1914: Schnell noch ein Foto im Protos-Tourenwagen…

Das Foto, mit dem wir uns heute beschäftigen, führt uns über 100 Jahre zurück – in den September 1914, seit einigen Wochen herrschte damals Krieg in Europa.

Die wenigsten Leute haben heute eine Vorstellung davon, wie weit entwickelt viele Automobile zu diesem Zeitpunkt bereits waren – technisch wie formal. So gravierend der Bruch des 1. Weltkriegs auch war, waren doch viele Entwicklungen der Nachkriegszeit 1914 bereits angelegt.

Wer die letzten Jahre des deutschen Kaiserreichs mit motorisierten Kutschen und wallenden Germanenbärten verbindet, darf sein Vorurteil hier korrigieren:

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Protos Tourenwagen, September 1914; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Moderner als dieser deutsche Wagen mit seinen klaren, dennoch eleganten Linien sahen auch die Fahrzeuge beim Gegner damals nicht aus. Das wird uns bei der Bestimmung des genauen Typs noch helfen.

Die Aufnahme ist von hoher Qualität, wobei zu bedenken ist, dass wir einen über 100 Jahre alten Abzug einer längst verlorenen Glasplatte vor uns haben, auf den einst das noch schärfere und detailreichere Negativ gebannt war.

So haben wir die Gelegenheit, außer dem Auto einige Feinheiten bestaunen zu können, die bei so alten Fotografien oft nur verschwommen erkennbar sind.

Doch erst einmal der obligatorische Blick auf die Kühlerpartie, die uns die Sache auf den ersten Blick leicht macht:

Protos_09-1914_Frontpartie

Die gewaltigen Scheinwerfer lassen gerade noch so viel erkennen, dass sich der Wagen eindeutig als Protos ansprechen lässt.

Die Berliner Marke zeichnete sich seit der Übernahme durch den Siemens-Verbund im Jahr 1908 durch einen V-förmigen Bogen im oberen Teil der Kühlermaske aus (siehe Bildbericht zum Protos G-Typ).

Das Detail war einzigartig – der Überlieferung nach war es eine Anspielung auf den ersten Buchstaben im Nachnamen des Protos-Konstrukteurs Ernst Valentin.

Auf obigem Ausschnitt des Vorderwagen fällt außerdem auf, dass der Protos mit Drahtspeichenfelgen mit Zentralverschlussmutter ausgestattet ist.

Dem Verfasser ist keine einzige weitere Aufnahme eines Protos aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bekannt, an dem solche Felgen zu sehen sind. Die Literatur erwähnt durchgängig Holzspeichenräder.

Für sich genommen heißt das nicht viel, doch die nächste Auffälligkeit folgt sogleich: Die Motorhaube weist sechs hohe Luftschlitze auf – ebenfalls ungewöhnlich.

Nach dem 1. Weltkrieg waren die Verhältnisse einfacher. Es gab nur noch den Vierzylindertyp C 10/30 PS und den Nachfolger C 10/45 PS. Bei ihnen waren pro Haubenseite zwei Gruppen zu je vier bzw. fünf Luftschlitzen angebracht.

Das sah dann so aus:

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Protos Typ C 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Mangels Hinweisen in der sehr dürftigen Literatur zu Protos ist man versucht, die Zahl der Luftschlitze mit der Größe des Motors bzw. der Zylinderzahl in Verbindung zu bringen.

Was würde das demnach bedeuten, wenn wir auf unserem Foto eine Gruppe von sechs Luftschlitzen sehen? Ist das ein Hinweis auf einen Sechszylindermotor?

Neben den bis 1912 gebauten „kleinen“ Sechszylindern des Typs F mit 15/38 bzw. 18/45 PS baute Protos bis 1914 den Typ E2 – ein gewaltiges Aggregat mit 6,7 Liter Hubraum und zuletzt 65 PS, allerhand für einen Serienwagen vor über 100 Jahren!

Dummerweise lassen die Abbildungen der 6-Zylindertypen von Protos kein Muster bei den Luftschlitzen in der Motorhaube erkennen. Mal sind es drei, weit nach hinten versetzt, mal sind es vier mittig angebrachte Schlitze.

Hier eine Reklame von 1914, die den Protos E2 27/65 PS mit 6-Zylindermotor zeigt:

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Protos Typ E2 /27/65 PS, Reklame aus „Motor“, Mai 1914

Vollends verwirrend wird es, wenn man sich an der einzigen Abbildung in der Literatur orientiert, die einen Vorkriegs-Protos mit sechs Luftschlitzen in zwei Paaren zeigt.

In Hans-Otto Neubauers Buch „Autos aus Berlin – Protos und NAG“ wird dieses Fahrzeug auf Seite 52 als Typ F 18/45 PS mit Vierzylindermotor bezeichnet. Dieser Typ besaß aber – wie gesagt – in Wirklichkeit einen 6-Zylindermotor.

Es wird noch kurioser: Exakt dieselbe Abbildung findet sich in Hans-Heinrich von Fersens Standardwerk „Autos in Deutschland 1885-1920“, 2. Auflage 1968, auf Seite 338. Dort wird das Auto als Typ C 14/38 PS bezeichnet.

Gemeint ist wahrscheinlich ein Typ C2 14/38 PS, wie er 1913/14 gebaut wurde. Nur waren alle C-Typen von Protos Vier- und keine Sechszylinder.

Fazit: Man traue gerade bei den frühen deutschen Vorkriegsautos wenig dokumentierter Marken nicht blind der meist jahrzehntealten Literatur.

Das soll keine Kritik an den Leistungen der Autoren sein, die nicht die heutigen Möglichkeiten zur Recherche hatten und keine Markenspezialisten waren.

