typ So 8/40PS mit Tourenwagenaufbau, der aus unerfindlichen Gründen “Karlsruhe” hieß. Mit diesem Modell habe ich mich – nicht zuletzt dank Matthias Schmidt – schon wiederholt befasst (siehe hier).
Drei Jahre ist das schon wieder her – meine Güte, wie rast die Zeit.
Wie so ein Simson des Typs So 8/40 PS aus der besonders vorteilhaften Perspektive “schräg von vorne” aussah, das kann ich dank des Beitrags eines weiteren Lesers mit großem Fundus und gutem Gespür zeigen:
Simson So 8/40 PS mit Tourenwagfenaufbau “Karlsruhe”; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks
Die digitale Kopie dieser hervorragenden Originalaufnahme hat mir Klaas Dierks zur Verfügung gestellt – er ist zusammen mit Matthias Schmidt, Jörg Pielmann, Marcus Bengsch, Gottfried Müller und Volker Wissemann eine maßgebliche Stütze dieses Blogs.
So viel Zeit muss sein, auch wenn es eigentlich um den Simson So 8/40 PS geht.
Mir bereitet diese unkomplizierte und fruchtbare Form der Zusammenarbeit großes Vergnügen. Ihnen auch? Na dann schauen Sie doch einmal, was sich in ihrer Sammlung oder Ihrem Familienalbum vielleicht an schönen Dingen verbirgt. Her damit, bitte!
Sie wissen: Mir geht es nicht immer um die großen Sensationen – auch wenn die hier ebenfalls einen Platz haben – mir genügt auch eine scheinbar banale Erkenntnis an wie diese: “Schau an: Ein Simson So 8/40 PS als Blumentransporter. Na so was!”
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Meine regelmäßigen Italientouren sind zwar mit einiger Kilometerfresserei verbunden, doch kaum habe ich Basel hinter mir gelassen, stellt sich eine gehobene Stimmung ein.
Das rigide Tempolimit auf den eidgenössischen Autobahnen bekommt angesichts der grandiosen Landschaft einen ganz eigenen Sinn. Immer wieder bemerkenswert, wie hingebungsvoll die Schweizer ihre Kulturlandschaft pflegen – die in deutschen Landen um sich greifende Vernachlässigung, gar Verschandelung sucht man vergebens.
Noch sympathischer ist mir freilich von jeher die wirklich demokratische Kultur in Helvetien, die weltweit ihresgleichen sucht.
Direkt über die Dinge abzustimmen, die einen betreffen und für die man im Zweifelsfall aufzukommen hat, ist zwar kein Schutz vor Fehlentscheidungen – doch ist man dann eben selbst dafür verantwortlich und kann sie auch aus eigener Initiative wieder korrigieren.
Auch für die konsequente Neutralität kann ich mich erwärmen – in Verbindung mit einer todernst gemeinten Wehrbereitschaft war und ist sie Garant dafür, dass dem Volk der Blutzoll erspart blieb, den die Nachbarn infolge der verantwortungslosen Politik ihrer Herrschenden in zahllosen Konflikten schon seit dem 19. Jahrhundert zu zahlen hatten.
Nur eines ist mir lange unverständlich geblieben: Wieso haben die tüchtigen, erfindungsreichen und präzisionsverliebten Schweizer keine nennenswerte Automobilindustrie aufgebaut?
Des Rätsels Lösung stellte sich vor einiger Zeit in Form eines Buchs ein, welches ich jedem Vorkriegsautofreund nur ans Herz legen kann.
So legte Ernest Schmid schon 1978 das beeindruckende Standardwerk “Schweizer Autos” vor, welches auf über 250 Seiten rund 70 eidgenössische Autofabrikate ausbreitet!
Tja, so kann man sich irren…
Zwar sind auch einige Nachkriegsmarken dabei, doch der Schwerpunkt liegt klar auf Vorkriegsherstellern und was sich einem da präsentiert, kann durchaus mit französischen, deutschen oder auch italienischen Konkurrenten mithalten.
Das lässt sich kaum schöner illustrieren als mit dieser Aufnahme aus Stein am Rhein:
Automobile der 1920er Jahre in Stein am Rhein; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Die atemberaubende Architektur mit vier- bis sechsstöckigen Bürgerhäusern, welche teilweise an die 500 Jahre alt sind, ist typisch für den kleinen Ort im Kanton Schaffhausen, der schon in der Römerzeit gegründet wurde.
Vor dieser Kulisse verblassen nicht nur die meist kurzlebigen und geistlosen Schöpfungen der mangels Attributen als “modern” bezeichneten Architektur unserer Tage.
Auch die wohl folgenreichste Erfindung der Neuzeit, das Automobil, hat hier einen schweren Stand, obwohl es mit sieben Fahrzeugen um Aufmerksamkeit buhlt.
Dennoch wollen wir natürlich auch den Wagen Gerechtigkeit widerfahren lassen, zumal da sie sich formal besser in das über Jahrhunderte gewachsene Ambiente einfügen, als dies bei automobilen Kreationen unserer Tage möglich wäre:
Hier haben wir es durchweg mit Tourenwagen der frühen 1920er Jahre zu tun. Auf diesem Ausschnitt sehen wir von links einen Opel, eine Presto, noch einen Opel und (wahrscheinlich) einen Dürkopp – soweit zu erkennen mit deutschen Kennzeichen.
Anders stellt sich das Bild auf dem nächsten Ausschnitt dar – dort findet sich auch unser Fund des Monats.
Neben einem ebenfalls in Deutschland zugelassenem Benz steht ein Fiat 501 oder 505 (aus dieser Perspektive schwer zu entscheiden) mit schweizerischem Kennzeichen.
Viel interessanter ist freilich das Fahrzeug mit dem eigentümlichen Emblem im Vordergrund:
Dieser ebenfalls in der Schweiz zugelassene Wagen mit den sportlichen Drahtspeichenrädern ist deutlich oberhalb des Fiat und auch des Benz angesiedelt.
Man möchte spontan auf ein französisches Fabrikat tippen, doch bei näherem Hinsehen verrät das Kühleremblem, dass wir es mit einem Pic-Pic zu tun haben, der in Genf produziert wurde.
Der Markenname spielt auf die beiden Schöpfer dieses Autoherstellers an: Paul Piccard und Lucien Pictet. Sie waren seit 1895 gemeinsam mit der Fertigung von Wasserturbinen befasst. 1906 stiegen sie in den Fahrzeugbau ein, anfänglich noch unter dem Namen SAG.
Ab 1910 wurden die bei Piccard, Pictet & Cie hergestellten leistungsstarken Wagen als Pic-Pic vertrieben. Ihnen wurden schwächere Modelle mit 18 bzw. 22 PS zur Seite gestellt.
Noch vor dem 1. Weltkrieg verlegte man sich auf ventillose Motoren, bei denen der Gaswechsel über bewegliche Hülsenschieber gesteuert wurde. Die entsprechende von Argyll erworbene Lizenz nutzte man bis Anfang der 1920er Jahre.
Auch der Pic-Pic auf dem in Stein am Rhein entstandenen Foto wird ein solches frühes Nachkriegsmodell mit 2,9 Litern Hubraum gewesen sein:
Dieser Pic-Pic markierte den Höhepunkt und zugleich das nahende Ende der Marke – 1922 erschien noch ein 3-Liter-Prototyp, der jedoch nicht mehr in Serie ging.
Immerhin ein Exemplar des ventillosen Pic-Pic von 1919 wie auf dem heute gezeigten Foto hat die Zeiten überdauert und ist angeblich im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern zu bewundern.
Vielleicht statte ich ihm bei der nächsten Reise gen Süden einen Besuch ab, Luzern liegt ja auf dem Weg, wenn man den Gotthard ansteuert…
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Mit dem letzten Blog-Eintrag hatte ich mich ins auch im Hochsommer zuverlässig grüne Umbrien verabschiedet – zwar nicht im NAG “Puck” nach Todi im Tibertal, aber ins nur rund 50 km nordöstlich gelegene Collepino oberhalb von Spello in der Nähe von Assisi.
Dort, einige hundert Meter oberhalb der großartigen Kulturlandschaft der “Valle Umbra” findet man in einem über 1000 Jahre alten Ort, der einst als Festung ausgebaut war, bis heute ein über die Jahrhunderte kaum verändertes malerisches Bild:
Exakt in der Mitte dieser Aufnahme, die ich Alessio Balbo von den “Amici di Collepino” bei Facebook verdanke, erkennt man das mittelalterliche Stadttor, das im Folgenden noch eine wichtige Rolle spielen wird.
Collepino ist über eine sechs Kilometer lange, stetig ansteigende Straße mit dem im Tal liegenden weit älteren Spello verbunden. Wer von dort kommt, muss entweder gut zu Fuß sein, stramme Radlerwaden haben oder – über ein Automobil verfügen!
Die lokale Radlerfraktion attackiert den anspruchsvollen Anstieg meist mit der Rennmaschine, genießt dann die grandiose Aussicht auf die Valle Umbra über Foligno und Trevi bis hin nach Spoleto, gönnt sich einen Kaffee oder eine Piadina in Flavios Bar auf der winzigen Piazza und macht sich wieder auf den Weg ins Tal.
Vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert blieb den Leuten dagegen nur die Wahl zwischen “per pedes”, mit dem Esel oder dem Ochsenkarren.
Die vom Volk verehrten Eremiten in den umliegenden kleinen Klosteranlagen wie dem unweit befindlichen Eremo di San Silvestro dürften mit Kutte und Sandalen bekleidet zu Fuß unterwegs gewesen sein, wenn sie überhaupt einmal ihre Refugien verließen.
Indessen die hohe Geistlichkeit, deren Hang zur Opulenz über die Jahrhunderte immer wieder wahrhaft frommen Männern und Frauen aufstieß, wird wohl schon immer das beste jeweils verfügbare Transportmittel gewählt haben.
Denn je heiliger man sich vorkam – jedenfalls hierarchietechnisch gesehen – desto eiliger hatte man es als Vertreter des gehobenen Klerus. Gewiss werden findige Bibel-Exegeten frühzeitig herausgefunden haben, dass der Gebrauch des neu erfundenen Automobils keineswegs unchristlich sei, jedenfalls nicht bei Vorliegen (h)eiliger Anliegen.
Und so mussten sich diese für die damalige Zeit ausgesprochen wohlgenährten und mit sich selbst zufriedenen Kirchenmänner keineswegs sündig vorkommen, wenn sie den Besuch im 600 Meter hoch gelegenen Collepino mit dem Tourenwagen absolvierten:
Fiat 509 A vor dem Stadttor von Collepino; Originalfoto via Alessio Balbo, 2023
Dass die Aufnahme vor dem erwähnten Stadttor von Collepino entstanden sein muss, das verrät der seit Jahrhunderten dahinter quer angebrachte mächtige Holzbalken. Er befindet sich auch heute noch an Ort und Stelle, dazu später.
Die Aufnahme stammt aus einer kleinen Sammlung zeitgenössischer Aufnahmen, die in Collepino und Umgebung Anfang der 1930er Jahre entstanden und die mir wiederum Alessio Balbo von den Amici di Collepino in digitaler Kopie übersandt hat.
Der auf diesem Foto zu sehende Wagen war damals schon einige Jahre alt – er ist an der Gestaltung der Haubenpartie als Fiat der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu erkennen.
Sehr wahrscheinlich haben wir es mit einem viertürigen Tourenwagen auf Basis des 1925 eingeführten Vierzylindertyps 509 zu tun. Trotz des Hubraums von nur 1 Liter entwickelte der Wagen dank obenliegender Nockenwelle standfeste 22 PS (Sportversionen schafften sogar an die 30 Pferdestärken).
Das seinerzeit enorm erfolgreiche Modell begegnete einem im Europa der Vorkriegszeit auf Schritt und Tritt – so auch im deutschsprachigen Raum. Hier haben wir die ursprünglich nur zweitürige Tourenwagenausführung:
Fiat 509 Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Im Zuge der Weiterentwicklung des Erfolgstyps brachte man den Tourer später auch mit vier Türen heraus.
Diese Ausführung besaß höhere und kürzere Türen, die einen nur geringen Abstand voneinander aufwiesen (bei größerem Abstand hat man es mit dem stärkeren Modell 503 zu tun).
Ein solches viertüriges Exemplar durfte ich vor einigen Jahren anhand dieser Aufnahme besprechen, die 1927 im österreichischen Graz entstanden war:
Fiat 509 Tourer; Originalfoto mit freundlicher Genehmigung von Thomas Frewein
Sicher können Sie trotz der gänzlich anderen Situation die Übereinstimmung mit dem einst vor dem Stadttor von Collepino abgelichteten Fiat einiger (h)eiliger Kirchenmänner nachvollziehen.
Wenn Sie nun noch das Tor mit dem erwähnten Balken begutachten wollen, dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und machen Sie einen kurzen Rundgang durch Collepino außerhalb der Saison, wenn Sie dort mehr Katzen als Besucher antreffen.
Zu Beginn und am Ende sehen Sie das erwähnte Stadttor vor dem vor rund 90 Jahren einige zweifellos gewichtige Vertreter der Kirche nebst Fiat posierten. Man mag bezweifeln, ob sie sonderlich heilig waren, doch eilig hatten sie es zweifellos…
Videoquelle: YouTube.com; hochgeladen von: Eleonora Proietti Costa
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Bei meinen nächtlichen Zeitreisen in die Welt der Vorkriegsautomobile mache ich die erstaunlichsten Beobachtungen – und lerne selbst immer wieder Neues dazu. Dabei geht es bisweilen nur am Rand um die Fahrzeuge selbst.
Diesmal haben wir die Situation, dass alles zusammenkommt: Mensch und Maschine, grandioser Karosseriebau und enorme Leistung, Technik der Neuzeit und uralte Architektur.
Dass sich alles so schön zueinander gesellt, dass verdanke ich zum einen der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, zum anderen einer gewissen Intuition, die Dinge auf interessante Weise zu kombinieren – so hoffe ich zumindest.
Beginnen wir doch der Einfachheit halber mit dem Thema “Mensch und Maschine”, denn damit gewinnt man die Herzen der Leser am zuverlässigsten, nicht wahr?
Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Michael Schlenger
Diese wunderbare Foto aus meiner Sammlung spricht Bände, was die vollkommene Andersartigkeit von Vorkriegsautos angeht.
Da gibt es freistehende Kotflügel, die sich vorzüglich als Rutschbahn eigneten, wären da nicht die praktischen Scheinwerfer, an denen man sich bei Bedarf festhalten kann. Und der mutigste der Buben sitzt rittlings und stolz wie Oskar auf dem Kühlergehäuse.
Geeignete Kletterhilfen sind ebenfalls vorhanden – im ersten Schritt geht es auf die verchromte Doppelstoßstange, dann stützt man sich auf der ebenfalls noch ziemlich massiven Querstange zwischen den Scheinwerfern ab.
Dabei hält man sich für alle Fälle an der “Eins” fest, die bei diesem Wagen als Kühlerfigur fungiert, hier freilich verborgen ist. Man ahnt ihre Funktion auf einem zweiten Foto, das Leser Marcus Bengsch an Land gezogen hat, aus derselben Quelle schöpfend wie ich:
Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Marcus Bengsch
Diesem schönen Zufall verdanken wie eine Familienzusammenführung nach 91 Jahren, denn dieses Foto, das offenbar denselben Wagen zeigt, entstand im März 1932.
Dass es sich um einen 8-Zylinder-Audi handelt, das ist klar, auch wenn hier das Zwickauer Stadtwappen prominenter angebracht ist als der Markenschriftzug.
Wer sich in die Vorgeschichte dieses Wagens einlesen will, kann dies in einem älteren Blog-Eintrag tun (hier). An dieser Stelle sei nur wiederholt, dass von 1929-32 ganze 457 Wagen des Modells mit dem in den USA eingekauften 5,1 Liter-Motor entstanden.
Das gewaltige Reihenaggregat verlangte viel Platz – sehr viel Platz. Das erklärt den Radstand von 3,50 Meter, welcher den Audi “Zwickau” von dem äußerlich sonst sehr ähnlichen 6-Zylinder-Modell “Dresden” unterschied.
Die Proportionen des folgenden Audi sprechen stark für das große Modell “Zwickau”, wie ich bereits in einem älteren Blog-Eintrag dargelegt habe (hier):
Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Michael Schlenger
Bei dieser repräsentativen Pullman-Limousine tritt der menschliche Aspekt hinter den schieren Dimensionen in den Hintergrund. Aber auch der nüchterne Blick auf die Maschine muss dem Studium der meisterhaft gezeichneten Karosserie weichen.
Hier sehen wir die typischen Elemente, die dazu beitragen, dass das enorme Volumen des Aufbaus optisch ansprechend gestaltet wird. Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Limousine fast 1,90 Meter hoch und knapp fünf Meter lang war.
Wesentlichen Anteil daran, dass der Audi dennoch nicht erschlagend wirkt, haben die Zweifarblackierung und der Kunstgriff, die Türen weit niedriger erscheinen zu lassen, als sie es tatsächlich sind, indem die untere Hälfte farblich vom Oberteil abgesetzt ist.
So wird die Länge des Aufbaus betont, da die Kante der Motorhaube scheinbar bis ans Heck durchläuft. Die helle Einfassung der Seitenfenster wiederum nimmt dem Oberteil der Türen die Massivität.
Eine einzige solche Pullman-Limousine hat übrigens nach meinem Kenntnisstand die Zeiten überdauert (Quelle: Audi-Automobile 1909-1940, P. Kirchberg/R. Hornung, 2009).
Leider kann man dies nicht von der Variante als viertürigem Cabriolet behaupten, das auf dem folgenden Foto von Leser Klaas Dierks zu sehen ist:
Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Klaas Dierks
Wären da nicht die “Eins” auf dem Kühler und die fünf bis sechs Felder mit Luftschlitzen in der Motorhaube, wäre es nicht so einfach, dieses Fahrzeug mit dem zuvor gezeigten in Verbindung zu bringen.
Die deutlich andere Wirkung ist mehreren Faktoren zuzuschreiben: Vielleicht am markantesten ist die schrägstehende Frontscheibe, die hier überdies ausgestellt ist.
