„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ – diese Liedzeile singt die geheimnisvolle Figur „Mignon“ in Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“.
Mignon ist schwer zu fassen, einiges lässt sich über sie in Erfahrung bringen, doch letztlich bleibt ihre Identität nebulös – was letztlich ihre Faszination ausmacht.
So verhält es sich auch mit dem „Mignon“, um den es heute geht, obwohl es sich nicht um ein Kind des Südens handelt, sondern um das gleichnamige Produkt einer kaum minder geheimnisvollen tschechischen Automobilfirma – Praga.
Sicher, die Eckdaten dieses Herstellers aus Prag sind bekannt: Seit 1909 wurden – nach einer kurzen Phase, in der man Lizenznachbauten von Darracq und Renault fertigte – unter diesem Namen selbstentwickelte Automobile gefertigt.
Auch die Bezeichnungen der einzelnen Typen sind geläufig. Doch wie Mignon aus Goethes Roman waren sie enorm wandelbar, unter ein und demselben Namen wurden stetig weiterentwickelte Fahrzeuge auf den Markt gebracht, die schwer zu fassen sind.
Hier haben wir gleich zwei Beispiele auf einem Foto von Leser Matthias Schmidt (Dresden):

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“ – das gilt auch, wenn ich solche wunderbar aufgenommenen Wagen auf alten Fotos sehe und mich schwertue, die Typen genau zu benennen.
Die beiden kompakten Praga-Tourenwagen scheinen sich bis auf die Ausführung des Kühlers fast vollkommen zu entsprechen. Rechts haben wir eine ältere Version mit „Schnabelkühler“, links eine neuere mit glatter Kühlerfront.
Was wir hier vor uns haben, ist typisch für die Marke Praga – nämlich die stetige Weiterentwicklung eines Typs, der in zahlreichen aufeinanderfolgenden Kleinserien über viele Jahre gebaut wurden, die sich in oft nur schwer greifbaren Details unterschieden.
Im vorliegenden Fall sind wir wahrscheinlich Zeuge des Übergangs von einer frühen Serie des kleinen Praga „Alfa“, der seit 1913 gebaut wurde, zu einer späteren.
Das konnte wie im vorliegenden Fall mit einer nur kosmetischen Modernisierung einhergehen, jedoch auch mit einem deutlichen Wachstum von Radstand, Hubraum und Leistung, ohne dass man eine neue Typbezeichnung für nötig hielt.
So ist es bei Praga nicht ungewöhnlich, dass ein Modell im Lauf der Jahre aus seiner ursprünglichen Klasse herauswuchs. Das war auch beim „Alfa“ der Fall, sodass man dem ursprünglich in der Kleinwagenklasse angesiedelten Typ ab Mitte der 1920er Jahre ein kleineres Schwestermodell zur Seite stellte, den „Piccolo“.
Oberhalb der beiden angesiedelt war – wenn ich es richtig sehe – der Praga „Mignon“.
Dieser war bei seiner Einführung 1911 noch ein Fahrzeug der unteren Mittelklasse, doch schon kurz nach dem 1. Weltkrieg hatte er beachtliche Ausmaße angenommen und wartete mit 30 PS statt anfänglich gut 20 PS auf.
Wenn ich mich nicht täusche, haben wir hier ein Exemplar davon:

Stilistisch entspricht dieser beachtliche Tourenwagen weitgehend dem Erscheinungsbild des kleineren Praga Alfa auf dem eingangs gezeigten Foto.
Doch seine Dimensionen sind deutlich erwachsener und er dürfte sechs bis sieben statt nur vier Insassen Platz geboten haben. Der Schnabelkühler verrät, dass es sich noch um ein frühes Exemplar handelt – spätestens Mitte der 1920er Jahre verschwand dieses Relikt.
Es ist nun fast 100 Jahre her, dass dieser Wagen so prominent inmitten einer Gruppe von Automobilisten platziert wurde. Diese genossen das damals rare Privileg, ihren Sehnsüchten im Automobil nachjagen zu können.
„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ – dieser Ausruf von Mignon im Werk von Goethe galt und gilt sinngemäß für all die, die einem nüchternen Alltag durch Flucht auf Zeit entkommen wollen.
Im vorliegenden Fall können wir davon ausgehen, dass der Praga „Mignon“ seine Insassen ihren Sehnsüchten näherbrachte, zumindest was die Flucht aus beengten städtischen Verhältnissen hinaus in eine grandiose Natur angeht:

Leider ist die schillernde Geschichte der Praga-Automobile meines Wissens bislang nirgends in deutscher Sprache aufgearbeitet, weshalb ich bei den durchaus zahlreichen Fotos von Wagen dieser Marke in meinem Fundus oft auf Vermutungen angewiesen bin.
So bleibt auch der Praga „Mignon“ für mich in mancher Hinsicht ein Mysterium – und im Fall solcher fabelhaften Fotos auf Vermutungen angewiesen zu sein, das macht mir zu schaffen.
„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ – wenigstens gibt es eine Vertonung des Lieds von Mignon, die keine Wünsche offen lässt, nämlich die von Franz Schubert.
Welche Interpretation davon zu bevorzugen ist, das ist eine ganz eigene Herausforderung.
Es gibt eine Version der amerikanischen Sopranistin Barbara Bonney, an der es nichts auszusetzen gibt, außer dass sie ein wenig zu steril ist. Nach einiger Überlegung habe ich dem raffinierteren Vortrag von Gundula Janowitz den Vorzug gegeben:
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