Rustikaler Franzose mit Charakter: Renault KZ 10 CV

“Früher war alles besser” – natürlich nicht. Aber seien wir ehrlich: einiges schon.

Noch bis in die 1980er Jahre war eine Reise ins benachbarte europäische Ausland in vielerlei Hinsicht eine Offenbarung: Hinter der Grenze wartete eine aufregend andere Welt auf einen, das ging schon auf der Autobahn los.

Fuhr man über die Alpen, war man mit einem Mal umzingelt von wieselflinken Alfas und Fiats, engagiert gefahren von der zornigen studentessa mit Lockenmähne ebenso wie vom abgeklärten graumelierten avvocato.

Von der hemmungslosen Begeisterung unserer italienverliebter Landsleute in der Nachkriegszeit kündet folgende Aufnahme, die um 1960 an der Via dei Fori Imperiali in Rom unweit des Kolosseums entstand:

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Straßenszene aus Rom; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Der flott uniformierte römische Verkehrspolizist wurde hier kurzerhand für’s Fotoalbum “dingfest” gemacht, während im Hintergrund jede Menge Fiats vom Topolino der Vorkriegszeit bis zum aktuellen 1100er vorbeisausen.

Bis in die 1980er Jahre war in Italien diese Philosophie des “fare bella figura” noch lebendig – die abendliche “passegiata” war in jedem Dorf für den nordischen Gast eine Offenbarung, ein Augenschmaus.

Tempi passati – vorbei – und das gilt auch für die eigenständige Automobilkultur im einstigen Sehnsuchtsland der Deutschen, die sich heute lieber auf schwimmenden Einkaufszentren nach US-Vorbild durch die Welt schippern lassen.

Die globale Gleichschaltung des Geschmacks hat leider auch nicht vor unseren französischen Nachbarn haltgemacht.

Geballte Banalität und Hässlichkeit machen sich dort ebenso breit, wofür die heutigen Hervorbringungen des Traditionsherstellers Renault ein Beispiel sind.

Das aktuelle Modell “Captur” nötigt den Verfasser regelmäßig zu unflätigen Bemerkungen, die hier besser nicht wiedergegeben werden.

Zum Glück haben wir aber auch zu Renault genügend historisches Fotomaterial, um tief in die Vergangenheit abzutauchen:

Renault_1924_Galerie

Renault KZ 10 C.V.; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So “schräg” wie dieser Renault daherkommt, so eigenwillig waren viele französische Autos bis in die 1970er Jahre.

Durchdacht und gut konstruiert waren sie dabei meist auch – immerhin hatten die Franzosen dem Automobil in Europa zum Durchbruch verholfen, nachdem sie um 1900 die Technologieführerschaft übernommen hatten.

Eine Tourenwagenversion des abgebildeten 10 PS-Modells von Renault, das mit kleinen Änderungen von 1923 bis 1933 gebaut wurde, haben wir auf diesem Oldtimerblog bereits hier vorgestellt.

Dieses Mal haben wir es allerdings mit einer ungewöhnlichen Variante zu tun, die möglicherweise ein Einzelstück darstellt. Denn der Besitzer dieses Renault verpasste dem Wagen irgendwann einen Transporteraufbau.

Das Besondere daran sind die in handwerklicher Arbeit ausgeführten Bordwände aus Holz in Kombination mit einem die Ladefläche einbeziehenden Tourenwagenverdeck:

Renault_1924_Ausschnitt1

Eine vergleichbare Konstruktion, die hier zudem sehr sorgfältig ausgeführt erscheint, ist dem Verfasser noch nie begegnet.

Damit konnte der Renault gleichermaßen als geschlossener Kastenwagen als auch mit offener Ladefläche eingesetzt werden. Möglicherweise ließ sich das Verdeck bei Bedarf komplett entfernen.

Das war wohl eine hochindividuelle Lösung – es sei denn, ein Leser weiß von weiteren solcher Varianten des Renault KZ 10 C.V.

Auch der stolze Besitzer kann als Charakterkopf durchgehen, wie er heute in Frankreich selten geworden ist:

Renault_1924_Ausschnitt2

Was dieser rustikal anmutender Gallier wohl zu dem mit seiner Lehrerin verheirateten blassen Bankerbübchen sagen würde, das heute Frankreichs Staatspräsident ist?

Er hätte vermutlich einen Charles de Gaulle vorgezogen, der 1944 der bizarren Vorstellung eines alliierten Besatzungsregimes in Frankreich mutig entgegentrat, und in der Nachkriegszeit das Ideal des “Europa der Vaterländer” formulierte.

De Gaulle drückte Frankreich bis in die 1970er Jahre seinen durchaus nicht unproblematischen Stempel auf.

Doch er gehörte wie seine Zeitgenossen auf deutscher Seite einer Politikergeneration an, die sich unter schweren Umständen hervorgetan hatte und auf Grundlage von Bildung und Überzeugung handelte.

In unseren Tagen dominieren in Europa allerorten Karrieristen und Opportunisten die Bühne, bei denen es oft nicht einmal zu einem Berufs- oder Studienabschluss gereicht hat.

Eine von wirklichen Individualisten bevölkerte Welt ist für solche Leute eine Horrorvorstellung.

Passend zu ihren Bemühungen um totale Gleichschaltung von Meinungen und Äußerungen arbeiten etliche auf eine Nivellierung geistiger Fähigkeiten hin, vgl. etwa “Schreiben nach Gehör” und “einfache Sprache”.

Wer verstehen will, wie der Zauber des einst so vielfältigen, vitalen und dabei vollkommen friedlichen Nachkriegseuropas verlorengehen konnte, kommt um eine solche Analyse heutiger Politik leider nicht umhin…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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