Dann wären da die abgerundete Türunterseite und natürlich der gänzlich andere Dachaufbau mit relativ einfach gestalteten Fensterrahmen. Dies und die Ausführung der dunklen Zierleiste entlang des Passagierabteils erscheinen mir gemessen an den besten Beispielen solcher Aufbauten wie etwa von Gläser (Dresden) wenig elegant.
Die im Standardwerk zu Gläser-Karosserien (Michael Brandes: Gläser Karosserie Dresden, 2021) abgebildeten Aufbauten dieses Typs von Anfang der 1930er Jahre kommen zwar ebenfalls mit schrägestehender Windschutzscheibe und unten abgerundeter Tür daher.
Bei ihnen ist jedoch in den meisten Fällen der Vorderkotflügel länger nach hinten gezogen, sodass das Ersatzrad darin eingebettet ist. Außerdem sind die seitlichen Zierleisten im Bereich der Türen speziell bei sehr langen Aufbauten raffinierter gestaltet.
Ich mag falsch mit meiner Einschätzung liegen, doch konnte ich keine vollständige Übereinstimmung mit einem Gläser-Aufbau finden, obwohl die Karosseriemanufaktur ausdrücklich auch Aufbauten für den Audi Typ “Zwickau” lieferte.
Vielleicht weiß ein Kenner mehr, dann bitte die Kommentarfunktion nutzen.
Ich will die heutige Betrachtung noch auf etwas anderes lenken. Denn hinter dem Audi auf dem Foto von Klaas Dierks ist eine Struktur zu erkennen, die mir bekannt vorkam.
Genau dasselbe mittelalterliche Stadttor ist auf einer weiteren Aufnahme zu sehen, die einen Tourenwagen der 1920er Jahre zeigt, welchen ich nicht eindeutig identifizieren kann.
unbekannter Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto: Michael Schlenger
Ich weiß nicht mehr wie, aber nach einigen Bildrecherchen im Netz kam ich darauf, dass es sich um die Spitalbastion in Rothenburg ob der Tauber handelt.
Natürlich bietet der ganze Ort, der kurz vor Kriegsende von einem der militärisch sinnlosen (für die Besatzungen aber immer noch brandgefährlichen) Bombenangriffe der Alliierten heimgesucht wurde, unendlich viele pittoreske Fotomotive.
Doch aus irgendeinem Grund war die Spitalbastei bei Automobilisten besonders beliebt.
Es hat einen speziellen Grund, weshalb ich an dieser Stelle das vollständige Originalfoto zeige, das Leser Klaas Dierks beigesteuert hat:
Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Klaas Dierks
Wenden Sie bitte für einen Moment den Blick von dem mächtigen Audi und dem monumentalen mittelalterlichen Mauerwerk dahinter ab.
Schauen Sie stattdessen nach links durch das schlichte Tor und nehmen die Bank vor dem Haus mit dem geöffneten Fensterladen ins Visier. Situation eingepägt?
Dann wissen Sie jetzt auf Anhieb, wo einst das folgende Foto entstanden ist, das einen Wanderer des Typs W10-IV (Bauzeit: 1930-32) zeigt – also ein weiteres sächsisches Automobil, hier allerdings mit Zulassung im Badischen:
Wanderer W10-IV Cabriolet, Bauzeit: 1930-32; Originalfoto: Sammlung Marcus Bengsch
Dieses Foto habe ich hier ausführlich besprochen. Damals wusste ich noch nicht, wo es entstanden war. Jetzt weiß ich es und so kann ich meine Rekonstruktion der automobilen Welt von gestern an einer Stelle wieder ein klein wenig genauer gestalten.
Natürlich ist es völlig sinnlos, sich an solchen Puzzlespielen zu erbauen, aber irgendwie muss man ja seine Zeit herumbringen außer mit Arbeiten.
Vielleicht hat die Sache aber auch ein Gutes, nämlich jetzt weiß ich, dass man es in Rothenburg ob der Tauber nach dem Krieg verstanden hat, entgegen dem primitiv-funktionalistischen Trend hierzulande, den zerstörten Teil der Altstadt wenigstens dem Grundsatz nach wieder erstehen zu lassen.
Für den Kulturpessimisten in mir ist das eine der wenigen Gelegenheiten, innezuhalten und mit unzähligen Besuchern dieses Kleinods zu sagen: Schön, dass es das noch gibt!
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Hand auf’s Herz: Was verbinden Sie mit der US-Marke Buick? Denken Sie dabei eher an solide Massenware aus dem General Motors-Konzern oder an die feine Gesellschaft in München und an der Riviera?
Nun, alles eine Frage der Perspektive. In den Staaten stand Buick für unspektakuläre Mittelklasse, doch am europäischen Markt genoss die Marke erhebliches Prestige.
Den Beweis dafür werde ich heute antreten – auf einer abwechslungsreichen Reise, die uns von München irgendwo an die Riviera – so vermute ich – führt. Am Ende werden Sie jedenfalls überzeugt davon sein, dass ein Buick ein geradezu luxuriöses Gefährt war!
Nebenbei vermittle ich ein wenig vom Handwerk des Identifizierens von Vorkriegswagen der 1920er Jahre. Und das wie immer in meinem Blog gratis, aber (hoffentlich) nicht umsonst.
Zum Einstieg habe ich ein Foto gewählt, das zwar achtbare Qualitäten aufweist, es einem aber nicht leicht macht, was das abgebildete Fahrzeug mit Münchener Zulassung angeht:
Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Ein stimmungsvolles Foto zweifellos und wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mir jetzt etwas zu dem Fahrer ausdenken, der es sich auf dem Kühler bequem gemacht hat.
Der Mann macht einen sympathischen Eindruck, und ich nehme es ihm keineswegs übel, dass er mit seiner Pose einiges von dem verbirgt, was einem die Ansprache des Wagens leicht machen würde.
Denn es ist noch genug zu sehen, um zu wissen, dass wir ein US-Fabrikat vor uns haben. Dieser Stil mit Zierleiste am hinteren Ende der Motorhaube, an welcher die seitlichen Parkleuchten angebracht sind, ist unverkennbar amerikanisch.
Zwar wurde das auch von europäischen Herstellern kopiert, am fleißigsten von der ruhmreichen deutschen Autoindustrie (sogar von Horch), aber mit etwas Erfahrung lassen sich Original und Kopie immer auseinanderhalten.
Typisch für ein amerikanisches Modell ist beispielsweise die Verzierung am vorderen Ende der Kotflügel. Solches “unnötige” Dekor galt hierzulande als verpönt, der Funktionalismus hatte in deutschen Köpfen bereits einige Dachschäden angerichtet.
Eine weitere gestalterische Freiheit hatte man sich am Blech unterhalb des Kühlers in Form einer mittig angebrachten “Bügelfalte” erlaubt. Spätestens hier fällt beim versierten Vorkriegsautofreund der Groschen: Das muss ein 1929er Buick sein!
Denn nur dort fand sich genau dieses Detail, hier am Beispiel eines in Magdeburg zugelassenen Exemplars:
Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Ich mag dieses Foto besonders, denn hier wird die enge Beziehung zwischen Mensch und Maschine deutlich, welche sich bei modernen Fahrzeugen nur noch schwer ergibt.
Der Freiheitsgarant Automobil war und ist eine Errungenschaft, welche größte Wertschätzung verdient – das kann ich gar nicht oft genug betonen.
Wenn ich nach 12 Stunden Fahrt abends in “meinem” italienischen Bergdorf ankomme und die Luft einer anderen, seit Jahrhunderten kaum veränderten Welt atme, verdanke ich das ausschließlich meinem komfortablen und zuverlässigen Auto.
So ging das einst auch unseren Vorfahren, vorausgesetzt sie konnten sich den damals noch kolossal kostspieligen Spaß leisten. Damit wären wir zurück bei der Münchener Gesellschaft, mit der wir begonnen hatten.
Diese war uns schon einmal im Zusammenhang mit dem 1929er Buick begegnet:
Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Von München aus ist es nach dem Tankstopp kein allzu weiter Weg mehr bis Garmisch-Partenkirchen, wo uns der 1929er Buick ein weiteres Mal begegnet.
Diesmal haben wir es allerdings mit einer Cabriolet-Ausführung zu tun, welche wahrscheinlich bei einem deutschen Karosseriebauer entstanden war.
So etwas war hierzulande durchaus üblich. Denn selbst ein Buick war gemessen an den Einkommensverhältnissen in Deutschland bereits so teuer, dass die in Frage kommenden Käufer auch das Kleingeld für eine individuell in Handarbeit gefertigte Karosserie hatten.
Das Ergebnis sah dann aus der Ferne scheinbar beliebig aus wie hier:
Leider wird der Eindruck durch das nachlässig zusammengelegte Verdeck buchstäblich heruntergezogen – die angebliche deutsche Ordnung wurde schon immer überschätzt. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick auf den Wagen.
Denn beim näheren Hinsehen offenbart sich ein Detail, welches uns verrät, dass wir es auch hier mit einem 1929er Buick zu tun haben. Sonst wäre dieses Auto schwer zu identifizieren.
Also treten wir näher heran – es ist ja nicht viel los auf den Straßen in Garmisch und der Fahrer schaut in die andere Richtung.
Vielleicht musste ja einer der Insassen einen unfreiwilligen Zwischenaufenthalt beim Zahnarzt Dr. P.C. Heinz einlegen, welcher seine Praxis im Gebäude der Apotheke hatte:
Wie soll man hier erkennen, dass dieser Wagen ein Buick – und dann noch einer von 1929 – gewesen sein soll?
Nun, dazu müssen wir noch einmal nach München zurück – ich weiß, es ist lästig, schließlich wollen wir an die Riviera, doch es geht nicht anders.
Immerhin müssen wir nicht in die Innenstadt, sondern kehren an den Ort im Voralpenland zurück, an dem einst das erste Foto mit dem im München zugelassenen 1929er Buick entstanden war.
Den schauen wir uns noch einmal genauer an:
Bitte prägen Sie sich das Muster auf der Nabenkappe des Vorderrads ein – ein wenig wie ein Fadenkreuz scheint es auszusehen.
Dieses Detail wird uns heute noch zweimal begegnen auf dem Weg an die Riviera.
Das erste Mal in Garmisch, wo wir erneut das 1929er Buick-Cabrio in Augenschein nehmen. Wir haben zum Glück ausreichend Zeit dazu.
Zwar sitzt der Fahrer wie auf heißen Kohlen, denn es steht ja noch die Überquerung der Alpen an. Doch die Zahnarztsitzung will kein Ende nehmen und so haben wir abermals Gelegenheit, uns heranzuschleichen:
Wieder nehmen wir die Nabenkappe am Vorderrad ins Visier – tatsächlich ist dort eine Art Fadenkreuz zu sehen, wobei unklar erscheint, was sich in der Mitte befindet.
Doch für unsere Zwecke genügt diese Beobachtung vollauf. Denn dieses Detail findet sich genau so nach meinem Eindruck nur am 1929er Buick.
Ausgestattet mit dieser Arbeitshypothese machen wir uns nun auf den weiteren Weg gen Süden. Die Herrschaften sind vom Zahnarzt zurück und es kann weitergehen.
Wohin sie damals wirklich unterwegs waren mit ihrem Buick-Cabriolet, das wissen wir nicht. Ihre Spuren verlieren sich mit diesem Dokument im Nebel der Geschichte.
Doch wir lassen uns nicht verdrießen und machen uns auf eigene Faust über die Alpen. Wo genau wir dabei landen, ob wirklich an der Riviera oder vielleicht eher an einem der oberitalienischen Seen, das vermag ich nicht zu sagen.
Jedenfalls landen wir nach vielen Stunden Fahrt über kaum befestigte Paßstraßen im sonnigen Süden. Wir kommen im “Hotel de Paris” unter – weiß jemand, wo es sich befindet?
Wir wechseln unterdessen die Kleidung, denn die Reisemäntel haben unterwegs ordentlich Staub geschluckt. Erfrischt und nunmehr im feinen Dress mischen wir uns unter die Gesellschaft. Was begegnet uns da unverhofft?
Nun, das muss wieder ein 1929er Buick sein, diesmal als Reiselimousine, welche den einstmals vorhandenen Komfort eines Eisenbahnabteils mit der bis heute unübertroffenen Autonomie einer Benzinkutsche verbindet:
Buick Limousine, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Muss ich hier eigens auf die Gestaltung der Nabenkappe hinweisen? Nein, diese grandiose Aufnahme muss als Ganzes genossen sein.
Na, was denken Sie jetzt über die Marke Buick? Wäre so eine repräsentative Sechsfenster-Limousine nicht etwas, was man gern auf einem der sogenannten Oldtimertreffen hierzulande einmal sehen würde?
Leider herrscht diesbezüglich meist Fehlanzeige, obwohl speziell das Modelljahr 1929 in Sachen Buick einst reich vertreten war im alten Europa.
Und dann noch dieser Stil der einstigen Besitzer – leider ist auch der Vergangenheit:
Der Hotelbedienstete links konnte damals nur von der sagenhaften Mobilität träumen, welche die feinen Herrschaften genossen – jedenfalls in Europa war das so.
In den Staaten dagegen konnte sich damals jeder ein Automobil leisten und hinter diesen sozialen Standard kann niemand, der bei Sinnen ist, zurückfallen wollen.
Dies ist eine Botschaft, welche sich aus meiner Sicht immer wieder aus dem Studium solcher Dokumente ergibt. Auf eigene Faust andere Länder und Lebensweisen zu “erfahren”, das bildet und bereichert nicht nur, es immunisiert auch gegen den Irrglauben, daheim bereits in der besten aller Welten zu leben.
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie eigentlich die Titel meiner nächtlichen Ausflüge in die schwarz-weiße Wunderwelt der Vorkriegsautos zustandekommen?
Das kann ich Ihnen am heutigen Fotobeispiel vorführen, denn hier geht es fein der Reihe nach vom Rathaus zum Radhaus!
Am Anfang steht die Frage, welche Marke als nächste an der Reihe ist. Dabei versuche ich auf folgende Dinge zu achten:
1. Ein Hersteller sollte nur so oft vorkommen, dass er unter den im Blog angezeigten jüngsten 15 Einträgen lediglich einmal auftaucht. Manchmal weiche ich unbeabsichtigt von der Regel ab – weil ich schlicht vergessen habe nachzuschauen.
2. Deutsche und österreichische Fabrikate sollten den Schwerpunkt bilden, da dies der Interessenlage der meisten Leser entsprechen dürfte und das meiste mir vorliegende bzw. zugetragene Material nun einmal aus dem deutschsprachigen Raum stammt.
3. Hierzulande einst stark vertetene ausländische Fabrikate sollten angemessen repräsentiert sein. Daraus ergibt sich eine von der Zusammensetzung bei Oldtimertreffen in Deutschland stark abweichende Mischung – kaum britische, dafür viele amerikanische Autos.
4. Marken, zu denen es bekanntes Material ohne Ende gibt, bringe ich bevorzugt anhand ungewöhnlicher Typen oder Ausführungen. Ein Mercedes 170V oder ein Adler Trumpf ist daher ein seltener Gast, was die Liebhaber dieser Typen verkraften müssen.
Ich hoffe, dasss meine heutige Entscheidung in Sachen Opel alle diese Maximen berücksichtigt. Wenn nicht, ist es auch egal, ich bin hier nämlich der Chef und mache bei Bedarf von meinem Recht auf Willkür rücksichtslos Gebrauch.
Heute ist also Opel wieder an der Reihe. Das populäre 4 PS-Modell bekommt hier nur ganz selten die Bühne, so nett speziell die ganz frühen Bootsheckversionen auch sind, die noch sehr nah am Charme des französischen Vorbilds Citroen 5CV sind:
Opel 4/14 PS von 1925; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Der Kontrast zu diesem zauberhaften Dokument könnte kaum größer sein, der sich bei Betrachtung des heutigen Hauptdarstellers aus Rüsselsheim ergibt.
Nicht nur handelt es sich um ein Riesenauto mit siebeneinhalbmal so großem Motor und Platz für sechs bis sieben Personen – auch die Umstände, unter denen es einst abgelichtet wurde, könnten in keinem krasseren Gegensatz stehen.
Unser heutiger Ausflug führt nämlich weit zurück in den 1. Weltkrieg in ein Umfeld, in dem Frauen außerhalb von Lazaretten, Bordellen und Munitionsfabriken keine Rolle spielten. Dabei scheint hier doch alles ganz friedlich, beinahe beschaulich auszusehen:
Opel 29/70 PSn von 1914; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Ein mächtiger Tourenwagen mit markanten schrägstehenden Haubenschlitzen und am Heck kelchartig ausgeführtem Aufbau (sog. Tulpenkarosserie) hat gerade vor einer spätgotischen Arkade haltgemacht.
Im Wagen sitzen deutsche Soldaten – der preussische Adler auf der hinteren Tür bestätigt das. Sie werden von einigen entspannt bis neugierig wirkenden Kameraden erwartet.
Für ein wirklich “hohes Tier” hätte es einen großen Empfang gegeben, so bleibt der beeindruckende Wagen der Hauptdarsteller. Bevor wir uns an seine Identifikation machen, will erst einmal geklärt sein, wo diese Aufnahme überhaupt entstanden ist.
Zwar bin ich kein besonderer Kenner, aber die Architektur ließ mich gleich an Bauten in Belgien, den Niederlanden und Frankreich denken.
Offensichtlich handelt es sich um einen Profanbau, an dem die dort besonders reiche Spätgotik mit ersten leisen Renaissanceanklängen ihren Niederschlag gefunden hat.
In den reichen Kaufmannsstädten unserer westlichen Nachbarn wurden im ausgehenden Mittelalter vor allem die Bauten rund um den Marktplatz solchermaßen repräsentativ ausgestattet.
Für ein Kaufmanns- oder Gildenhaus erschien mir der Bau eine Nummer zu groß und so versuchte ich mein Glück mit einem Rathaus.
Nachdem ich bei meiner Bildersuche in den damals von deutschen Truppen besetzten belgischen Großstädten keinen Erfolg hatte, suchte ich einfach nach “Place du 8 Octobre” – wieso, das werden Sie gleich sehen – und wurde sofort fündig.
