Wer meint, auf Concours-Veranstaltungen von Pebble Beach bis zur Villa d’Este schon alles an hochkarätigen Vorkriegswagen gesehen zu haben, wird auf diesem Oldtimerblog die eine oder andere Überraschung erleben.
Nicht nur, dass die noch existierenden Fahrzeuge lediglich einen Bruchteil der einst oft in Manufaktur gefertigten Wagen repräsentieren. Schwerer wiegt, dass viele Sammler offene, sportlich wirkende Typen bevorzugen.
Das hat dazu geführt, dass unverhältnismäßig viele Wagen mit geschlossener Karosserie nicht überlebt haben, weshalb die heutige Szene speziell bei Prestigemarken ein oft einseitiges Bild zeichnet.
Man möchte gar nicht darüber nachdenken, wieviele Coupés und Limousinen von Bentley modernen Umbauten zum Opfer gefallen sind, weil partout noch jemand einen “Special” haben möchte:

Bentleys bei den Classic Days auf Schloss Dyck, Bildrechte: Michael Schlenger
Auch bei den Alfas der Vorkriegszeit gewinnt man leicht den Eindruck, als habe es fast nur offene Zweisitzer gegeben, die alle in Le Mans und bei der Mille Miglia mit von der Partie waren.
Wer im Netz unter der Typbezeichnung 6C 1750 nach Alfa-Fotos sucht, wird hauptsächlich auf offene Modelle stoßen. Da sind natürlich auch feine Originale dabei und eine Augenweide sind selbst die Replikate.
Doch ein Coupé oder eine Limousine dieses Typs? Nie etwas davon gehört, noch nie einen gesehen…
Genau hier setzt dieser Blog an, denn er stützt sich vor allem auf originales Bildmaterial aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In einigen Fällen sind alte Fotos leider alles, was von den unzähligen Typen der Vorkriegszeit übriggeblieben ist.
Heute haben wir es mit solch einem Beispiel aus der Sammlung des Verfassers zu tun:
Wer kein Auge für die subtile Spannung hat, die hochwertige Manufakturkarosserien der Vorkriegszeit auszeichnete, wird den Wagen vielleicht für unerheblich halten.
Ruft man sich dagegen die Standardaufbauten ins Bewusstsein, die in den späten 1920er und frühen 30er Jahren in den USA millionenfach aus der Presse kamen und speziell deutsche Hersteller stark beeinflussten, ahnt man: das kann kein Massenprodukt sein.
Bei der Identifikation der Marke als solcher hilft uns ein Blick auf die Frontpartie, so unscharf sie auch wiedergegeben ist:
Die Kühlermaske läuft oben giebelförmig zu, aber nicht streng geometrisch wie bei Fiat oder anderen italienischen Marken wie Ansaldo und Ceirano.
Man erkennt vielmehr eine leichte Wölbung, die der Dreiecksform die Härte nimmt und typisch für die Alfa-Romeos jener Zeit ist. Dazu passend zeichnet sich schemenhaft ein schräg nach oben verlaufender Schriftzug auf dem Kühlergitter ab.
Zusammen mit der runden Plakette und den Speichenfelgen genügt das, um den Wagen zuverlässig als Alfa der frühen 1930er Jahre anzusprechen. Auch die Motorisierung bereitet keine großen Schwierigkeiten.
Die “zivilen” Varianten der für ihre drehfreudigen Motoren bekannten Alfas verfügten meist über den 6-Zylinder mit 1750 ccm Hubraum, der namensgebend war: 6C 1750.
Das über 100 PS starke Aggregat mit obenliegender Nockenwelle wurde bis 1933 durchweg mit nacktem Chassis an Kunden geliefert, die sich einen Aufbau nach eigenem Geschmack anfertigen ließen.
Neben offenen Sportvarianten entstanden auch geschlossene Modelle, die von Karosseriefirmen wie Touring Milano, Castagna oder Pininfarina gebaut wurden. Dort wurde streng nach Wunsch des Kunden gearbeitet.
In unserem Fall war dem Besitzer daran gelegen, allzu modische Elemente zu meiden. Stattdessen wurde eine auf den ersten Blick konservative Linienführung realisiert:
In dieser Ansicht erkennt man das Zitat der traditionellen Kutschenform des 19. Jahrhunderts, vor allem im Verlauf von Dachlinie und Heckabschluss.
Doch die nähere Betrachtung verweist auf eine eigenständige Interpretation dieser klassischen Linienführung. So fällt das Dach zu Frontscheibe ungewöhnlich stark ab und steigt zugleich nach hinten auffallend an.
Im Zusammenspiel mit der sehr niedrigen Frontscheibe ergibt das ein dynamisches Gesamtbild, nachdem die Vorderpartie noch konventionell ansetzte. Die akzentuierte Dachneigung steht im Gegensatz zu den älteren Vorbildern und verweist auf einen bewusst zugespitzten Entwurf.
Die Dame im Fonds, die uns fixiert, verfügte auch mit Hut über weit mehr Kopffreiheit, als erforderlich gewesen wäre – auch das ein Hinweis, dass hier keine funktionellen Aspekte maßgeblich waren.
Das Ganze wirkt beinahe wie ein Vorgänger der Hotrods auf Basis von US-Vorkriegslimousinen, die oft mit ähnlich kühnen Dachlinien aufwarten. Eine so eigenwillige Ausführung unterstreicht den Manufakturcharakter der Karosserie, die für den Massengeschmack wohl zu exaltiert gewesen wäre.
Leider wissen wir weder etwas über die Karosseriemanufaktur noch über den genauen Entstehungszeitpunkt. Vergleichbare, aber nie identische Coupés und Limousinen desselben Typs machen ein Baujahr zwischen 1930 und 1932 wahrscheinlich.
Und weil es ein Fahrzeug von so geheimnisvoller Schönheit ist, hier der Alfa noch einmal in der Gesamtansicht:
Übrigens: Auf dem Wasserturm im Hintergrund sind die Buchstaben “…NO CEN…” zu lesen. Das könnte für den Hauptbahnhof von Mailand (“Milano Centrale”) stehen. Die Ausführung des Betonturms verweist jedenfalls auf Oberitalien.
Zudem verläuft noch heute in Sichtweite des Hauptbahnhofs ein Kanal, der von einer Straße begleitet wird. Dort könnte vor über 80 Jahren unser Foto entstanden sein – warum in dieser Gegend, werden wir nicht mehr erfahren.
Aber über den Alfa-Romeo Typ 6c 1750 in der seltenen Limousinenausführung (ital. “Berlina”) sollte sich noch etwas herausfinden lassen…