Das Faszinierende in unseren Tagen ist, dass wir mit der inzwischen vorliegenden Evidenz in Form historischer Originalfotos Lücken schließen können, vor denen die Altvorderen noch kapitulieren mussten.

Zwar können wir aufgrund widersprüchlicher Angaben in der Literatur noch nicht genau sagen, was das für ein Protos auf unserem Foto ist. Wir können die in Frage kommenden Typen aber einengen. 

Dazu kehren wir nochmals zu dem Ausschnitt mit dem Vorderwagen zurück:

Protos_09-1914_Frontpartie

Hier bilden die Motorhaube und der Windlauf vor der Frontscheibe fast eine Linie. Der Windlauf taucht überhaupt erst um 1910 auf, zuvor stieß die Haube rechtwinklig auf die vordere Schottwand.

Die ersten Windläufe gingen noch von der Motorhaube steil nach oben, ab 1912 flachten sie sich ab, wie das hier zu sehen ist.

Im Windlauf „unseres“ Protos sind elektrische Positionsleuchten zu erkennen, die man bei Protos den wenigen Abbildungen zufolge erst 1913/14 verbaute.

Bleibt die Frage, welche Typen Protos um diese Zeit anbot; das ist gut dokumentiert:

Da gab es noch den altertümlichen G-Typ mit kleinem 22-PS-Vierzylinder, den wir angesichts der Länge der Haube ausschließen können. Wahrscheinlicher sind die größeren Vierzlindertypen E1 18/35 PS und C mit 10/30 bzw. 14/38 PS.

Der einzige Sechszylinder, den Protos direkt vor dem Krieg noch baute, war der schon erwähnte Typ E2 27/65 PS. So reizvoll die Idee auch erscheint, der Wagen auf unserem Foto wirkt etwas zu klein für einen dieser Hubraumriesen.

Die sechs Luftschlitze in der Motorhaube gehörten letzlich wohl doch zu einem der Vierzylindertypen, am ehesten dem C2 14/38 PS, den Hans-Heinrich von Fersen in seinem Buch abgebildet hat – mit zwei Paaren von je sechs Luftschlitzen.

Das war für die weniger archäologisch veranlagten Vorkriegsfreunde hartes Brot – aber der Verfasser wollte vorführen, welche Probleme die Identifikation deutscher Automobile aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bereiten kann.

Zur Belohnung und Entspannung folgen nun noch ein paar Ausschnittsvergrößerungen, bei denen man den detektivischen Spürsinn schlummern lassen kann – interessant wird’s aber allemal:

Protos_09-1914_Frontpartie2

Hinter dem Protos sieht man akkurat aufgereiht identische Zelte – sicher eine Militärbasis. Davor stehen geduldig zwei Pferde (evtl. auch ein Maultier). Wo die Eisenbahnen endeten, leisteten sie und ihre Artgenossen im 1. Weltkrieg die Haupttransportarbeit für’s Heer – vom Nachschubwagen bis zum Geschütz.

Der Kutscher ist eindeutig ein Zivilist, ein Hinweis darauf, dass dieses Foto nicht an der Front entstanden ist, sondern vermutlich auf einem Truppenübungsplatz oder an einem Sammelpunkt auf deutschem Boden.

Für einen Übungsplatz würden auch die in Arbeitsmontur (aus hellem Drillich) gekleideten Männer beim Erdaushub hinter dem Heck des Protos sprechen:

Protos_09-1914_Heckpartie

Beim Stellungsausbau an der Front hätte das sicher anders ausgesehen. Sehr schön auf diesem Ausschnitt zu sehen ist der große Dreieckskanister für „Auto-Benzin“, der mit Lederriemen auf dem Trittbrett befestigt ist. 

Diesen Typ Benzinkanister findet man bei der Truppe bis zu Beginn des 2. Weltkriegs, erst dann wurde er vom rechteckigen 20-Liter-Wehrmachts-Einheitskanister abgelöst, der sich als internationaler Standard etabliert hat.

Zuletzt werfen wir noch einen Blick auf die Insassen des Protos, die sich vor über 100 Jahren haben ablichten lassen:

Protos_09-1914_Insassen

Die sechs Mann an Bord dürften Offiziere oder Unteroffiziere gewesen sein, und auch wenn sie den Karabiner griffbereit halten, verrät das Fehlen von feldmäßigen Pickelhauben, dass die Front weit weg ist.

Noch eindeutiger ist das Hinweisschild direkt hinter dem Protos, das mit etwas gutem Willen sogar lesbar ist. In der vorletzten Zeile steht: „Königliches Gouvernement“. Demnach ist die Aufnahme auf deutschem Boden entstanden.

Der Mann auf dem Beifahrersitz könnte der eigentliche Fahrer sein, die Montur mit doppelreihiger Lederjacke ist jedenfalls typisch für Chauffeure im 1. Weltkrieg. Möglicherweise wollte sein Chef für dieses Foto auch einmal am Lenkrad sitzen.

Diese Aufnahme entstand im September 1914. Zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Offensive an der Marne-Front zusammengebrochen. Vier Jahre Materialschlacht mit Millionen von Toten sollten folgen.

Keine Seite wollte das Blutbad unter den eigenen Bürgern beenden. Wie auch die Regierungen demokratisch verfasster Staaten seinerzeit über das „eigene Volk“ verfügten, stimmt sehr nachdenklich.

Statistisch betrachtet kehrte einer der sechs Insassen in unserem Protos nicht nach Hause zurück, die übrigen erlitten Verwundungen und waren im schlimmsten Fall verstümmelt.

Vielleicht doch besser das Volk befragen, bevor man Entscheidungen über Wohl und Wehe derer trifft, die es auszubaden haben. Ansonsten: Schnell noch ein Foto im Protos-Tourenwagen, bevor es ins Inferno geht…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

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