Dieser Suchbegriff führte mich ins nordfranzösische St. Quentin. Dort war schnell das Rathaus als Ort meines Fotos ermittelt. Es hat die starken Zerstörungen der Stadt überstanden, die durch französische (!) Artillerie gegen Ende des Kriegs entstanden.
Kommen wir nun vom Rathaus zu dem Auto, das wir gleich näher ins Visier nehmen. Ganz links auf dem Bildausschnitt findet sich auf einem Schild der Hinweis auf den “8 Ocktoberplatz”, der mir den Schlüssel für die Suche nach dem Ort lieferte:
Die (leider wenigen) Freunde ganz früher Opels werden sicher zustimmen, wenn ich dieses Fahrzeug als großes Modell ab 1914 anspreche.
Die durchlaufende Reihe leicht geneigter Kühlluftschlitze in der Motorhaube findet sich so vor allem bei den stark motorisierten Rüsselsheimer Modellen.
Der gleichmäßige Anstieg von Haube und daran anschließendem Windlauf zur Frontscheibe hin ist vor 1913 bei Opel nicht zu finden. Wie komme ich dann aber auf “ab 1914”?
Immerhin könnte das doch auch ein Opel der mittleren Typen mit rund 30 bis 40 PS in der 1913 eingeführten Karosseriegestaltung gewesen sein.
Das war auch meine erste Vermutung. Beim Vergleich mit den leider sehr wenigen Abbildungen solcher Opel-Wagen, bei denen der Typ bekannt ist, fiel mir jedoch etwas auf, was ich so letztlich nur an einem Modell fand.
Dazu nehmen wir das hintere Radhaus in Augenschein – wenn man diesen Begriff hier bereits verwenden mag, da das Rad vom Kotflügel weitgehend eingeschlossen ist:
Bei der Betrachtung des hinten weit nach unten gezogenen Schutzblechs – das man so bei Opel nach meiner Wahrnehmung erst ab 1914 findet – fiel mir etwas ganz anderes auf.
Bei mittleren und schweren Opel-Typen sind hinten durchweg 3/4-Elliptikfedern zu sehen. Das bedeutet, dass es zusätzlich zu dem unteren Blattfederpaket, an dem die Achse angebracht ist, oberhalb ein weiteres damit verbundenes halbes Blattfederpaket mit entgegengesetzter Kurvatur gab.
Auf dem obigen Foto sieht man aber nur das untere Federpaket, dessen hinteres Ende am starren Rahmenausleger fixiert ist. Eine solche Halbelliptikfederung an der Hinterachse findet sich laut Literatur (Bartels/Manthey: Opel Fahrzeugchronik Band 1, 2012, S. 55) erst am Opel 29/70 PS mit 7,5 Liter Vierzylinder von 1914!
So landet man am Ende zwingend beim Radhaus, wenn man beim Rathaus startet – aber eben nur, wenn man bereit ist, sich von dem leiten zu lassen, was an verborgenen Informationen auf diesen alten Fotos zu sehen ist.
Dass die Eindrücke gerade bei Kriegsfotos über das Erscheinungsbild des abgebildeten Autos hinausgehen, liegt in der Natur der Sache, weshalb man solche Dokumente auf die unterschiedlichste Weise zum Anlass für weiterführende Betrachtungen nehmen kann.
Für heute belasse ich es dabei, aber wer partout mehr vom Schauplatz sehen will, wird etwa hier sogar in bewegten Bildern fündig…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Konservieren oder Restaurieren – das ist bei erhaltenen Vorkriegsautos eine Frage, die immer wieder die Gemüter erhitzt. Ich meine, dass beide Ansätze ihre Berechtigung haben – je nach Ausgangszustand.
Ein unvollständiges oder vielleicht durch Unfall oder Feuer stark mitgenommenes Fahrzeug sollte im Regelfall wieder in den Ursprungszustand gebracht werden, so gut das möglich ist.
Dabei kann man durchaus versuchen, sich in einigen Bereichen der einstigen Optik anzunähern, in denen heutige Verfahren meist zu anderen Ergebnissen führen, die das Bild verfälschen. Mit Glück und Geduld lassen sich speziell für den Innenraum Stoffe und Leder auftreiben, deren Muster bzw. Oberflächenstruktur dem historischen Original nahekommen.
Auch ein neuer Kabelbaum lässt sich mit korrekter Optik (also stoffummantelt) wiederherstellen, und moderne Reifen sind mit historischem Profil verfügbar.
Im Motorraum muss nicht alles partout in Fabrikzustand gebracht werden, dort kann man durchaus einige Partien zur Dokumentation im dort oft noch erhaltenen Originalzustand belassen, etwa die Lackierung der Schottwand.
Dann gibt es aber Autos, die auf einzigartige Weise die Spuren ihres langen Lebens tragen, anhand derer sich ihre Geschichte erfahren und erzählen lässt. Mein Peugeot 202 “Pickup” ist so ein Fall:
Peugeot 202 UH; Bildrechte: Michael Schlenger
Sein Leben begonnen hat das Fahrzeug als Armeefahrzeug, die mattgrüne Lackierung ist an einigen Stellen noch komplett erhalten (insbesondere im Innen- und Motorraum).
Später kaufte ein Bauer in der Champagne den Wagen, ließ ihm bei einem lokalen Schreiner einen Holzaufbau verpassen, von dem sich die Seitenwände erhalten haben. Den Boden musste ich erneuern lassen, da das Auto mit 400 kg Transportlast eingetragen ist.
Die vom neuen Besitzer aufgetragene Lackierung entsprach vom Grundton der Armeefarbe, glänzte aber etwas mehr. An vielen Stellen ist sie ausgeblichen, abgeblättert bzw. mit einem dritten Grünton “ausgebessert” worden. Einige Jahre Aufenthalt unter einem nicht ganz dichten Dach haben zudem auf der Haube für Rostansatz gesorgt.
In diesem Zustand, mit vermutlich originalen 30 tkm Laufleistung erwarb ich das Fahrzeug vor rund 10 Jahren von einem sympathischen Vorbesitzer, welcher den Peugeot auf der Veterama gekauft hatte. Nach “Besichtigung” in einer spärlich beleuchteten Tiefgarage kaufte ich das Auto, ohne auch nur den Motor laufen gehört zu haben.
Viel zu tun gab es auch nicht: Die Kompression war gut, der Tank sauber, alles funktionsfähig, wie sich herausstellte. Nur die hydraulischen Bremsen mussten überholt und neue Reifen aufgezogen werden – von Michelin in Originaloptik.
Irgendein passender Auspufftopf fand sich und kleine Löcher an der Schwellerpartie waren zu schweißen (nicht tragendes Blech, aber der TÜV bestand darauf…) – das war’s.
Mir ist noch keiner begegnet, der gesagt hätte, dass diese Zeitmaschine “ordentlich restauriert” gehört. Es ist bei aller Patina ein veritables Schmuckstück, dessen Erhalt zwar Arbeit, aber auch glücklich macht – mich und andere:
Peugeot 202 UH beim Aero Club Bad Nauheim, 2017; Bildrechte: Michael Schlenger
Das war eine lange Vorrede, aber sie war notwendig – hätte ich sie sonst geschrieben? Wie immer geht es in meinem Blog bekanntlich vollkommen rational zu…
Und was läge näher, sich nach dieser Einführung nun dem Vorgänger meines Peugeot zu widmen – dem Typ 201 der frühen 1930er Jahre?
Auch wenn dieser formal völlig anders daherkam als der 1938 eingeführte 202, geht es nämlich wieder um die Frage: Konservieren oder Restaurieren?
Diesmal plädiere ich für eine solide Restaurierung, denn die Schönheit mancher Dinge ist mitunter durch den Zahn der Zeit, Missachtung und Verfall bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Manchmal genügt schon das ernüchternde Umfeld der sogenannten Moderne (faktisch ein 100 Jahre alter Hut), um einem die Freude an den attraktivsten Erscheinungen zu nehmen:
Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Nein, das ist keine Fotomontage: Irgendein unbegabter oder bösartiger Mensch meinte in den 1930er Jahren, diesen Peugeot 201 mitsamt elegant gekleideter Dame partout an dieser Stelle und in diesem Moment ablichten zu müssen.
Die Einbeziehung eines Baumstamms im Vordergrund ist ja bereits eine reife Leistung. Aber die damals keineswegs mehr neue Bauhaus-Stapelarchitektur und der misanthropisch dreinblickende Herrn (könnte glatt der Architekt gewesen sein…) stellen einen Kontrast dar, der nicht ernsthaft beabsichtigt gewesen sein kann – oder doch?
Wie auch immer, heute kann ich genau so einen Peugeot in einer erbaulicheren Situation präsentieren, wenngleich sich das auf den ersten Blick nicht erschließen mag:
Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Wenn ich hier entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten den vergilbten Originalabzug zeige, dann nur damit deutlich wird, dass in solchen Fällen eine Restaurierung der reinen Konservierung des Zustands vorzuziehen ist.
Das gilt nicht nur für die Aufnahmesituation als solche, sondern auch für die arg schäbig wirkende historische Fassade im Hintergrund. Auf vielen Fotos der Zwischenkriegszeit sieht man die verbreitete Vernachlässigung von Bauten, die an sich gut für Jahrhunderte waren.
Die modernistische Ideologie hatte schon damals viel Schaden in den Köpfen angerichtet. Die Zeit der großen Wertschätzung und Restaurierung historischer Bausubstanz (wenn auch oft sehr freizügig) hatte mit der Zäsur des 1. Weltkriegs vorerst geendet.
So ist zu erklären, dass ich zwar dem Foto als solchem und dem Peugeot nebst seinen Insassen durch eine behutsame Restaurierung zumindest einen Teil der ursprünglichen Würde zurückgeben konnte, nicht aber dem Bau im Hintergrund:
Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger
Immerhin macht der kleine Peugeot mit seinem 1,3 Liter-Vierzlinder (28 PS) im Erscheinungsbild von 1934/35 hier schon wieder ganz gute Figur. Nicht ausschließen möchte ich, dass es auch ein Typ 301 war, der praktisch genauso aussah.
Gut gefallen mir die beiden Paare vor dem Wagen – sie scheinen bestens aufgelegt zu sein. Vielleicht ist ihre Heiterkeit auch dem vorherigen Genuss eines tüchtigen Elsässer Riesling zu verdanken, den es gleich um die Ecke gab.
Woher ich das weiß? Nun, auf der Rückseite des Abzugs steht der Schlüssel: “Andlau”.
Wer sich ein wenig im Elsaß auskennt – etwa weil er jährlich zum famosen Teilemarkt in Lipsheim südlich von Straßburg pilgert – wird die liebliche Weinbaugegend am Ostrand der Vogesen kennen, wo der im frühen Mittelalter gegründete Ort liegt.
Wie allgemein im Elsaß ist die historische Architektur von Andlau längst auf’s Schönste herausgeputzt. Im Speckgürtel von Frankfurt/Main ist so etwas die absolute Ausnahme, wie ich als Bewohner der an sich ebenso lieblichen Wetterau nur zu gut weiß.
Es bedurfte keiner langwierigen Recherchen, um die Stelle ausfindig zu machen, an der sich vor bald 90 Jahren unsere gut gelaunte Gesellschaft mit ihrem Peugeot ablichten ließ.
Auf dem Marktplatz war das, den das klassisch-schöne Rathaus beherrscht (so was können die Schukasterlbauer unserer Tage leider nicht mehr bzw. sie wollen es nicht). In der Mitte der hübsche Sandsteinbrunnen, der an die Gründungslegende des Städtchens erinnert:
Den grausigen gelben Wagen ganz rechts kann ich Ihnen leider nicht ersparen – wer kauft so etwas eigentlich? – denn dahinter ist die Fassade des Wohnhauses zu sehen, vor dem einst der Peugeot zum Fotohalt abgestellt worden war.
Hier hat sich die Restaurierung gelohnt, meine ich.
Nebenbei sind diese historischen Bauten so “nachhaltig” wie es überhaupt nur geht. Sie stiften dauerhaften Nutzen und anhaltende Freude über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Ihr Erhalt – sei es durch Konservierung oder Restaurierung – schafft Identität, nicht die überall gleichen Funktionskisten der Moderne…
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“Mer muss och jünne künne” sagt der Kölner Volksmund. Als Angehöriger der Übersetzer-Profession und Hochdeutsch-Experte kann ich Ihnen versichern, dass sich dahinter nichts Fragwürdiges verbirgt wie hinter manch anderer Kölscher Weisheit.
Vielmehr wird hier im Dialekt der alten Colonia am Rhein etwas gesagt, was hierzulande eher selten ist und was ich entschieden vertrete: “Man sollte seinen Mitmenschen neidlos gönnen, was ihnen Gutes widerfährt oder was sie besitzen”.
Mich freut es, wenn jemand eines der berüchtigten “leistungslosen” Einkommen bezieht – etwa weil er im Lotto gewonnen, unverhofft ein Vermögen geerbt oder mit seinen Aktienanlagen unverschämtes Glück gehabt hat.
Mir ist noch keiner begegnet, der solche “windfall profits” – wie der Engländer sagt – empört ausschlagen und dem gefräßigen Staat abtreten würde. Umgekehrt ist es für mich ein Gebot der Fairness und eine Stilfrage, großzügig mit dem Glück zu verfahren, das einem selbst widerfährt, und andere daran teilhaben zu lassen.
Wenn Sie in meinem Blog mitlesen, dessen Erstellung mich einen vierstelligen Betrag pro Jahr kostet (inkl. Fotokäufen, aber ohne Arbeitszeit), dann weil es mir Vergnügen bereitet, diesen Spleen mit anderen teilen zu können und weil es der in unseren Tagen naheliegenden Verbiesterung entgegenwirkt, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen.
So kommen Sie heute wieder einmal in den Genuss, etwas ziemlich Exklusives vorgeführt zu bekommen – und ich profitiere dabei einmal wieder von der Großzügigkeit anderer, die ihre Schätze ebenfalls mit uns Verrückten teilen.
Na, was sagen Sie hierzu?
Stoewer M12 “Marschall”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Ähm, ja. Ein typischer Backsteinbau des 19. Jh., prinzipiell unkaputtbar (solange die Royal Air Force danebenlag) und selbst bei Funktionsgebäuden von einer gestalterischen Qualität, die sich mit über Jahrhunderten gewachsenen historischen Stadtbildern verträgt.
Irgendein öffentlicher Bau dürfte das gewesen sein, eine Schule, ein Amt, eventuell auch ein Hospital. Budget- oder Bauzeitüberschreitungen waren dabei seinerzeit die Ausnahme.
Von mir aus könnte man sich heute noch an einem der Baustile orientieren, die es in den letzten 2.500 Jahren in Europa gab; nach 100 Jahren Bauhaus ist das immergleiche Betonkartonschema doch auch von gestern – warum keine Neuauflage des Jugendstils?
Egal, wir haben heute etwas anderes im Blick, nämlich das auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Cabriolet auf obigem Foto. Der Wagen wirkt aufgrund der großzügigen Proportionen des Baus im Hintergrund unverdient kompakt.
Wir nähern uns dem Auto mit den waagerechten Luftschlitzen in der Motorhaube und haben bereits den Verdacht, dass es sich um eines der Achtzylindermodelle von Stoewer aus Stettin handeln könnten, denn die Kühlerfigur scheint ein Greif zu sein:
Verflixt, das kann doch nicht sein, dass solch ein großer Wagen hier so harmlos wirkt. Vielleicht war der Bau im Hintergrund doch eher eine Fabrik mit extrahohen Fenstern, um ganzjährig viel Licht hineinzulassen. Leider fehlt hier der menschliche Maßstab.
Dennoch haben wir allen Grund elektrisiert zu sein. Das ist einer der legendären Stoewer-Achtzylinder, wie er Ende der 1920er Jahre gebaut wurde.
Die unter chronischer Kapitalknappheit leidender Manufaktur hatte sich ab 1928 binnen kürzester Zeit in eine Kunst eingearbeitet, in der Marktführer Horch ab Mitte der 1920er Jahre Millionen versenkt hatte. Mercedes verschlief den Trend unterdessen erst einmal.
Hier haben wir beispielsweise ein Exemplar des 80 PS starken Stoewer Achtzylindertyp G15, von dem 1928/29 rund 650 Stück entstanden.
Stoewer G15; Originalfoto aus Sammlung eines Lesers
Man erkennt die Ähnlichkeit der Kühlerpartie und auch die horizontalen Haubenschlitze, ebenso den Greif als Kühlerfigur.
Aber die Scheinwerferstange ist hier waagerecht ausgeführt, bei dem eingangs gezeigten Wagen ist sie nach oben gebogen. Außerdem reichten die Luftschlitze in der Motorhaube dort weiter nach oben.
Was ist davon zu halten? Nun, einfach dass wir heute unverschämtes Glück haben, denn offenbar ist uns einer der nur 280mal gebauten Stoewer-Achtzylinder des Typs M12 “Marschall” ins Netz gegangen, den es nur 1930 gab.
Dieser 60 PS-Wagen wurde neben einem 100 PS leistenden und längeren Schwestermodell angeboten, von dem bloß rund 25 Stück entstanden. Da wir es mit einem zweitürigen Cabriolet zu tun haben, plädiere ich im vorliegenden Fall für die schwächere Version.
Ja, ist ja schön und gut, aber irgendwie wirkt das Auto immer noch nicht ganz so großartig, wie es die Bezeichnung “Marschall” erwarten lässt. Keine Sorge, Ihnen wird gleich geholfen.
Denn nicht nur ich, auch einige geschätzte Sammerkollegen, deren Funde ich hier immer wieder präsentieren darf, hängen dem Grundsatz nach: “Man muss auch gönnen können”.
Diesmal ist es so gemeint, dass man nicht ängstlich auf seinen Schätzen hocken sollte, auch wenn man sie redlich und gegen wohlverdienten Zaster erworben hat. Das Leben ist kurz, und früher oder später landet aller Besitz bei lachenden Dritten oder auf dem Müll.
