Heute sind Sie wieder einmal besonders gefragt, liebe Leser.
So willkommen mir auch sonst alle fundierten Kommentare sind (die unterhaltsam geschriebenen mag ich auch), meist habe ich den Anspruch, selbst die Rätsel auf den alten Autofotos zu knacken, die ich hier präsentiere (falls es überhaupt welche sind).
Diesmal brauche ich aber wirklich Verstärkung, denn meine detektivischen Fähigkeiten haben sich bereits mit der Identifikation des folgenden Fahrzeugs erschöpft (für heute):

Die alten Hasen und Häsinnen (so viel Spaß muss sein) unter meinen Lesern mögen diesen Tourenwagen für einen klaren Fall halten. Ich befasse mich aber überhaupt erst seit 2015 mit Vorkriegsautos und war daher lange ziemlich ratlos.
Natürlich bin ich selbst schuld daran, denn ich kaufe systematisch Fotos der 5 Euro-Klasse, die nicht auf Anhieb erkennen lassen, was darauf zu sehen ist. Wenn man sonst keine Probleme hat, macht man sich halt welche.
Zum Glück habe ich während meiner kurzen Karriere bereits etliche Gleichgesinnte kennen- und schätzengelernt, die schon etwas länger solche Sachen sammeln und studieren. Einer davon konnte mir wieder einmal helfen, ohne es zu wissen.
Aber der Reihe nach: Schauen wir doch erst einmal, was sich im vorliegenden Fall mit “Bordmitteln” erreichen lässt. Dazu werfen wir einen genaueren Blick auf die bei Vorkriegsautos in der Regel alles entscheidende Vorderpartie:

Frontscheinwerfer und Positionslampen (vor der Windschutzscheibe) sind noch gasbetrieben – ein klarer Hinweis auf eine Entstehung vor dem 1. Weltkrieg, und zwar noch vor 1913/14.
An die fast waagerecht verlaufende Motorhaube schließt sich übergangslos ein stärker nach oben ansteigendes Blech an, der sogenannte Windlauf. Dieser hielt bei Serienautos im deutschen Sprachraum 1910 Einzug auf breiter Front.
Frühe Ausführungen wirken noch wie nachträglich aufgesetzt – das waren sie oft auch – während spätere (1913/14) meist mit der Motorhaube eine harmonische Linie bilden. Die Situation auf meinem Foto entspricht etwa dem Zwischenstand von 1912.
Was lässt sich sonst noch festhalten?
Je drei in zwei Gruppen zusammengefasste Luftschlitze in der Motorhaube, klar erkennbare Nietenreihen entlang der Haubenkanten und der Verstärkung dienende Sicken am vorderen und hinteren Ende der Haube.
Hilft das irgendwie weiter? Nur dann, wenn man ein zweites Foto mit denselben Details findet, bei dem der Hersteller identifizierbar ist. Genau damit konnte mein Dresdener Sammlerkollege Matthias Schmidt aufwarten, der schon etwas länger “im Geschäft” ist.
Denn vor einiger Zeit “versorgte” er mich mit der folgenden Aufnahme aus seinem Fundus, die den Hersteller klar erkennen lässt: Protos aus Berlin!

Dieses hervorragende Foto ist eines von unzähligen, die von der Selbstverständlichkeit zeugen, mit der unsere Altvorderen auch im Winter mit ihren damals fahrwerksseitig noch unvollkommenen Wagen unterwegs waren.
Schmale Räder mit großem Durchmesser und mit Schneketten versehen sind bei solchem Untergrund allerdings durchaus geeignet, um für Traktion zu sorgen. Schnell gefahren wurde ohnehin unter diesen Bedingungen nicht und Gegenverkehr gab es kaum.
Für die Schneeflöckchen unserer Tage, die bereits als Knirpse auf dem Laufrad Helm tragen müssen (gerade kürzlich wieder gesehen), wäre freilich bereits die Aussicht auf eine winterliche Ausfahrt ohne Verdeck und ohne Gesichtsmaske das Grauen pur.
Lassen Sie sich nicht vom elektrischen Standlicht dieses Wagens im Windlauf irritieren, so etwas gab es als Option bereits vor elektrischen Frontscheinwerfern, als ab etwa 1912.
Dieses Auto besitzt sogar letztere, das wird aber damit zu tun haben, dass die Aufnahme auf 1928 datiert ist und der Wagen nach dem 1. Weltkrieg eine komplette elektrische Anlage von Bosch erhalten haben muss:

Ansonsten entspricht die Gestaltung des Tourers vollkommen derjenigen des eingangs gezeigten Exemplars. Bloß sehen wir hier die Kühlergestaltung eines “Protos”, die unverwechselbar ist.
Aus meiner Sicht haben wir es hier mit einem Wagen des Vierzylindertyps G2 8/22 PS zu tun, der recht gut dokumentiert ist (siehe auch meine Protos-Galerie).
Den Vergleich der weiter oben aufgezählten Details der Haubenpartie überlasse ich Ihnen. Aus meiner Sicht ergeben sich hinreichende Übereinstimmungen – beide Fotos zeigen offenbar einen Protos dieses G-Typs aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.
Rätselhaft bleibt aus meiner Sicht bloß dies:
Nachdem uns bei dem Protos auf dem zweiten Foto eine komplette Bosch-Lichtanlage begegnet ist, was hat es mit der “Bosch”-Villa im Hintergrund auf dem ersten Foto auf sich?

Die bekannte Villa der Familie Bosch sieht ganz anders aus und auch die Bosch-Villa in Radolfzell scheint nicht zu passen.
Nachdem ich mit der Identifikation des Protos-Tourers meine Schuldigkeit getan habe, sind nun Sie an der Reihe, dieses Rätsel zu lösen…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.