Der Januar 2017 neigt sich seinem Ende entgegen – mancher Leser dieses Oldtimerblogs mag schon ungeduldig auf das “Fundstück des Monats” warten.
Zur Erinnerung: In dieser Rubrik präsentiert werden Originalfotos von Vorkriegswagen, die entweder besonders selten, außergewöhnlich schön oder in einer einzigartigen Situation abgebildet sind.
Der Wagen auf folgendem Foto erfüllt gleich zwei dieser Kriterien, auch wenn sich das nicht unmittelbar erschließt:

Diverse Wagen beim Autokurs in Ölmütz 1930
Mindestens sieben konventionell erscheinende Limousinen und Tourenwagen der späten 1920er Jahre sind hier vereint.
Aus der Entfernung wirkt das Ganze wie eine Ansammlung irgendwelcher US-Fahrzeuge. Dem Anbieter des Fotos fiel dazu entsprechend wenig ein, angegeben wurde lediglich die umseitige Aufschrift “Autokurs Ölmütz 1930”.
Wer das Glück hatte, die Defizite staatlicher Bildungsanstalten in puncto europäischer Geografie und Geschichte durch familiäre Umstände, Reisen oder pures Interesse ausgleichen zu können, dürfte hier aufmerken.
Ölmütz ist der deutsche Name der tschechischen Stadt Olomouc in Mähren, das bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörte. So bunt das Völkergemisch in dieser Region einst war, so abwechslungsreich war auch das Straßenbild in automobiler Hinsicht.
Entsprechend stößt man auf Autobildern der Vorkriegszeit aus den Gebieten des einstigen K.u.K-Reichs auf alle möglichen Wagen deutscher, österreichischer, tschechischer und – unvermeidlich – amerikanischer Hersteller.
Zwar erschien die Qualität unseres Abzugs zunächst mäßig, doch sprach die Wahrscheinlichkeit dafür, dass etwas Interessantes darauf zu sehen ist.
Dass wir es tatsächlich mit einem unglaublichen Glücksfall zu tun haben, zeigte sich erst unter der Lupe:
Der Wagen ganz rechts fällt nicht nur durch seine majestätische Größe aus dem Rahmen – er lässt auch nicht den geringsten Zweifel an seiner Identität.
Dieses trotz seiner enormen Abmessungen perfekt proportionierte Automobil gehört zum Großartigsten und zugleich Seltensten, was die an Sensationen nicht gerade arme tschechische Autoindustrie hervorgebracht hat.
So etwas, werte Leser, dürften die meisten nicht einmal aus der Literatur kennen – schon gar nicht aus den sich ewig um dieselben Marken und Typen drehenden deutschsprachigen Klassiker-Magazinen.
Dieses kolossale Automobil ist eines von nur 299 gebauten Exemplaren des Praga “Grand 8” – das Spitzenprodukt des traditionsreichen, auf Qualität bedachten Prager Fahrzeugbauers.
Wer’s nicht glaubt, findet alle nötigen Informationen am Wagen selbst. Auf der Abdeckung des Ersatzrads steht die Modellbezeichnung “Praga Grand” und die “8” vor dem Kühler schafft endgültige Klarheit hinsichtlich der Motorisierung:
Der 3,6 Liter messende 8-Zylinder-Reihenmotor des Wagens war auf möglichst weichen Lauf und anstrengungslose Kraftentfaltung hin optimiert, nicht auf Maximalleistung.
Wer von der reinen Papierform ausgeht – das Aggregat leistete 70 PS bei bloß 3.000 Umdrehungen – gewinnt keine wirkliche Vorstellung davon, wie anstrengungslos sich so ein Wagen unter den damaligen Verhältnissen fuhr.
Die über 5 Meter lange und fast 2 Tonnen schwere Limousine bot ihren Insassen allen damals erdenklichen Luxus, reichlich Leder und Plüsch – verbunden mit ruhigem Motorlauf in allen Lagen.
Die Spitzengeschwindigkeit von 120km/h war für die Besitzer eines solchen Luxuswagens ebenso irrelevant wie es das theoretische Beschleunigungsvermögen moderner Prestigewagen im Alltag ist.
Wer diesen mächtigen Praga in Mähren einst fuhr, muss offen bleiben. Ein Auto, von dem zwischen 1927 und 1933 keine 300 Stück gebaut wurden, war jedenfalls etwas für echte Gourmets.
Denkbar ist, dass beim “Autokurs 1930 in Ölmütz”, bei dem unser Foto entstand, der Chauffeur des Praga mit von der Partie war. Doch wer von den Personen auf der Aufnahme könnte das gewesen sein?
Von den sechs Personen, die hier posieren, wissen wir leider nichts – außer dass jeder von ihnen individueller wirkt als all’ die “Hipster” unserer Tage, die ängstlich darauf achten, dieselbe Markenkleidung und dasselbe Brillengestell zu tragen…
Tja, auch die Welt der Automobile war einst unendlich “vielfältiger”, um einmal den vielstrapazierten Begriff zu bemühen, als das überschaubare heutige Angebot, das den doch angeblich so “einzigartigen” Zeitgenossen vollauf zu genügen scheint.
Selbst Käufer von Großserienwagen der Marken Jaguar, Saab und Volvo galten hierzulande lange als Sonderlinge. Wer würde da erst einen Neuwagen kaufen, von dem pro Jahr ein paar Dutzend in Prag in Handarbeit zusammengebaut werden?
Nun, das ist der Unterschied zwischen Luxus und Pseudo-Exklusivität von der Stange – zwischen echtem Enthusiasmus und risikofreiem Modemitläufertum. Ein über 80 Jahre altes Foto eines Praga Grand 8 erinnert uns daran…