Also raus aus den Archiven mit den Zeugen von einst, so lange diese noch Bewunderung, Staunen oder Leidenschaft wecken. Das ist meine Philosophie, um den überstrapazierten Begriff zu bemühen, und ich bin offenbar nicht allein damit:
Stoewer M12 “Marschall” Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
So sah er also aus – ohne Gründerzeit-Riesenbau im Hintergrund und in sommerlich freundlicher Farbgebung – der Stoewer M12 “Marschall” als grandioses zweitüriges Cabriolet, hier mit Zulassung Berlin statt Bochum wie oben.
2 von 280 Stoewer dieses Typs kennen Sie jetzt schon, keine schlechte Quote würde ich sagen. Das lässt sich aber noch verbessern. Denn so wie Leser Klaas Dierks uns hier Einblick in sein Archiv gibt, können das auch andere tun.
“Man muss auch gönnen können”, ein gutes Motto und Rezept gegen Missgunst, nicht nur wenn es um Fotos von Vorkriegsautos geht…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Heute war ich wie jede Woche in Bad Nauheim auf der Post – ein Bau von erlesener 70er Jahre-Grausamkeit – und warf einen Blick in mein geschäftliches Postfach.
Wie üblich fand ich dort auch den Großteil der an meine Privatadresse gerichteten Sendungen vor – man ist bei dieser Behörde trotz mehrfacher Intervention nicht imstande, nur entsprechend Adressiertes ins Postfach einzulegen – und alles andere direkt zuzustellen.
Aber gut, man gewöhnt sich auch hier an den Verfall des Niveaus und so fahre ich einmal pro Woche “in die Stadt” – im Sommer mit der E-Vespa, ansonsten mit dem bösen Verbrenner.
Zu meiner Freude fand heute ich im Postfach bereits die Januar-Ausgabe von “The Automobile” vor, meinem in Großbritannien produzierten Lieblings-Altauto-Magazin.
In die Runde gefragt: Liest das außer mir eigentlich jemand hierzulande? Immerhin geht es in der aktuellen Ausgabe um Schätze wie einen französischen Stromlinienwagen von Dubonnet, Sonderkarosserien von Sodomka aus Tschechien und einen britischen Invicta.
Gibt es eine vergleichbare Publikation auf dem Kontinent? Rhetorische Frage, Antwort: nein. Unter anderem deshalb habe ich 2015 diesen Blog begonnen, weil es ein Witz ist, was im Mutterland des Autos zu Vorkriegswagen gedruckt (und online) publiziert wird.
Hier bekommen die alten Kisten und die tausenden von Marken, die an der Erfolgsgeschichte des Automobils mitgewirkt haben, zumindest annähernd die Bühne, die sie verdienen.
Das ist aber nur virtuell in so einem Blog mit alten Bildern und ein bisserl Text, mag jetzt einer sagen. Warten Sie’s ab, heute sind sie mitten drin im Geschehen, statt nur im Netz dabei!
Um ans Ziel zu gelangen, lassen wir uns zunächst von diesen feinen Damen zu einer Fahrt zurück in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg entführen: “Aimeriez-vous nous accompagner? – Mögen Sie uns begleiten?” fragen sie:
Delaunay-Belleville um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Wer würde da “Non merci, mesdames, nous préférons le train” – “Nein danke, die Damen, wir nehmen lieber die Bahn” antworten?
Also vertrauen wir uns den beiden an und lassen uns in ihrem Delaunay-Belleville kutschieren, so einen Wagen nennen sie ihr eigen.
Das soll uns aber nur ganz am Rande interessieren, und schon beim nächsten Händler dieser Marke lassen wir uns unter dem Vorwand, selbst so ein leistungsfähiges 6-Zylinder-Gefährt mit seidenweichem Gang erwerben zu wollen, absetzen.
Dort empfängt uns der Leiter der örtlichen Niederlassung, Robert Bellanger. Mit ihm haben wir nämlich heute eine Verabredung. Monsieur Bellanger hat in seinem Unternehmerdasein schon einige Firmen vertreten, darunter Westinghouse aus den USA.
1912, vor 110 Jahren, beschließt er, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Mit seinen Brüdern gründet er die Société Automobiles Bellanger Frères mit Sitz in Neuilly sur Seine bei Paris.
Dort lässt er hochwertige Automobile mit Daimler-Motoren nach Knight-Patent fertigen. Diese ventillosen, hülsengesteuerten Aggregate galten als Nonplusultra des geräuschlosen Laufs, waren allerdings auch anspruchsvoll, was Wartung und Ölverbrauch betrifft.
Ein noch vor dem 1. Weltkrieg entstandenes Exemplar konnte ich vor einigen Jahren meiner Sammlung einverleiben – in Form dieses im Original stark mitgenommenen Abzugs:
Bellanger Frères Tourenwagen um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Die Gasscheinwerfer und die Gestaltung der Vorderkotflügel deuten auf ein Vorkriegsmodell hin – wobei die Motorisierung offenbleiben muss. Die frühen Bellanger-Wagen waren mit Hubräumen von 2 bis über 6 LItern Hubraum erhältlich und scheinen sich – von den Dimensionen abgesehen – äußerlich kaum unterschieden zu haben.
Aus irgendwelchen Gründen – entweder weil sie sonst nicht absetzbar waren oder weil sie als besonders zuverlässig galten – kamen vor allem die kleinvolumigen Wagen der Marke in Paris als Taxis zum Einsatz.
Wir stürzen uns furchtlos in Getümmel der Großstadt – auf den Boulevard des Poissonières mitten in Paris – und schauen, ob wir eines Exemplars davon ansichtig werden. Tatsächlich, ganz vorne links fährt doch tatsächlich ein Bellanger Landaluet durchs Bild:
Bellanger Frères Taxi in Paris um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Das komplette Foto mit eingehender Besprechung der atemberaubenden Szenerie finden Sie übrigens in meinem Blog hier.
Nun mag man das alles unbefriedigend ansehen, denn wer – außer mir – sagt denn, dass diese Mobile mit ihrem auffallend abgerundetem Kühler wirklich Wagen der Marke Bellanger waren – schließlich ist der Schriftzug auf dem rautenförmigen Emblem nicht lesbar.
Auch zeitgenössische Reklamen sind diesbezüglich nicht immer aussagefähig. Die folgende beispielsweise zeigt einen Bellanger des ab 1919 gebauten Typs 15/17 HP nur aus der Seitenansicht wieder, noch dazu reichlich stilisiert:
Bellanger Frères Reklame ab 1919; Original aus Sammlung Michael Schlenger
Bellanger ging nach dem 1. Weltkrieg dazu über, statt der Hülsenschiebermotoren nach “Knight”-Patent zugekaufte Aggregate konventioneller Bauart (Seitenventiler) von Briscoe zu verbauen.
Dieses US-Unternehmen verfügte damals in direkter Nachbarschaft zu Bellanger über eine Fabrikation in Paris, so mag die Kooperation zustandegekommen sein.
Wie es scheint, stellten die 17 HP-Motoren mit vier Zylindern und 3,2 Litern Hubraum damals den Standardantrieb der Bellanger-Wagen dar. Nicht ganz klar ist, ob Briscoe auch die parallel erhältlichen Motoren mit Spezifikation 24/30 PS (4,2 Liter) und 35/50 PS (6,3 Liter) zulieferte, manche Quellen sprechen hier von Eigenentwicklungen.
Jedenfalls dominieren die zeitgenössischen Reklamen für das 17 PS-Modell A1, hier eine aus dem Jahr 1920:
Bellanger Frères Reklame aus der Zeitschrift L’Illustration, 1920; Sammlung Michael Schlenger
Alles, was in dieser Annonce an Meriten des Wagens aufgezählt wurde, war kurz nach dem 1. Weltkrieg vollkommen konventionell, zumindest ab der Mittelklasse.
Der auffallende Akzent auf der gehobenen Ausstattung im Innenraum mag widerspiegeln, dass man wusste, dass das Auto im Wettbewerb sonst keinerlei Vorteile aufwies.
Wohl gelang es der Marke noch eine Zeitlang vom alten Nimbus als luxuriöser Hersteller zu zehren, doch im Lauf der 1920er Jahre war der Stern klar am Sinken, zumal man keine Anstrengungen unternahm, mit den zeitgenössischen Entwicklungen mitzuhalten.
Um 1925 scheint Bellanger keine Rolle mehr gespielt zu haben, wenngleich man 1928 einen kurzen und erfolglosen Versuch unternahm, Wagen der ebenfalls in die Jahre gekommenen Marke DeDion als Bellanger zu vermarkten.
Spätestens Anfang der 1930er Jahre hört man nichts mehr von Bellanger, das Werk in Neuilly-sur-Seine war inzwischen von Peugeot gekauft und dann von Rosengart übernommen worden.
Und wir? Wollten wir nicht mittendrin in dieser Geschichte sein, statt nur dabei? Richtig, und genau dieses Erlebnis kann ich Ihnen zum Schluss bieten.
Denn hier geht es mitten in die 1920er Jahre, direkt ins Publikum bei einer sonst nicht näher bekannten Veranstaltung – und was kommt uns da entgegen?
Bellanger Frères um 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
“Das ist ein Bellanger!” wird jetzt auch der ausrufen, der vor einer halben Stunde noch nie von dieser französischen Marke gehört hat.
Genau so ist es, hier lernt man quasi in Echtzeit dazu – ich übrigens auch – während man diese alten Fotos Revue passieren lässt, gemeinsam mit Gleichgesinnten recherchiert und sich mehr oder weniger fundierte Gedanken dazu macht.
Und so gelangt man am Ende auch zu einem klaren Bild, was das Markenemblem von Bellanger Frères angeht. Mitten drin sein im Geschehen, statt nur als Zaungast dabei, das ist die Voraussetzung für solche Einblicke!
Bei der Gelegenheit erlaube ich mir ein persönliches Gedenken an den britischen Automobilhistoriker Michael Worthington-Williams, der mir 2016 anhand meines weiter oben gezeigten Fotos eines Bellanger-Tourenwagens um 1913 die Augen für diese Marke öffnete.
Er ist 2022 von uns gegangen und hinterlässt nicht nur bei mir eine schmerzhafte Lücke – RIP.
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Böse Zungen behaupten, dass man in Deutschland mit einer kostenlosen Bratwurst viele Leute zu allem Möglichen bringen kann. Dem Hörensagen nach soll man damit Menschen sogar dazu motiviert haben, sich unerprobte Impfstoffe fragwürdiger Wirkung verabreichen zu lassen.
Dass erscheint mir allerdings so unglaublich, dass ich es mir nicht vorstellen will. Schon für eher wahrscheinlich halte ich es dagegen, dass einst ein Auto aus Belgien für eine Bratwurst nach Nürnberg kam. Ich kann sogar ein Foto als Beleg dafür vorweisen.
Dabei dürfte allerdings weniger der im Ausland legendäre Ruf deutscher “Spezialitäten” der Auslöser gewesen sein. Auch war es gewiss kein Belgier, der für eine Nürnberger Bratwurst den weiten Weg auf sich genommen hat.
Das wäre sogar schon zu einer Zeit abwegig gewesen, als Belgien noch nicht im Zuge zweier deutscher Feldzüge gegen Frankreich gründlich verheert worden war. Wir reisen nämlich heute in die Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg zurück.
Damals scheint das Verhältnis noch unbelastet gewesen zu sein, jedenfalls was den Austausch automobiler Expertise angeht. Die belgische Autoindustrie war ähnlich weit entwickelt und vielschichtig wie die in Frankreich.
Deutsche Konstrukteure arbeiteten damals für belgische Firmen und diese wiederum befruchteten Hersteller hierzulande mit Ideen und Lizenzen. Zu den Autobauern aus Belgien, die in Deutschland eine gewisse Marktposition erlangten, gehörte neben Metallurgique und Minerva die Firma FN aus Herstal – eigentlich ein Waffenhersteller.
Selbst nach dem 1. Weltkrieg fanden FN-Wagen noch Käufer in deutschen Landen (etwa dieser und dieser). Das früheste Beispiel in meiner Fotosammlung ist indessen dieses:
FN-Tourenwagen (vermutlich Typ 1600) von ca. 1912/13
Dass es sich bei diesem Tourer um einen FN handelt, das verrät die Kühlergestaltung mit fünf horizontalen Streben, rundem Markenemblem und großem kronenförmigen Kühlerverschluss (hier nur schemenhaft zu erkennen).
Den Dimensionen nach dürfte es sich um eines der ab 1908 gebauten leichten Modelle gehandelt haben, die für damalige Verhältnisse sehr kompakte Vierzylindermotoren besaßen.
Von 1,4 Liter wuchs der Hubraum bis 1913 auf 1,6 Liter. Die Konstruktion änderte sich in diesem Zeitraum kaum, es blieb bei einem Aufbau aus zwei Blöcken zu je zwei Zylindern.
Allerdings spendierte man der letzten vor dem 1. Weltkrieg entstandenen Ausbaustufe ein Vierganggetriebe und der zuvor hinter der Motorraum befindliche Tank wanderte ins Heck.
Mit so einem Modell 1600 von 1912/13 haben wir es hier aus meiner Sicht zu tun, wobei ich den direkten Vorgängertyp 1560 von 1911 nicht ganz ausschließen würde.
Solche leichten FN-Wagen wurden gern als sportlich aussehende Zweisitzer gekauft, aber Tourer waren ebenfalls erhältlich. Eine Höchstgeschwindigkeit von über 70 km/h wird ihnen ebenso zugeschrieben wie ein relativ elastischer Motor und gut wirkende Bremsen (Quelle).
FN-Automobile wurden international exportiert, noch heute finden sich Exemplare in Großbritannien oder Neuseeland beispielsweise. Es gab sie aber auch in Deutschland, wenngleich hier keiner überlebt zu haben scheint.
So müssen wir uns mit dieser Ansichtskarte aus Nürnberg begnügen, die es mitsamt abgelichtetem FN-Tourer bis in die Gegenwart geschafft hat:
Ansichtskarte aus Nürnberg von ca. 1913; Original aus Sammlung Michael Schlenger
Tatsächlich hatte der FN hier an einer traditionsreichen Bratwurstgaststätte haltgemacht – welche den kuriosen Namen “Bratwurstglöcklein” trug.
Die Örtlichkeit lässt sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen. Angelehnt war das Häuschen mit der Braterei an die gotische Moritzkapelle. So sah das vielerorts aus, bevor man im 19. Jahrhundert die Kirchenbauten von solchen Anhängseln befreite.
Das Bratwurstglöcklein indessen verschonte man, es galt als erhaltenswertes Traditionslokal. Keine solchen Rücksichten nahmen freilich die Alliierten, die in zahlreichen Bombenangriffen bis 1945 die einzigartig erhaltene Altstadt Nürnbergs vernichteten.
Die durch Sprengbomben zerstörte Moritzkapelle gehörte nicht zu den Bauten, die man nach Kriegsende wiedererrichtete (oft in vereinfachter Form, aber besser als alles, was man andernorts in den 1950/60er Jahren verbrach – Ausnahme: München).
Nun könnte man meinen, dass das Zerstörungswerk in Nürnberg bloß dem entsprach, was beispielsweise in Belgien von deutschen Truppen angerichtet worden war (siehe mein Blog-Eintrag hier). Gewiss, aber das rechtfertigt doch den Massenmord an wehrlosen Zivilisten und die Zerstörung kulturellen Erbes an anderer Stelle nicht, oder?
Verbrechen bleibt Verbrechen – auf allen Seiten. Das nüchtern festzustellen, ist ein Gebot der Redlichkeit – gerade mit dem nötigen historischen Abstand – wenn man in Europa gemeinsam und unbelastet prosperieren möchte, wie das vor dem 1. Weltkrieg immerhin ein paar Jahrzehnte der Fall war.
Daran mahnt dieses so friedlich und beschaulich anmutende Foto eines FN an einem Ort, wie einmal so typisch deutsch war, wie man sich das nur vorstellen kann.
Der Besitzer des Wagens stammte übrigens dem Nummernschild nach zu urteilen selbst aus Nürnberg. Das dürfte erklären, weshalb er ausgerechnet hier seinen FN abgestellt hatte. Vermutlich saß er zum Aufnahmezeitpunkt draußen am Tisch – für’ne Bratwurst…
Nachtrag: Andrew Brand aus Melbourne (Australien) – selbst ein FN-Sammler – schrieb mir, dass es sich um einen FN des Typs 2100 handelt. Die Wagen der Serien 1400, 1500, 1560 und 1600 hatten alle 10-Speichen-Hinterräder. Der in Nürnberg abgelichtete FN hat jedoch 12-Speichen-Hinterräder und man sieht durch die Speichen reichende Bolzen zur Befestigung der Bremstrommel. Nur der Typ 2100 wies dieses Detail auf.
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Der Titel meines heutigen Blog-Eintrags ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Es soll nicht der Eindruck entstehen, ich meinte damit mich selbst – jedenfalls nicht in dieser Absolutheit.
Natürlich entgeht meinem Auge eine ganze Menge, was die Interpretation der alten Autofotos angeht, die ich hier mit dem Enthusiasmus und begrenztem Wissen des Dilettanten präsentiere.
Was ich übersehe oder auch falsch sehe, das korrigieren Leser, die es besser wissen oder eben nicht übersehen haben. Dennoch habe ich den Anspruch, nicht nur das Offensichtliche zu beschreiben, sondern auch das vermeintlich Nebensächliche ins Licht zu rücken.
Es kann eine Person am Bildrand oder ein modisches Detail, ein Gebäude im Hintergrund oder eine Landschaft sein, was mir ins Auge fällt und mich zu dem einen oder anderen Gedanken und Urteil veranlasst.
Zwar stehen die Automobile von einst im Mittelpunkt, aber mich interessiert prinzipiell auch alles übrige, was zusammen damit abgelichtet wurde.
Heute haben wir den Fall, dass es die Rückseite einer alten Aufnahme ist, die mich beinahe mehr beschäftigt hat als das Auto, welches auf der Vorderseite zu sehen ist.
Dort wird uns der Titel des heutigen Blog-Eintrags begegnen – und sich als abgewandeltes Zitat erweisen, auch deshalb die Anführungszeichen. Doch beginnen wir von vorn:
Diatto Tipo 20; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese eindrucksvolle Aufnahme voller Leben zeigt unübersehbar einen Diatto-Sportwagen, vermutlich nach erfolgreichem Einsatz, vielleicht aber auch davor.
Wäre da nicht die “Diatto”-Kühlerplakette, könnte man den Wagen glatt für ein Modell von Fiat aus der Mitte der 1920er Jahre handeln. Tatsächlich finden sich die klassischen Konturen des Kühlers, die sich im Profil der Motorhaube und des Windlaufs bis zur Frontscheibe fortsetzen, bei einigen italienischen Automarken jener Zeit.
Welche davon als erste davon Gebrauch machte, kann ich ad hoc nicht sagen – das wäre eine eigene Betrachtung wert.
Die Turiner Firma Diatto war 1905/06 in den Automobilbau eingestiegen und baute zunächst Wagen nach Lizenz des französischen Herstellers Clement-Bayard. Später ging man zu eigenen Konstruktionen über. Nach dem 1. Welkrieg versuchte man es aber nochmals mit einer Lizenzfertigung – und zwar von Bugatti. Die Gestaltung der Diatto-Plakette erinnert daran.
Der Versuch, mit Fiat im Kleinwagensegment zu konkurrieren, musste dagegen scheitern – den riesigen Skalenvorteilen, die man ab 1919 nach US-Vorbild beim Fiat 501 ausnutzte, hatte auf dem europäischen Kontinent niemand etwas entgegenzusetzen.
Bei Diatto war man schlau genug, sich auf die 2-Liter-Klasse zu konzentrieren und dort mit feinem Motorenbau zu überzeugen. Der ab etwa 1922 gebaute Tipo 20 verfügte über einen Motor mit obenliegender Nockenwelle und leistete 40-45 PS.
Das war zu einer Zeit, in der die hierzulande dominierenden Seitenventiler in dieser Hubraumklasse gerade einmal die Hälfte der Leistung aufwiesen. Inwieweit Diatto mit seinem drehfreudigen Tipo 20 sportliche Lorbeeren einheimste, soll heute nicht das Thema sein.
Jedenfalls scheint es sich bei dem Wagen auf meinem Foto um einen solchen Diatto gehandelt zu haben, der an einer Sportveranstaltung teilnahm. Wenn ich es richtig verstanden habe, waren damals übrigens die Gebrüder Maserati für die Werkssportwagen von Diatto zuständig – ihre eigene spätere Autofertigung resultierte aus dieser Tätigkeit.
Leider konnte ich bislang nicht herausfinden, wo genau das Foto entstand, obwohl von der Umgebung genügend abgelichtet wurde. Ich hatte erst Turin im Verdacht – nebenbei eine absolut sehenswerte Residenzstadt – aber das bestätigte sich nicht:
Diatto Tipo 20; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Vermutlich handelt es sich um eine mittelgroße Stadt in Oberitalien – aber welche?
Ich muss zugeben, auch als großer Italienfreund stets an den hochbedeutenden Städten jener Region nur vorbeigefahren zu sein (Ausnahme: Cremona), weil es mich nach Süden zog.
Sicher ist aber eines, und nun verlassen wir die Sphäre des Automobils, dieses Foto wurde einst von professioneller Hand angefertigt – und zwar von einem Bildreporter namens Ottolenghi aus Turin (Profil).
“Nichts entgeht meinem Objektiv” – das war sein Motto und bekanntlich ist das Kameraobjektiv das Auge des Fotografen.
So ist es auf Italienisch auf der Rückseite des Abzugs zu lesen, wo sich außerdem die damals völlig neue englische Berufsbezeichnung “Photo Reporter” findet:
Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Dieser Herr Ottolenghi mit seinem selbstbewussten, aber lebensklugen Motto war mir spontan sympathisch – so wollte ich mehr über ihn erfahren.
Das gelang mir auch – wobei sich wieder einmal bestätigte, dass die Beschäftigung mit Vorkriegswagen immer auch ein Rendezvous mit der wechselhaften Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist.
Bei der Recherche nach Ottolenghi in Turin stieß ich auf allein vier jüdischstämmige Bürger dieses Namens, die gegen Ende des 2. Weltkriegs dem Vernichtungsfuror der Nationalsozialisten und ihrer zahlreichen Helfer zum Opfer fielen (hier).
Weit davon entfernt, etwas wie Kollektivschuld oder gar eine Erbschuld der Nachgeborenen herbeizuphantasieren, ist dieser Teil unserer Geschichte immer wieder verstörend.
Auch in Italien kommt man nicht daran vorbei – wie oft bin ich an den friedlichsten Orten mit deutschen Massakern unter Zivilisten im 2. Weltkrieg konfrontiert worden – meist Reaktion auf Attentate sogenannter Widerstandskämpfer, aber das macht die Sache nicht besser.
Heute geht die Sache allerdings glimpflich aus, denn unser Fotograf, der übrigens Silvio Ottolenghi hieß und 1886 in Pisa geboren worden war, kam mit dem Leben davon.
Zwar wurde auch er im Februar 1945 von deutschen Häschern verhaftet, aber im Unterschied zu seinem Sohn Felice (eine bittere Ironie…), der bereits 1944 in Auschwitz umgebracht worden war, blieb er verschont und lebte noch bis 1953 in Turin (Quelle).
Mit diesem Wissen sieht man ein solches Foto ganz anders.
Wir betrachten es noch heute durch das Objektiv – und damit das Auge – des Fotografen von damals und können uns so für den Moment in ihn hinein versetzen, als er einst um die Mitte der 1920er Jahre diesen Augenblick für Zeitgenossen und Nachgeborene festhielt.
“Nichts entgeht meinem Auge” – das ist in Abwandlung des Wahlspruchs von Silvio Ottolenghi ein Motto, das man nicht nur mit Blick auf Vorkriegswagen auf alten Fotos beherzigen sollte – auch wenn es eher Ziel als Feststellung bleiben dürfte…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Die Frontantriebswagen der R-Klasse, die bei Stoewer in Stettin von 1932-35 entstanden, stehen zu Unrecht im Schatten der weit häufiger anzutreffenden Adler-Modelle mit Vorderradantrieb.
Die Stoewer-Modelle besaßen ein sehr markantes Erscheinungsbild – schon von der Seite. Denn sie kamen mit sonst am deutschen Markt unüblichen horizontalen Luftschlitzen daher:
Stoewer R-140 2-türige Limousine, Bauzeit: 1932-34; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese im Sommer 1933 aufgenommene 2-türige Limousine des Typs R-140 wirkt trotz des recht kompakten Vierzylindermotors (1,3 Liter, 26 PS) durchaus repräsentativ.
Tatsächlich zitierte Stoewer mit den waagerecht verlaufenden Haubenschlitzen seine grandiosen 8-Zylindermodelle der späten 1920er und frühen 1930er Jahre und sorgte damit für eine klassenübergreifende Familienähnlichkeit.
Die eine lange Haube suggerierenden Luftschlitze finden sich natürlich auch an den Cabrioversionen des R-140 – hier ein Exemplar, das während einer Urlaubsreise irgendwo in der Schweiz abgelichtet wurde, vielleicht auf dem Weg zum Gotthardpass:
Stoewer R-140 Cabriolet; Bauzeit: 1932-34; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Bei aller Sympathie für den Stettiner Nischenhersteller, der sich über die Jahrzehnte immer wieder neu erfand, mag man hier beanstanden, dass der Kühler optisch etwas zu breit erscheint und die hohe schmucklose Tür unbeholfen wirkt.
Die Gebrüder Stoewer entwickelten ihre Wagen jedoch laufend weiter, sodass die nächste Generation – verkörpert durch den 1934 eingeführten R-150 – deutlich gelungener wirkt.
Nicht nur hatte man den Motor auf 1,5 Liter aufgebohrt, sodass dieser nun achtbare 35 PS leistete, auch das Äußere war überarbeitet worden. Vor allem hatte man die Kühlermaske überzeugender gestaltet und die Streben nun stärker gepfeilt ausgeführt.
Dadurch wirkt bereits die Limousine weit stimmiger, die auf diesem Foto aus der Sammlung von Leser Matthias Schmidt (Dresden) zu sehen ist:
Dieses Auto musste sich neben dem Adler “Trumpf”, der ebenfalls mit Frontantrieb und 1,5 Liter-Motor aufwartete, nicht verstecken. Die 4-türige Limousine war bei Stoewer sogar etwas günstiger zu haben als bei der Konkurrenz aus Frankfurt/Main.
Doch fehlte es den Stettinern bei allem technischen Können und der gestalterischen Kompetenz immer an den Produktionskapazitäten, um die Stärken ihrer Fahrzeuge in hohe Stückzahlen umzumünzen.
So entstanden vom Stoewer R-150 keine 1200 Exemplare. Für den Gourmet sind die überlebenden Fahrzeuge dieses Typs umso interessanter, speziell wenn es sich um die sehr gelungene Cabrioausführung handelt, die wir hier sehen:
Stoewer R-150 Cabriolet, Bauzeit: 1934-35; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Trotz der übergezogenen Kühlermanschette für den Betrieb in der kalten Jahreszeit erkennt man, dass die stärker gepfeilten Kühlerstreben den Wagen dynamischer wirken lassen als den Vorgängertyp R-140.
Auch die Türen hatte man mittels einer verchromten Zierleiste optisch gefälliger gestaltet, sodass diese nun weniger hoch erscheint.
Man mag beanstanden, dass der Stoewer immer noch mit Trittbrett und seitlich montiertem Reserverad daherkam – beides war bei Adlers “Trumpf” entfallen – doch auf mich wirkt der Wagen vollkommen stimmig so, wie er hier vor uns steht.
Das Auto muss einst auch den jungen Mann angesprochen haben, der es fotografierte und auf der Rückseite des Abzugs einige Informationen für uns hinterlassen hat:
Wenn ich den handschriftlichen Vermerk richtig deute, besuchte der Fotograf im Jahr 1936 die Kriegsschule in (?) und entdeckte bei der Gelegenheit am Opernplatz diesen Stoewer mit Zulassung in Neuwied.
Er hatte also selbst keinen direkten Bezug zu dem Auto, als angehender Unteroffizier oder Offizier wäre ein eigenes Fahrzeug auch nicht erreichbar gewesen.
Doch gefiel ihm das Cabriolet, das einsam auf dem winterlichen Opernplatz abgestellt war so gut, dass er seinen Fotoapparat zückte, die notwendigen Einstellungen vornahm und uns dieses schöne Dokument hinterlassen hat:
Stoewer R-150 Cabriolet, Bauzeit: 1934-35; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Der adrette Stoewer macht hier doch gute Figur, finden Sie nicht?
Nur: Auf welchem Opernplatz war der Wagen denn eigentlich abgestellt?
Wieder einmal sind Sie, liebe Leser, gefragt – denn wir wollen doch dieses schöne Foto mehr als 85 Jahre nach seiner Entstehung richtig einordnen…
Nachtrag: Leser Erhard Schmidt konnte in akribischer Recherche die Örtlichkeit identifizieren: Es handelt sich um den Platz vor der Semperoper in Dresden, an den einst das heute verschwundene Hotel Bellevue grenzte.
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Heute kommen die Freunde tschechischer Automobilbaukunst wieder einmal auf ihre Kosten – dazu begeben wir uns nach Österreich und nehmen vorübergehend die eher ungewohnte Perspektive eines Radlers ein.
Wem das so irritierend vorkommt wie der Titel dieses Blog-Eintrags, dem wird sogleich geholfen werden.
Beginnen wir mit “Do legst Di nieda” – eine Annäherung an die Aussprache des auch in Teilen Österreichs bekannten bayrischen Dialektausdrucks “Da legst Dich nieder”. Gemeint ist damit “Da bist Du sprachlos”, oder in ebenso bildhafter Weise “Da biste platt”.
Ohne vertiefte Fachkenntnis erlaube ich mir heute eine weitere Interpretation im Sinne von “Da haut’s Dich um”, die ausgezeichnet zu der Situation passt, mit der wir gleich konfrontiert werden, aber auch zu dem vierrädrigen Objekt, das dabei überraschend auftaucht.
Versetzen wir uns zunächst in die Perspektive eines Postkartenfotografen, der Ende der 1930er Jahre im österreichischen Innsbruck auf Motivjagd ist. Allzu schwer ist das nicht angesichts solcher Kulissen:
Hier geht der Blick von der (heute verkehrsberuhigten) Maria-Theresienstraße auf die Nordkette des Karwendelgebirges – eigentlich der südlichste Teil desselben, aber so heißt das bis zu 2.600 Meter hohe Massiv aus Perspektive des Inntals nun einmal.
Rechts im Bild ragt die barocke Annasäule auf, von deren Spitze eine sternenbekrönte Madonna auf einer Mondsichel herabschaut.
Wer Darstellungen der im römischen Reich populären Göttin Isis kennt – bekrönt mit der Sonnenscheibe, die Mondsichel zu Füßen und Sohn Horus an der Brust – weiß natürlich, wo sich das frühe Christentum dieses Marienmotiv abgeschaut hat…
Zurück aus himmlischen Sphären auf den Boden der Tatsachen, wo man sich auch in automobiler Hinsicht schon immer gern von der Konkurrenz “inspirieren” ließ.
Links am Rand registriert man die Frontpartie eines Adler “Standard 6” (oder des Vierzylindertyps “Favorit”). Um den Freunden der Frankfurter Marke einen Gefallen zu tun, habe ich die arg mitgenommene Kühlerpartie des Wagens “restauriert”, so gut es ging – leider weist die Postkarte dort einige Beschädigungen auf.
Für die ungewöhnlich niedrige Frontscheibe dieses Adlers habe ich nur die Erklärung, dass es sich um einen Wagen mit Sonderkarosserie gehandelt haben muss.
Interessanter ist heute aber ohnehin – halten Sie sich fest – das Fahrrad, das gerade mitten durch’s Bild fährt.
Ob der Fotograf dieser Postkarte dankbar für dieses belebende Element war, sei dahingestellt. Wir sind es auf jeden Fall.
Denn der Junge, der sich so überrascht zur Seite dreht, dass es ihn fast umhaut, liefert uns einen Hinweis auf die Überraschung, die sich in dieser Postkarte aus Innsbruck versteckt.
Ich muss dazusagen, dass das Original der Karte aufgrund ihres Alters erheblich gelitten und vor allem ziemlich verblasst war.
Erst als ich den Kontrast nach dem Einscannen wieder einigermaßen hergestellt hatte, trat das hervor, was die Aufmerksamkeit des Jungen so abrupt auf sich gezogen hatte:
Was ursprünglich wie eine undefinierbare helle Abdeckung inmitten abgestellter Autos ausgesehen hatte, entpuppte sich als das Heck eines Tatra 77 mit der typischen Finne am Ende des stromlinienförmig auslaufenden Hinterteils.
Der Unterteil des Wagens ist dunkel davon abgesetzt, was es anfänglich schwermachte, die Silhouette vollständig zu erfassen. Genau über dem Soziussattel des weiter vor stehenden Motorrads ist der Türgriff zu erkennen.
Auch der hintere Abschluss der Tür ist hier teilweise zu sehen. Weiter links davon lugt der hintere Radausschnitt hervor.
“Do legst Di nieda””, kann man hier nur sagen. Denn von diesem damals futuristisch anmutenden Automobil wurden nur rund 250 Stück gebaut.
Dank überragender Windschnittigkeit erreichte der von Hans Ledwinka konstruierte und 1934 vorgestellte Wagen mit nur 60 PS damals unerhörte 150 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Ein unrestauriertes Exemplar davon entdeckte ich 2015 in der “Classic Remise” Düsseldorf (damals noch “Meilenwerk) genannt. Das arg mitgenommene aber weitgehend vollständige Monstrum wartete dort geduldig bei einem Händler darauf, dass ihm neues Leben eingehaucht wird:
Tatra 77 im “Meilenwerk” Düsseldorf, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
Hier können Sie anhand der oben beschriebenen Partien nachvollziehen, dass der Wagen, der sich einst hinter der Annasäule in Innsbruck versteckte, tatsächlich ein Tatra 77 war.
Wer mit dem Modell noch nicht vertraut ist, wird nun natürlich auch wissen wollen, wie der geheimnisvolle Wagen von vorne aussah.
An dieser Stelle müssen wir der Postkarte aus Innsbruck leider adieu sagen und betrachten den Tatra 77 nun aus moderner Perspektive. Um den Schock in Grenzen zu halten, habe ich mich dafür entschieden, auch die folgenden Bilder in Schwarzweiß” zu zeigen:
Tatra 77 im “Meilenwerk” Düsseldorf, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
Die gerundete Frontpartie erinnert an eine ganze Reihe ähnlicher Wagen der frühen 1930er Jahre, insbesondere an den schon 1931 für Zündapp gebauten Porsche-Prototyp 12.
Hans Ledwinka – übrigens gut mit Ferdinand Porsche bekannt – war mit seinem Entwurf für Tatra 1934 also keineswegs allein. Schon gar nicht war er der alleinige Erfinder eines aerodynamisch optimierten Heckmotorwagens.
Bereits 1931 – also in dem Jahr, in dem Porsche seinen Typ 12 entwarf – zeichnete John Tjaarda in den Vereinigten Staaten diesen Heckmotorwagen, der Erscheinungsbild und Konzept des Tatra 77 klar vorwegnahm:
Dieser frühe Entwurf wird von Tatra-Freunden gern ignoriert, als ob es die Verdienste von Hans Ledwinka in irgendeiner Weise schmälern würde.
Natürlich waren seine Ideen ebensowenig neu wie im Fall des späteren von Porsche entwickelten Volkswagens, doch immerhin realisierte er zusammen mit Tatra den ersten in (Klein)Serie gebauten Stromlinienwagen mit Heckmotor überhaupt.
Zwar erwies sich der Entwurf im Vergleich zu anderen Heckmotorautos letztlich als Sackgasse, da er außerhalb der Tschechoslowakei erfolglos blieb. Dennoch ist der Tatra 77 ein faszinierendes Zwischenkapitel der Vorkriegszeit.
Schauen wir uns ihn daher noch ein wenig genauer an:
Tatra 77 im “Meilenwerk” Düsseldorf, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
Noch bei der hinreißenden “DS” (der Göttin) von Citroen aus der Nachkriegszeit findet sich aus diesem Blickwinkel eine ganz ähnliche Seitenpartie. Und – lachen Sie nicht – selbst bei der “Ente” findet man Anklänge daran, bloß die Spaltmaße können nicht mithalten.
Im Innenraum fiel Tatra freilich auch nichts Besseres ein als der Konkurrenz. Die Instrumente und Bedienelemente wurden eher zufällig über das Instrumentenbrett verteilt.
Aus eigener Erfahrung weiß ich zwar, dass es weitgehend egal ist, wo sich Knöpfe und Schalter befinden, wenn man sein Auto kennt – sie brauchen nicht einmal beschriftet zu sein. Hauptsache, man benötigt kein Benutzerhandbuch, um in einem von deutschen Software-“Experten” entwickelten Bildschirmmenü die Warnblinkanlage zu finden…
Beanstanden würde ich daher beim Tatra 77 nur die Position von Tachometer und Uhr. Denn einen bis 180 (!) Stundenkilometer reichenden Geschwindigkeitsmesser möchte der Fahrer eines Vorkriegsautos schon gern direkt im Blickfeld haben:
Tatra 77 im “Meilenwerk” Düsseldorf, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
Nicht ganz zu überzeugen weiß auch das Passagierabteil.
Das liegt weniger an der eigenwilligen Form der Rücksitze oder den irgendwann im langen Leben dieses Wagens von einem infantilen Zeitgenossen angebrachten Aufklebern.
Vielmehr ahnt man hier, dass bei diesem Wagen viel Überlegung in das Äußere und die Konstruktion von Fahrwerk und Antrieb geflossen ist, aber wie so oft bei Geistesblitzen reiner Ingenieure zuwenig an die Insassen eines Automobils gedacht wurde.
Denn hinter dieser dünnen Trennwand befand sich der luftgekühlte und entsprechend laute V8-Motor mit 3 Litern (später 3,4 L) Hubraum. In den USA wäre so etwas damals völlig unverkäuflich gewesen, weshalb auch der dem späteren Tatra 77 so ähnliche Entwurf von John Tjaarda nicht realisiert wurde.
Tatra 77 im “Meilenwerk” Düsseldorf, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
In Europa war man nicht ganz so verwöhnt vom Komfort moderner Limousinen, wie das in den Staaten in dieser Preisklasse selbstverständlich war. Dennoch verbuchte der Tatra 77 letztlich nur einen Achtungserfolg.
Es mag ernüchternd klingen, doch wenn Fiat von seinem 1937 eingeführten Modell “1100” bis Kriegsbeginn locker 60.000 Wagen absetzen konnte, Ford vom “Eifel” im gleichen Zeitraum immerhin etwa 50.000 und Opel vom “Kadett” sogar rund 100.000, dann wird deutlich, dass Tatra damals an der Realität des europäischen Markts vorbeientwickelte.
Freilich wird man wohl bei keinem dieser “Brot-und-Butter”-Automobile jemals sagen “Do legst di nieda!”
Das schafft der Tatra 77 noch in völlig abgerocktem Zustand nach bald 90 Jahren mühelos:
Tatra 77 im “Meilenwerk” Düsseldorf, aufgenommen 2015; Bildrechte: Michael Schlenger
Übrigens würde es mich interessieren, was zwischenzeitlich aus diesem Überlebenden geworden ist, der mich 2015 in Düsseldorf ebenso umgehauen hat wie einst den Buben auf seinem Fahrrad in Innsbruck…
Nanu, mag jetzt mancher denken – kein Markenname im Titel? Keine Sorge, die automobile Markengeschichte der Vorkriegszeit kommt nicht zu kurz, ganz im Gegenteil.
Es ist bloß so, dass ich heute Anlass zu einer Spurenlese der besonderen Art habe, und das vedanke ich der Unermüdlichkeit eines KfZ-Urgesteins und Lokalhistorikers aus Seesen im Harz – sein Name ist Wolf-Dieter Ternedde.
Wer unter meinen Lesern ein gutes Namensgedächtnis hat, mag sich daran erinnern, dass uns Herr Ternedde schon das eine oder andere reizvolle Dokument aus Vorkriegszeiten “vermittelt” hat, etwa diesen großartigen Mercedes 15/70/100 PS – hier beim Tankstopp in der frühen Nachkriegszeit:
Mercedes 15/70/100 PS Tourenwagen; Originalfoto via Wolf-Dieter Ternedde (Seesen)
Ansonsten werden wir heute zwar etwas kleinere Brötchen backen, doch ich verspreche Ihnen: Die heutige Spurenlese durch die Welt der Vorkriegsautomobile in Seesen wird sich lohnen – und am Ende deutlich über diesen zeitlichen Horizont hinausweisen.
Doch der Reihe nach.
Wolf-Dieter Ternedde – von Hause aus Karosseriebaumeister und KfZ-Meister (beides zusammen findet man nicht alle Tage) wollte sich nach dem altersbedingten Ausscheiden aus dem traditionsreichen Betrieb der Familie Ternedde in Seesen nicht einem ordinären Ruhestand hingeben.
Nach der liebevollen Dokumentation der „Seifenkistenrennen in Seesen 1951 bis 1955“ in Buchform stand ihm der Sinn nach mehr. Nach guter Handwerksmanier hat er Nägel mit Köpfen gemacht – und als Nächstes auf fast 250 Seiten “Die Geschichte der heimischen KfZ-Werkstätten 1912-2021 und die ersten Automobile in Seesen” aufgearbeitet.
Was dieses Werk so bemerkens- und lesenswert macht, das will ich am Ende darlegen.
Zuvor unternehmen wir eine Reise durch die Geschichte der Automobile im Seesen der Vorkriegszeit – anhand einer Auswahl von Fotos, die Wolf-Dieter Ternedde in seinem Buch verarbeitet hat. Die abgebildeten Autos habe ich – so gut es eben ging – für ihn bestimmt.
Ziemlich am Anfang steht dieser “Doktorwagen”:
Opel 5/10 PS Doktorwagen von Dr. Schüttrumpf (Seesen); Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Dieses frühe Automobil fuhr einst Dr. med August Schüttrumpf aus Seesen.
Im Unterschied zu zahlreichen fragwürdigen “Doktoren”, die es sich heutzutage in der Politik auf Kosten der arbeitenden Allgemeinheit bequem machen wollen, war er ein echter – nämlich ein praktizierender Arzt.
Vertreter seines Berufsstands waren meist die Ersten, die ein Automobil nicht zum bloßen Vergnügen erwarben. Hausärzte und Veterinäre gewannen mit der Benzinkutsche einen oft genug lebensrettenden Geschwindigkeitsvorteil und einen zuvor unerreichten Radius.
Der Wagen von Dr. Schüttrumpf war vermutlich ein Opel des Typs 5/10 PS, der einst als “Doktorwagen” Karriere machte. Ob er schon 1909 das Licht der Welt in Rüsselsheim erblickte (dann wäre es noch ein Typ 4/8 PS) gewesen, oder erst 1910, ist schwer zu sagen.
Der “Windlauf” – also die ab 1910 übliche aufwärtsgerichtete Blechpartie zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe – könnte nachgerüstet sein. Interessant ist, dass diese Aufnahme ein winziger Ausschnitt aus einem weit größeren Bild ist, das erst 1919 entstand.
Was mag der “Doktorwagen” in diesen zehn Jahren bereits alles erlebt haben? Wievielen Menschen konnte Dr. Schüttrumpf inSeesen und Umgebung damit rechtzeitig Hilfe leisten – wie oft mag er trotz des wackeren Wagens zu spät gekommen zu sein?
Bleiben wir in der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg: Hier haben wir eine eindrucksvolle Versammlung von Tourenwagen, die sich anlässlich einer Ausfahrt einst vor dem Hotel Wilhelmsbad in Seesen eingefunden hatten:
Adler 12/34 PS bzw. 12/40 PS (vorne links) vor dem Hotel Wilhelmsbad (Seesen); Originalaufnahme aus Stadtarchiv Seesen
Diese Wagen waren damals reine Luxusgefährte – auch nach dem verlorenen Krieg und trotz der erdrosselnden Tributleistungen infolge des Versailler “Vertrags” gab es in Deutschland noch ein dünne Schicht Vermögender, die sich so etwas gönnen konnten.
Oft genug war damals der Kauf eines Automobils ein Weg, der sich anbahnenden Aushöhlung der Währung ein Schnippchen zu schlagen, denn auch bei galoppierender Inflation blieb ein Auto werthaltig, war doch sein Nutzen derselbe.
So kam es in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zu einem Boom im oberen Segment des deutschen Automarkts. Davon profitierten auch die leistungsfähigeren Modelle der Frankfurter Traditionsmarke “Adler”.
Diese technisch konventionellen, aber mit ihrem Spitzkühler schneidig aussehenden Modelle wie das in der ersten Reihe links zu sehende Fahrzeug finden sich auf Fotos jener Zeit ziemlich häufig.
Während es sich dabei meist um Typen mit 9/24- bzw. 9/30 PS-Motorisierung handelte, könnte der Wagen auf obigem Foto durchaus ein stärkeres Modell gewesen sein, welches parallel mit 12/34 bzw. 12/40 PS-Vierzylinder im selben Stil gebaut wurde.
Während die meisten deutsche Hersteller in der ersten Hälfte der 1920er Jahre wie Adler noch an traditionellen Formen und Manufakturproduktion festhielten, beschritten Brennabor und Opel bald neue Wege – die von der führenden US-Autoindustrie vorgezeichnet waren.
Brennabor verzettelte sich nach vielversprechendem Anfang mit unübersichtlicher Modellpolitik und teils wenig ansprechender Gestaltung. Opel dagegen hatte mit der Orientierung an erfolgreichen Konzepten aus dem Ausland eine glücklichere Hand.
Nach dem von Citroen inspirierten Opel 4-PS-Modell folgten die Rüsselsheimer in der Mittel- und Oberklasse bald ganz amerikanischen Vorbildern – vor der Übernahme durch General Motors wohlgemerkt.
So begegnete man in der Vorkriegszeit auch in Seesen dem Opel Typ 7/34 PS bzw. 8/40 PS, hier in einer Ausführung von 1927/28:
Opel 7/34 oder 8/40 PS, Fahrschule Hoffmann (Seesen); Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Dieser Tourenwagen diente noch um die Mitte der 1930er Jahre als Fahrschulauto. Inhaber Paul Hoffmann war zugleich Besitzer einer Tankstelle und einer Opel-Werksvertretung – damit bestand die Aussicht, dass seine Fahrschüler ihm auch später treu blieben.
Wagen dieser Größenklasse blieben freilich die Ausnahme – größere Stückzahlen erreichten im damaligen Deutschland nur Kleinwagen wie das erwähnte Opel 4-PS-Modell.
Bemerkenswert ist, dass kein deutscher Hersteller damals aus eigenen Kräften in der Lage war, ein für eine Massenproduktion taugliches Kompaktmodell zu entwickeln. Entweder man verrannte sich in skurrilen Konzepten wie dem Hanomag “Kommissbrot” oder man nahm “Anleihen” an längst erfolgreichen Modellen ausländischer Hersteller.
Nachdem man etliche Jahre nur zugeschaut hatte, wie sich der automobile Globus weiterdrehte und man selbst stillstand, fiel irgendwann der Groschen. Nach Opel war es 1927 dann Dixi aus Eisenach, das sein Heil im Lizenznachbau des Austin Seven sah.
Der bereits seit fünf Jahren erfolgreiche Engländer fand mit einigen Anpassungen als Dixi rasch eine interessierte und oft begeisterte Anhängerschaft – so auch in Seesen:
Dixi 3/15 PS von Herbert Wadsack (Seesen); Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Hier lehnt sich als stolzer Besitzer ein gewisser Herbert Wadsack in die (scheinbare) Kurve. Der 15 PS leistende Wagen gehörte anfänglich noch der Cyclecar-Klasse an – zu der sehr leichte Autos mit Reifen im Motorradformat und freistehenden Kotflügeln zählten.
Im Lauf der Zeit entwickelte man auf dieser Basis neben minimalistischen und sportlich wirkenden offenen Versionen wie diesem auch erwachsener erscheinende geschlossene Ausführungen des “Dixi”.
BMW aus München – damals noch ein reiner Motorradhersteller – erkannte das Potential und übernahm kurzerhand die Firma Dixi und ließ die zunächst noch auf dem Austin-Lizenzmodell 3/15 PS basierenden eigenen Modelle bis Kriegsende in Eisenach bauen.
Damit sind wir nun in den 1930er Jahren, als die deutsche Autoindustrie endlich aus der Lethargie erwachte und begann, selbst zunehmend den Fortschritt mitzubestimmen.
Freilich waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen denkbar ungünstig und einst stolze Marken wie Audi, DKW, Horch und Wanderer überlebten nur durch Bündelung der Kräfte – die legendäre Auto-Union entstand.
Unter ihrer Führung gelang es, den eigenständigen Charakter der Marken zu wahren und gleichzeitig die Vorteile einer gemeinsamen Organisation zu nutzen. Oft bekam der Käufer gar nicht mit, dass dieselbe Plattform oder auch Motoren bei Wagen unterschiedlicher Marken verwendet wurden.
Vielleicht am wertvollsten war aber das Gestaltungsbüro der Auto-Union, dem es gelang, einerseits den einzelnen Marken ein eigenes Gesicht zu geben und andererseits gewisse ästhetische Gemeinsamkeiten zu entwickeln, die den hohen Anspruch der Auto-Union in gestalterischer Hinsicht repräsentierte.
Ein Beispiel dafür ist der ab 1936 gebaute Wanderer des Typs W51 bzw. 53, wie hier als schickes Vierfenster-Cabriolet zu sehen ist:
Wanderer W51 oder W 53; Wagen der Gießerei Gerhards (Seesen); Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Dieses Auto, das vermutlich eine Karosserie von Gläser (Dresden) besaß, gehörte dem Inhaber des Seesener Gießereiunternehmens Gerhards. Abgelichtet wurde es im Juni 1937 anlässlich einer längeren Ausfahrt bei Laboe.
Der Stil dieses Cabriolets mit gepfeilter Windschutzscheibe ähnelt zeitgenössischen Horch-Modellen, doch die Frontpartie war vollkommen eigenständig gestaltet und fand sich so nur bei Wanderer-Automobilen.
Hier sehen wir den Wagen während der gleichen Tour, wie er gerade ein Fähre verlässt:
Wanderer W51 oder W 53; Wagen der Gießerei Gerhards (Seesen); Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Das Kennzeichen verweist auf eine Zulassung im einstigen Landkreis Gandersheim, zu dem auch Seesen gehörte.
Mit dieser Aufnahme sind wir schon kurz vor Kriegsbeginn, doch noch nicht ganz am Ende. Wie es der Bedeutung der Marke entspricht, kehren wir ein drittes Mal zu Opel zurück.
Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des ersten Opel “Doktorwagens” in Seesen und etwa zehn Jahre nach der Einführung des Typs 8/34 PS, der als Fahrschulauto diente, finden wir zuletzt einen Vertreter des modernen Typs Olympia bzw. Kadett – des ersten in Großserie gebauten Ganzstahlwagens in Deutschland.
Verewigt ist dieses Modell auf einem Foto, das großen Charme besitzt, doch zugleich an die zeitlichen Umstände erinnert, unter denen es entstanden ist:
Opel Kadett oder Olympia; Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Gegen diese junge Dame ist der wackere Opel natürlich chancenlos – aber er war dafür ausgelegt, eine dienende Rolle zu erfüllen und trug seine “Kühlerfigur” mit Gelassenheit.
Die Tarnblenden auf den Scheinwerfern verraten, dass dieses schöne Dokument nach Kriegsausbruch im September 1939 entstanden sein muss.
Private Automobile wurden für Militärzwecke eingezogen, sofern sie nicht veraltet waren (das rettete viele Autos mit Baujahr vor etwa 1930) oder für die ein aus staatlicher Sicht unabweisbarer Bedarf bestand – wie bei Ärzten, “wichtigen” Mitgliedern von Parteiorganisationen oder schlicht Leuten mit “Beziehungen”.
Im Fall des obigen Fotos dürften wir es mit einem beschlagnahmten Zivilfahrzeug zu tun haben, das wohl einer Luftwaffeneinheit diente – darauf deutet jedenfalls das auf dem linken Kotflügel angebrachte Abzeichen mit einer fallenden Bombe hin.
Vom späteren Bombenhagel der Alliierten scheint das kleine Seesen verschont worden zu sein, doch wie im übrigen Europa waren die Wunden des Kriegs auch so allgegenwärtig – in den Menschen, die ihn erlebt hatten.
Ein Kriegsteilnehmer dürfte auch dieser junge Mann gewesen sein, der uns auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 1951 ernst anschaut:
Ford Eifel; Aufnahme von 1951 an der Tankstelle/Werkstatt Georg Hoffmann (Seesen); Foto via Wolf-Dieter Ternedde
Er trägt zu seinem Overall eine typische Feldmütze, wie sie millionenfach von deutschen Soldaten getragen worden war und oft zu den wenigen Dingen gehörte, mit denen sie nach Kriegsende heimkehrten.
Wie es scheint, hat der Träger dieser Mütze einen Aufnäher angebracht, möglicherweise einen der Marke Gasolin, auf die auch das Schild im Hintergrund verweist. Das würde ausgezeichnet zusammenpassen, denn das Foto entstand vor der Tankstelle/Werkstatt Georg Hoffmann in Seesen.
Das Auto ist leicht zu bestimmen – es handelt sich um einen Ford “Eifel” in der von 1937-39 gebauten Ausführung.
Viele dieser robusten Wagen leisteten noch lange nach Kriegsende gute Dienste, bis sie im Zuge des breiten Wirtschaftsaufschwungs der 1950/60er Jahre verschwanden, als sich erstmals die breite Masse Autos leisten konnte – zuimdest im Westen unseres Landes.
An dieser Stelle endet meine automobile Spurenlese in Seesen – doch die von Wolf-Dieter Ternedde ist hier noch lange nicht zuende. Denn er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die ganze Geschichte des Automobils in Seesen zu dokumentieren.
Die heute vorgestellten Fotos sind bloß ein kleiner Ausschnitt aus diesem Vorhaben, für das das Herr Ternedde in jeder Hinsicht berufen war – was die nötige fachliche Kenntnis angeht, die Beziehungen zu seinen Mitbürgern in seinem Heimatort und nicht zuletzt die Gründlichkeit und Hartnäckigkeit alter Schule, mit der er die Sache anging.
So gelang es Wolf-Dieter Ternedde “Die Geschichte der heimischen KfZ-Werkstätten und die ersten Automobile in Seesen” in seinem soeben erschienen gleichnamigen Buch reich bebildert und mit lebendigen Schilderungen aus erster Hand festzuhalten.
Was mich an dem im Eigenverlag herausgegebenen Werk so begeistert, ist Folgendes: Man könnte meinen, dass einem als Nicht-Seesener dieses Stück Heimatgeschichte nicht viel sagen wird und die Dokumentation örtlicher Werkstätten, Karosseriebetriebe und Tankstellen bestenfalls ein Nischenthema ist – doch das ist nicht der Fall.
So erzählt Wolf-Dieter Ternedde in seinem Buch nicht nur – quasi nebenher – die Geschichte des Automobils bis in die unmittelbare Gegenwart. Er schildert zugleich die Geschichte unseres Landes aus einer ganz speziellen Perspektive, die uns allen etwas sagt.
Während man die Geschicke der teils längst verschwundenen, teils noch existierenden Seesener Firmen über die Jahrzehnte anhand von Fotos und Erzählungen verfolgt, beginnen einem die Menschen, die dort arbeiteten, und die Familien, denen die Betriebe gehörten, auf merkwürdige Weise vertraut zu werden.
Denn wir alle kennen aus eigener Geschichte und Anschauung ganz ähnliche Situationen, Lebenswege und Umbrüche. Die wechselnden Autos über die Jahrzehnte und das sich verändernde Erscheinungsbild der Betriebe und des Stadtbilds sind bloß stellvertretend für unser eigenes Erleben über die Jahrzehnte.
So zieht in diesem einzigartigen Buch, für das Wolf-Dieter Ternedde zum richtigen Zeitpunkt mit großem Fleiß auf die noch vorhandenen Dokumente und Zeitzeugen zurückgegriffen hat, letztlich das Leben mehrerer Generationen unseres Landes vorüber.
Wer ein Herz für das Automobil in allen seinen Facetten hat – von bodenständig bis glamourös – und wer Genuss und Erkenntnis aus dem Studium der Alltagshistorie bezieht, der wird an diesem Buch viel Freude haben.
Mancher wird sich auch einigen nachdenklichen Worten von Wolf-Dieter Ternedde am Ende anschließen wollen, denen ich hier nicht vorgreifen will. Nur soviel: Dieses Buch mit der Schilderung eines stetigen, über lange Zeit aber immer wieder belebenden Strukturwandels ist aktueller, als man vielleicht denken mag.
Bezug für 20 EUR (zzgl. 4 EUR Versandkosten) direkt beim Autor: w-ternedde@t-online.de
Heute möchte ich eine Geschichte erzählen, in der es nur am Rand um ein Automobil der Vorkriegszeit geht – noch mehr geht es um ein Zeugnis aus einer untergegangenen Welt und einen der letzten Zeugen dieser Welt.
Ich bekomme viel Post von Menschen, für die mein Blog bzw. meine tausende Dokumente umfassenden Bildergalerien aus unterschiedlichen Gründen eine Anlaufstelle sind.
Neben vielen regelmäßigen Lesern gibt es immer wieder auch Zeitgenossen, die auf der Suche nach einer speziellen Information bei mir landen oder ein Auto bestimmt haben möchten, welches im Familienalbum verewigt ist und über sie mehr wissen möchten.
Andere wiederum benötigen ein Originalfoto eines ganz speziellen Fahrzeugtyps und hoffen bei mir fündig zu werden. Warum? Weil ich als Amateur ohne automobilhistorischen Anspruch im Netz visibel bin, während andere (die viel mehr wissen und weit mehr Material haben als ich) leider nicht visibel sind.
So fragte kürzlich eine Feuerwehr aus Österreich bei mir an, ob ich ein Foto eines Steyr Typ 12/40 PS für eine Ausstellung zur Verfügung stellen könne, weil alte Unterlagen ergeben hatten, dass man in den 1930er Jahren einen solchen Wagen gebraucht erworben hatte, um ihn als Spritzenwagen einsetzen zu können, leider habe man kein Bild davon.
Natürlich habe ich gern mein bestes Foto eines solchen Wagens bereitgestellt, obwohl man meinen sollte, dass es in der Alpenrepublik dazu keines “Piefkes” wie mir bedarf – aber wie gesagt: wer so etwas sucht, landet online eher bei mir als anderswo:
Steyr Typ 12/40 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Ebenfalls aus Österreich – um genau zu sein: aus Wien – erreichte mich jüngst die Anfrage eines älteren Herrn, der mir nicht nur einige faszinierende Bilddokumente übermittelt hat, sondern auch charmant über Ort, Situation und abgebildete Personen zu erzählen weiß, sein Name lautet Johannes Kühmayer.
Dieser veritable Grandseigneur aus einer alten Unternehmerfamilie hat freilich wie jeder von uns einmal ganz klein angefangen, im Jahr 1941 kam er auf die Welt. Sein Geburtsort war Preßburg, heute als Bratislava und Hauptstadt der Slowakei bekannt.
Weniger bekannt dürfte heutzutage sein, dass Preßburg bis 1918 zu Ungarn gehörte, aber mehrheitlich von Deutschstämmigen bewohnt war – ähnlich verwirrende Konstellationen waren in der Österreichisch-Ungraischen Doppelmonarchie nicht unüblich.
Die besonderen Verhältnisse in dem liebevoll-spöttisch “Kakanien” genannten Vielvölkerstaat wirkten auch nach dessen Zerschlagung durch die Siegermächte des 1. Weltkriegs noch lange fort.
So blieb die Unternehmerfamilie Kühmeyer nach 1918 mit ihrem Firmenimperium in Preßburg präsent und erfolgreich. 1941 oder 1942 entstand ebendort diese Aufnahme:
Skoda Rapid III Tudor Limousine; Foto aus Besitz von Johannes Kühmayer (Wien)
Johannes Kühmayer selbst ist hier als Neuankömmling auf dem Planeten zu sehen. Wie man sieht, hat er früh eine enge Affinität zum Automobil erworben.
Der Herr neben ihm ist sein Stiefonkel Fritz, von dem in der Familiengeschichte überliefert ist, dass er einen Studebaker als Geschäftswagen besaß. Dies brachte Johannes Kühmayer einige Jahrzehnte später auf den Gedanken, dass das Auto auf diesem Foto besagter Studebaker sein könne.
Mit dieser Hypothese trat er kürzlich an mich heran, doch leider musste ich ihm die Illusion nehmen, dass der Studebaker auf diesem Abzug die Zeiten überdauert habe. Unter anderem die Größenverhältnisse und das Fehlen eines Trittbretts sprachen dagegen.
Meine erste Vermutung war, dass es sich um einen Adler des Typs “2 Liter” handeln könne, dessen Kühler mit einer Manschette verdeckt war, um in der kalten Jahreszeit den Motor schneller warm werden zu lassen – seinerzeit ein gängiges Zubehör.
Hier haben wir einen solchen Adler “2 Liter”, wie er ab 1938 gebaut wurde:
Adler “2 Liter” Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Doch die geteilte Frontscheibe und die abweichende Gestaltung der Seiten”schürze” des Vorderkotflügels sprachen dagegen, obwohl die Übereinstimmung sonst auffallend ist.
Nach dieser Niederlage kam ich darauf, dass es sich bei dem Wagen, auf dem vor rund 80 Jahren der kleine Johannes Kühmayer thronte, ein Fahrzeug aus tschechischer Produktion sein könne. Nach einigen Recherchen kam ich auf Skoda als wahrscheinlichen Hersteller.
Schwierigkeiten bereitete zunächst die genaue Bestimmung des Typs, da die Skoda-Modelle der 1930er Jahre äußerlich häufigen Änderungen unterlagen, mit denen ich nur wenig vertraut bin (leider ist der in punkto tschechische Automobile hochkompetente und hervorragend verdrahtete Dr. Georg Pollak mittlerweile verstorben).
Doch Fortuna ist nach meiner Erfahrung dem Vorkriegsenthusiasten bei solchen Suchen meist gewogen. Und so brachten mich meine Recherchen am Ende auf den richtigen Pfad: Dieser Wagen war ein Skoda Rapid III Tudor von 1937/38!
Eine exakte Entsprechung ist hier zu sehen. Dabei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des ab 1935 gebauten Skoda “Rapid” – eines Vierzylinderwagens mit 1,4 Litern Hubraum, dessen gut 30 PS eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h ermöglichten.
Ein unverwechselbares Element ist der Aufwärtsschwung des unteren Fensterrahmens zur A-Säule hin. Das findet sich bereits bei früheren Ausführungen des Skoda “Rapid” wie dieses Modells, das 1938 Maria und Stanislav Skulina auf ihrer Afrika-Reise begleitete:
Skoda Rapid von Maria und Stanislav Skulinek in Afrika im Juni 1938; Originalfoto zwischenzeitlich Sammlung Michael Schlenger, inzwischen wieder in Familienbesitz
Der Kühler, die Stoßstange mit den beiden Hörnern und die gelochten Felgen stimmen überein, doch die Luftschlitze in der Motorhaube sind hier anders ausgeführt als an dem Wagen, der Johannes Kühmayers erster Kontakt mit der Wunderwelt des Autos war.
Sein erster eigener Wagen war ein Tretauto, das er jedoch zurücklassen musste, als die Familie Kühmayer im Frühjahr 1945 angesichts der vorrückenden Roten Armee die Flucht aus Preßburg antrat. Lassen wir Johannes Kühmayer als Zeugen jener Zeit selbst sprechen:
“Meine eigene Erinnerung beginnt am Ostermontag 1945, als mein Vater sagte, dass es wohl an der Zeit sei, nach Westen aufzubrechen. Ich saß in einem Kinderwagen, auf dessen Achsen ein Lederkoffer angebracht war, den ich heute noch besitze.”
Das Tretauto blieb in der Familie des Kindermädchens zurück, das Johannes Kühmayer auf seinen ersten Schritten ins Leben begleitet hatte, und dieses Spielzeug sollte dort noch mehreren Kindergenerationen Freude bereiten.
“Vor unserer Villa, nicht weit von der Fabrik entfernt, reihten wir uns in den Flüchtlingstreck ein. Ein verendetes Pferd lag mit aufgedunsenem Bauch vor dem Gartentor in der Sonne. Mit diesem Bild beginnt meine Erinnerung an die Flucht. Der Tod sollte unser treuer Begleiter bleiben.”
Mit Glück entging Johannes Kühmayers Vater unterwegs der Rekrutierung für das letzte Aufgebot der Wehrmacht gegen die Russen. In Gmunden (Österreich) traf man auf andere Familienmitglieder. Zu dieser Zeit trafen US-Truppen ein, das Schlimmste war überstanden.
Wie andere Unternehmer begannen die Kühmayers, mit den noch vorhandenen Ressourcen, sich eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Den endgültigen Untergang der vertrauten Welt des alten Kakaniens nahm man mit Gleichmut hin.
Doch die Erinnerungen leben fort, solange sie noch jemand zu erzählen weiß. Johannes Kühmayer hat natürlich später seine Geburtsstadt Preßburg wieder aufgesucht:
“Ich fühle mich in der Stadt sehr wohl, auch wenn es nicht das alte Preßburg ist. (…) Berührend war für mich eine Tour durch unsere ehemalige Fabrik. Sie ist jetzt Sitz des slowakischen Denkmalamts. Es hat alles restauriert bis hin zu den Türbeschlägen, unglaublich. Und die Weidritz rinnt vorbei wie vor 500 Jahren.Es ist immer noch das gleiche Bachl, aus dem mein Vater einst die Forellen aus dem Wasser geholt und am Abend gebraten hat. Das war eine eigene Welt, das Westend von Preßburg.”
Wie ich eingangs sagte, spielt das Vorkriegsauto in meinem heutigen Blog-Eintrag nur eine Nebenrolle. Doch wird es weitere Automobilfotos aus der untergegangenen Welt der Preßburger Fabrikantenfamilie Kühmayer geben…
Bei einem “Phantom” denkt der Liebhaber von Vorkriegswagen natürlich an das gleichnamige Modell von Rolls-Royce, das Mitte der 1920er Jahre den legendären Silver-Ghost beerbte.
Mit solch einem Phantom kann ich heute zwar nicht dienen, auch wenn ich bereits das eine oder andere Exemplar davon vorstellen konnte – dieses etwa (siehe hier):
Rolls-Royce Phantom I; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Auch wenn mich die Rolls-Royce-Fraktion jetzt womöglich der Blasphemie bezichtigen wird, ist solch ein “Phantom” zumindest stückzahlenmäßig Massenware gegen das Phantom, das uns heute beschäftigen wird.
Wie es sich für ein rechtschaffenes Phantom gehört – das Wort geht auf das altgriechische “phantasma” (Erscheinung, Gespenst) zurück – ist es nur schwer zu fassen.
Das gilt zum einen für sein geisterhaftes Dasein in der Literatur – in der es nur in Form einiger weniger Beschreibungen existiert (Abbildungen davon konnte ich dort keine finden).
Zum anderen scheint es uns zwar auf der einen oder anderen historischen Fotografie zu begegnen, bleibt aber wie hier in einen Nebel gehüllt, der es schwermacht, es dingfest zu machen:
vermutlich Phänomen 16/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme ist im Original nur noch ein Schatten ihrer selbst – fast völlig verblasst. Hinzu kommt, dass ausgerechnet im Bereich der Kühlerpartie etwas bei der Anfertigung des Abzugs schiefgelaufen zu sein scheint.
Immerhin erkennt man einen Spitzkühler, wie er für etliche Marken aus dem deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte der 1920er Jahre typisch war.
Doch die üblichen Verdächtigen – Adler, Benz, Daimler, Dürkopp, Opel und Simson – kann man hier ausschließen. Der breite weiße Schriftzug auf dem Kühlergehäuse will zu keiner dieser Marken passen.
Gleichzeitig verraten uns die Dimensionen dieses wohl als Landaulet ausgeführten Wagens, dass wir es hier mit einem großen repräsentativen Fahrzeug zu tun haben. Dafür kommen in deutschen Landen nur wenige Hersteller in Frage.
Nach einiger Überlegung kam mir der Gedanke, dass wir es hier mit dem Spitzenmodell von Phänomen aus dem sächsischen Zittau zu tun haben könnten – dem Typ 16/45 PS. Dieser wurde ab 1920 parallel zum öfters anzutreffenen 10/30 PS-Modell gebaut. Mit seinem 4-Liter-Motor und einer Länge von fast 4,50 Metern war der Phänomen 16/45 PS eine Klasse für sich.
Dass der weit schwächere Typ 10/30 PS genau dieselben Abmessungen gehabt haben soll (und das gleiche Gewicht!), wie es Teile der Literatur suggerieren, halte ich für ebenso falsch wie die für den 16/45 PS angegebene Höchstgeschwindigkeit von nur 75 km/h.
Unterfüttern kann ich meine These, dass der Phänomen 16/45 PS ein wesentlich größeres Fahrzeug war als das Basismodell 10/30 PS der Marke, durch ein Foto, welches im Original ebenfalls fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst und stark fleckig ist.
Nach einigen Überarbeitungen präsentierte sich die Aufnahme so:
Phänomen 16/45 PS Landaulet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Dieses kolossale Fahrzeug stellt mühelos die Exemplare des Phänomen 10/30 PS in den Schatten, die in meiner einschlägigen Markengalerie versammelt sind.
Das rautenfömige Emblem vorn am Kühler lässt keinen Zweifel – auf dem Originalabzug ist hier die zweite Hälfte von “Phänomen” zu lesen. Zahl und Größe der Luftschlitze in der langen Motorhaube unterscheiden sich beträchtlich vom 10/30 PS-Modell.
Eine auch nur annähernd vergleichbare Aufnahme ist mir andernorts nirgends begegnet. Dieser Wagen fällt umso mehr aus dem Rahmen, als es sich eindeutig um eine Droschke mit aufwendigem Landaulet-Aufbau handelt.
Es fällt aus heutiger Sicht schwer sich vorzustellen, dass man mit einem dermaßen kostspieligen Manufaktur-“Taxi” auch nur den Kaufpreis wieder einspielen, geschweige denn ein solides Einkommen erzielen konnte.
Doch vor fast 100 Jahren sah die Welt auch in dieser Hinsicht völlig anders aus. So exklusiv der Besitz eines Automobils war, so exklusiv war dessen Nutzung als Taxi. Das war betuchten Leuten vorbehalten, die auf dem Weg zu Geschäftspartnern oder zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung waren, etwa einer Theater- oder Opernaufführung.
Für eine solche Klientel war dieser Phänomen 16/45 PS strategisch klug platziert. Denn so unglaublich es klingt, erkannte ich auf Anhieb, wo dieses Prachtstück einst geparkt hatte – vor dem Opernhaus in Frankfurt am Main.
Ich habe in der Nähe einige Jahre gearbeitet und am prachtvollen Opernplatz manche Mittagspause verbracht. So erkannte ich die markante Ausführung des Erdgeschosses und die Kandelaber wieder, die nach der Zerstörung 1944 und den Jahrzehnten der Vernachlässigung in der Nachkriegszeit dort heute das Auge wieder erfreuen:
Der mächtige Phänomen-Wagen ist spätesten nach dem 2. Weltkrieg derselben Ignoranz und Modernitätsbeseeltheit zum Opfer gefallen wie das innen zerstörte, aber ansonsten kaum beschädigte herrliche Opernhaus selbst.
Während man sich beispielsweise in München umgehend daran machte, die starken Bombenschäden am reichen architektonischen Erbe weitgehend wieder zu reparieren, überwog in Frankfurt heimliche Freude darüber, dass man endlich das “ahle Gelerch” abräumen konnte, wovon die Architekten schon im Nationalsozialismus träumten.
Während in der weitgehend ausgelöschten Altstadt die letzten Relikte aus Gotik und Renaissance abgebrochen wurden, überließ man das Opernhaus Wind und Wetter – und Schrotthändlern, die die Ruine mit offizieller Billigung ausplündern durften.
Einer davon hatte immerhin mehr Sachverstand als die Frankfurter Lokalpolitik und hob die Pegasus-Figur auf, welche die Oper krönte:
Opernhaus in Frankfurt am Main; originale Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger
Auf dieser historischen Ansichtskarte sieht man nicht nur besagten Pegasus, sondern vorn auch die drei Arkaden des Haupteingangs, vor dem einst der Phänomen 16/45 PS auf Kundschaft wartete.
Dank jahrzehntelangen bürgerschaftlichen Einsatzes gelang es am Ende, das Desinteresse der Politik an der Ruine dieses schönsten Repräsentationsbau Frankfurts zu überwinden und die Oper wiederherzustellen.
Das Innere ist zwar modern und die Akustik (vom Mozartsaal abgesehen) mäßig, aber die äußere Pracht macht das mehr als wett. Auch der originale Pegasus hat wieder seinen Platz auf dem Giebel gefunden.
Autos sind auf dem Platz vor der Alten Oper in Frankfurt heute zwar nicht mehr erlaubt, aber für einen Phänomen 16/45 PS könnte man doch eine Ausnahme machen – wenn es noch einen gäbe. Doch selbst auf alten Fotos bleibt er ein Phantom…
Manche Automarken der Vorkriegszeit erscheinen schwer zugänglich, obwohl sie einst durchaus einige Präsenz entfalteten. Hat man sich aber einmal mit ihnen angefreundet, gelingen immer wieder Funde entsprechender Dokumente.
So ist das auch beim französischen Hersteller Delahaye, der zwar kein Nischenhersteller war, aber zumindest in deutschen Landen schwer zu fassen ist. Dabei verkauften sich Wagen der Marke zeitweilig auch bei uns, jedoch eher westlich des Rheins – im Saarland.
Bekanntlich gingen dort die Franzosen lange Zeit ein und aus, nicht nur mit Soldatenstiefeln und hoch zu Pferde, sondern auch motorisiert auf vier Rädern. Hier haben wir ein Foto aus Saarbrücken, welches das eindrucksvoll illustriert:
Automobilisten in Saarbrücken Mitte der 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Eingeschoben sei hier ein geschichtlicher Exkurs zur Vorgeschichte dieser Aufnahme:
Nach der französischen Revolution besetzte die französische Armee 1792 erstmals die deutschsprachigen Territorien im Saargebiet, revolutionsbewegte Fanatiker wüteten anschließend in den dortigen Kirchen und Schlössern.
Die Besatzungsmacht blieb auch während der Herrschaft des Gernegroß Napoléon, bis die preußische Armee 1814 Frankreich wieder in seine Schranken wies. 1870 standen die Franzosen während ihres Kriegs gegen Deutschland abermals vor der Tür und konnten zeitweilig Saarbrücken einnehmen.
Im Ersten Weltkrieg blieb das Saarland von größeren Kampfhandlungen verschont. Nach Kriegsende rückten im November 1918 erneut französische Truppen ein. Sofort beendeten sie Bestrebungen, im Saarland eine Republik zu errichten. Eine solche Revolution mochte man in Paris nicht, schließlich wollte man sich die Region endlich einverleiben.
Dieser Verstoß gegen das Völkerrecht wurde zwar von den USA verhindert, dennoch wurde das Saarland für 15 Jahre unter französische “Verwaltung” gestellt. Wirtschaftlich wurde es faktisch Teil Frankreichs, ab 1923 war der Franc alleiniges Zahlungsmittel.
Der damalige Versuch Frankreichs, aus der Beherrschung des Saarlandes möglichst viel Kapital zu schlagen, hinterließ auch in automobiler Hinsicht deutliche Spuren. Diese finden sich unübersehbar auf dem eingangs gezeigten Foto aus Saarbrücken:
Dieser Ausschnitt zeigt eines von mehreren französischen Autos der 1920er Jahre an der Kreuzung Rathausplatz-Stephanstraße mit der evangelischen Johanniskirche in Saarbrücken im Hintergrund. Der zweite Wagen von links ist ein – Delahaye!
Zu erkennen ist die Marke an dem Emblem auf dem Kühler, welches dessen Form aufnimmt und den Schriftzug “Delahaye” trägt. Man erkennt es hier nur schemenhaft, doch die Identifikation dieses Wagen mit angedeutetem Spitzkühler ist eindeutig.
Nach meinem Eindruck wich der Spitzkühler bei der Marke im Jahr 1927 einem schmaleren und höheren Flachkühler, während das Profil des Kühlergehäuses und das Delahaye-Emblem beibehalten wurden.
Diese Erkenntnis hilft uns bei der Einordnung der folgenden Aufnahme, die anlässlich eines Winterausflugs irgendwo in Frankreich entstand:
Delahaye 10 CV Typ 107, Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Leider gibt die etwas verschwommene Aufnahme nicht mehr Details her, doch mag sie genügen, um das Auge an diesem Modell zu schulen.
Wir haben hier den erwähnten Flachkühler, der im Unterschied zu den ab 1930 gebauten Delahaye-Wagen nach unten breiter und dadurch spannungsreicher wird.
Zusammen mit der Information, dass der Spitzkühler bis 1926 verbaut wurde, ist so eine Einordnung dieses Fahrzeugs in den Zeitraum 1927-29 möglich.
Übrigens scheint auch die markante Kühlerfigur – offenbar ein behelmter Kopf mit hochaufragenden Flügeln – zuletzt bei Delahayes von 1929 aufzutauchen. Hier ist das schöne Stück etwas besser zu erkennen:
Ob diese Figur im Art Déco-Stil – der ein letztes Aufbegehren der ornamentalen Tradition gegen die Ideologie rein funktioneller Gestaltung war – ein optionales Zubehör war oder typabhängig verbaut wurde, ist mir nicht bekannt.
Was nun diese Limousine mit ihrer nachgerüsteten Doppelstoßstange im US-Stil angeht, kommen Ende der 1920er Jahre bei Delahaye mehrere Typen in Betracht, die sich hauptsächlich der Größe nach unterscheiden.
Daher fällt es schwer, sich hier auf ein bestimmtes Modell festzulegen. Rein von der Wahrscheinlichkeit her – und von den Dimensionen her – kommt der Delahaye Typ 107 (10CV) in Betracht, der ab Ende 1926 gebaut wurde.
Es handelte sich dabei um ein solides Mittelklassemodell mit 1,8 Liter-Vierzylinder (Seitenventiler), der 38 PS leistete und eine Höchstgeschwindigkeit von gut 90 km/h ermöglichte. Daneben gab es unter anderem den 6-Zylindertyp 112.
Der Typ 107 steht am Anfang einer Reihe von Modellen, die mit Chenard-Walcker gemeinsam entwickelt wurden, um wirtschaftliche Skalenvorteile zu erlangen. Mangels Literatur oder einschlägiger Netz-Präsenzen kann ich dazu derzeit nicht mehr sagen.
So endet die heutige kleine Zeitreise ungewohnt prosaisch. Doch schon bei der nächsten Gelegenheit setze ich meinen Winterausflug in französische Gefilde fort – diesmal aber mit einem US-Fahrzeug in Südfrankreich.
Hier ein kleiner Vorgeschmack, der nicht gerade den Erwartungen an die französische Mittelmeerküste entspricht. Doch dieses Foto ist tatsächlich Ende Januar 1929 von deutschen Reisenden in Marseille geschossen worden:
US-Tourenwagen unterhalb der Kirche Notre Dame de la Garde in Marseille; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Glaubt man den Panikmeldungen der Presse, leben wir in wahrlich schlimmen Zeiten. Nicht, dass wir in deutschen Landen Verhältnisse wie 1969/70 zu Zeiten der Hongkong-Grippezu beklagen hätten – von der unberührt das Leben damals weiterging.
Nein, wirklich schlimm muss sein, dass die Leute heuer im Winter mit Kind und Kegel den Schnee genießen wollen, der sich in den letzten Jahren rar gemacht hat. Frische Luft, Sonnenschein, Vitamin D tanken – gut für die Abwehrkräfte, sollte man meinen.
Leider gefallen sich vom Bürger besoldeteBürokraten derzeit darin, selbigem den Spaß in Wintersportgebieten zu verbieten. In der Schweiz sieht das übrigens ganz anders aus, aber dort ist traditionell auch sonst mehr Hausverstand am Werk.
Wer sich gern den Willküranordnungen von Corona-Apokalyptikern beugt, mag unterdessen Genuss aus der Betrachtung virtueller Winterfreuden beziehen. Doch auch wer noch selber denkt, wird ein Angebot wie dieses wohl kaum ausschlagen:
Dodge “Victory Six” von 1928; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Selbst ohne das amerikanische Nummernschild – ausgestellt im Ostküsten-Bundesstaat New Jersey – würde wohl jeder auf ein US-Auto der späten 1920er Jahre tippen.
Der stämmige Auftritt, die geschwungenen Doppelstoßstangen und der coupéhaft anmutende kurze Dachaufbau – alles das fand sich so kaum bei europäischen Herstellern.
Zwar dürfte hierzulande kaum einer diesen Wagen auf Anhieb erkennen, dennoch ist die Identifikation von Marke und Typ ein Kinderspiel – vorausgesetzt, man hat die US-Vorkriegsbibel in Reichweite, den “Standard Catalog of American Cars” von Kimes/Clarke.
Der Hersteller ist jedenfalls schnell ermittelt, am zuverlässigsten anhand der Aufschrift auf der Nabenkappe:
Die Initialen “DB” stehen natürlich weder für “Daimler-Benz” oder “Deutsche Bahn”, sondern für die “Dodge Brothers”, die vor dem 1. Weltkrieg ihr Glück als Zulieferer für Oldsmobile und Ford gemacht hatten.
Ihnen kommt der Ruhm zu, Amerikas erstes Großserienauto mit Ganzstahlkarosserie zu bauen – das war 1914! Schon 1915 setzte Dodge rund 45.000 Autos ab, niemand vor ihnen war auf Anhieb so erfolgreich.
1920 starben die Gebrüder Dodge, was den Geschicken der Firma nicht bekam. Erst 1928 wendete sich das Blatt, als Walter Chrysler das Unternehmen kaufte. Aus demselben Jahr stammte der Dodge auf dem heutigen Foto.
Der Dodge des Modelljahrs 1928 war nach amerikanischen Maßstäben ein Wagen der unteren Mittelklasse, in Deutschland war er eher der Oberklasse zuzurechnen: 60 PS-Sechszylindermotor mit Aluminiumkolben und hydraulische Bremsen serienmäßig, als Extra u.a. Drahtspeichenräder, Heizung und Außenspiegel.
Der Dodge auf dem Foto war ein Vertreter der Variante “Victory Six”, zu erkennen unter anderem an der Aufteilung der Luftschlitze in der Motorhaube auf vier Gruppen, davon drei mit je vier Schlitzen und eine mit nur zweien.
Markant ist auch der Aufbau mit der Bezeichnung “Brougham” – ein Mittelding zwischen einer Zweitürer-Limousine mit vier gleichgroßen Seitenscheiben und einem Coupé mit zwei Seitenscheiben – ich finde, das steht dem Wagen ausgezeichnet:
Sehr hübsch ist die Aufnahmesituation mit dem Schoßhund auf dem Trittbrett und der Besitzerin im Pelzmantel neben dem Wagen.
Bei näherem Hinsehen scheint sie mit der Linken auf etwas im Innenraum des Wagens zu deuten – tatsächlich: dort lugt ein weiterer Vierbeiner hervor, vermutlich hat er sich auf dem Fahrersitz auf die Hinterbeine gestellt.
Übrigens ist das Foto dieses vergnüglichen Winterausflugs nicht das einzige in meinem Fundus, das einen Dodge “Victory Six” zeigt. Wer meint, das Modell bloß deshalb nicht zu kennen, weil es so etwas in Europa nicht gab, muss das hier zur Kenntnis nehmen:
Dodge “Victory Six” von 1928; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Dieses Foto stellt das maximale Kontrastprogramm zum ersten dar. Aufgenommen wurde es im Hochsommer 1934 und zwar auf der anderen Seite des Großen Teichs: in Hamburg.
Aufnahmedatum und -ort waren das Einzige, was auf dem Abzug vermerkt war. Man kann sich vorstellen, wie lange es gedauert hat, bis ich herausgefunden habe, was das für ein Auto ist. Erst mit dem Vergleichsstück aus New Jersey sieht das einfach aus, auch wenn wir es hier mit einer viertürigen Limousine mit sechs Fenstern zu tun haben.
Der genaue Standort ließ sich ebenfalls ermitteln – im Hintergrund sieht man nämlich die Seewarte unweit der St. Pauli Landungsbrücken. Der Gründerzeitbau von 1875 wurde wie das Umfeld bei den Bombardierungen Hamburgs im 2. Weltkrieg zerstört.
Heute sieht man vom einstigen Aufnahmeort aus nur noch die schwedische Gustaf Adolfs-Kirche rechts im Hintergrund, die als eines der wenigen Gebäude am Hamburger Hafen den Bombenkrieg überstanden hat.
Der Versuch, dieses Foto aus dem Sommer 1934 nachzustellen, wird also nicht erst daran scheitern, dass heute bei uns vermutlich kein Dodge “Victory Six” mehr vorhanden ist. Auch die übrige Welt von damals ist bis auf kleine Reste untergegangen.
DAS waren Ereignisse, die die Bezeichnung Katastrophe verdienten. Wer dagegen heute harmlose Wintervergnügungen von Familien zu einem verantwortungslosen “Ansturm auf Wintersportgebiete” hochjazzt, dem fehlen Maßstäbe und Anstand.
So hilft die Beschäftigung mit Vorkriegsautomobilen auf alten Fotos einmal mehr dabei, sich der Tyrannei der Bewertung durch den Zeitgeist zu entziehen und sich selbst ein Bild zu machen von dem, was war und was ist.
Nachtrag: John Heitmann aus den USA hat mich auf einen sehr interessanten Artikel aufmerksam gemacht, der darlegt, dass Dodge beim 1928er Modell völlig neue Karosserie-Technologien eingesetzt hat.
“Das ist ja eine Wucht!” – wann und wo hat man das zuletzt gehört oder gelesen? Mir scheint das ein im Aussterben befindlicher Ausdruck zu sein – Anlass, ihn wieder einmal zu benutzen so wie das schöne “Guten Morgen” statt des schnöden “Hallo”.
Heute passt dieser Ausdruck von Begeisterung im doppelten Sinne, denn zur Wucht, die einen umhaut, passt auch die im Titel anklingende Waffe – die Armbrust. Letztere ist übrigens ein Beispiel für eine Verballhornung eines fremdsprachlichen Wortes.
Die Armbrust wurde bereits in der Antike erfunden und in spätrömischer Zeit als “arcu balista” bezeichnet. Das Wort schliff sich später auf Umwegen zur deutschen Armbrust ab. Die Waffe zeichnet sich durch die enorme Wucht aus, mit der sie aus vorgespanntem Zustand Metallbolzen verschießt, die sogar Rüstungen zu durchschlagen vermögen.
Gebaut wurde diese technisch raffinierte Waffe, die manchen sich fest im Sattel wähnenden Ritter vom Pferd gehauen hat, traditionell vom Armbruster. Der musste sich freilich mit dem Aufkommen der Feuerwaffen auf ein anderes Handwerk verlegen.
Zumindest in einem Fall scheint die Familientradition vom Kriegsgerät zur Fabrikation von Kutschaufbauten und später Automobilkarosserien geführt zu haben – doch die Wucht, mit der das fertige Produkt einen trifft, blieb dabei nicht auf der Strecke:
Austro-Daimler ADR, Karosserie: Armbruster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Dieses Prachtexemplar eines Sportcabriolets traf und trifft den Betrachter völlig unerwartet. Man darf sicher sein, dass auch mancher Kenner von Vorkriegsautomobilen nach erstem Schock erst einmal tief Luft holen muss.
“Das ist die Wucht!” werden selbst die Freunde der Marke Austro-Daimler ausrufen, denn dieses Exemplar begegnet einem auch dann nicht alle Tage, wenn man sich regelmäßig mit den Modellen der Wiener Traditionsmanufaktur beschäftigt.
Der Wagen mit klassischer Zweifarblackierung wirkt perfekt proportioniert und erfreut das Auge mit dem Auf und Ab der Linien wie die Donauwelle den Gaumen. Doch der Blick auf das riesige Lenkrad offenbart, wie extrem flach dieser Wagen gehalten war.
Die Basis – der 1927 eingeführte Austro-Daimler ADR – begünstigte mit seinem Zentralrohrrahmen ein tiefsitzendes Fahrer- und Passagierabteil. Mit einem 70 PS starken 3-Liter-Sechszylinder besaß er zudem sportliche innere Werte.
Rennfahrer Hans Stuck fuhr privat einen solchen Austro-Daimler ADR – und zwar genau in der Ausführung, die wir hier sehen:
Nur das Kennzeichen aus Düsseldorf verrät, dass wir nicht den Wagen von Hans Stuck vor uns haben, denn der besaß ein österreichisches Nummernschild.
Ansonsten handelt es sich um denselben Aufbau als zweisitziges Sportcabriolet der Wiener Karosseriemanufaktur Armbruster.
Übrigens hatte ich den Wagen zunächst als ab 1931 gebauten Typ ADR-8 angesprochen. Dieser erhielt einen noch längeren Radstand und einen formidablen Reihenachtzylinder mit obenliegender Nockenwelle, der satte 100 PS auf den Weg zur Hinterachse schickte.
Wie mir ein sachkundiger Leser mittteilte, war der ADR-8 vom Sechszylindermodell durch eine kleine “8” oberhalb des Markenschriftzugs am Kühler zu unterscheiden – leider fehlt dieses Detail hier, sonst wäre dies einer von nur rund 50 gebauten ADR-8.
Mit dem ADR-8 endete die eigenständige Automobilfertigung von Austro-Daimler – 1934 erfolgte der Zusammenschluss mit Steyr und Puch zur Steyr-Daimler-Puch AG. Einen spektakuläreren Abschluss von 35 Jahren Automobilfertigung kann man sich schwer vorstellen…