Glück – das war einst ein großer Fiat Tourenwagen…

1927 – vor 90 Jahren also – kam in Deutschland ein Auto auf 170 Einwohner. Das ist dem Monumentalwerk „Die deutsche Automobilindustrie“ von Hans C. von Seher-Thoss (1. Auflage 1974) zu entnehmen.

Anders gesagt besaßen damals rund 0,5 % der Deutschen ein Automobil. Im selben Jahr baute in den USA allein Chevrolet über eine Million Fahrzeuge…

Während sich in den Staaten praktisch jeder ein Auto leisten konnte, blieb dies in Deutschland ein exklusives Vergnügen. 

Man kann das im Wesentlichen mit dem verlorenen 1. Weltkrieg – oder besser gesagt – den erdrosselnden Auflagen der Siegermächte erklären:

  • Elsass und Lothringen wurden von Frankreich annektiert, Saarland und Ruhrgebiet besetzt bzw. wirtschaftlich durch Frankreich genutzt; das Industriezentrum Oberschlesiens ging an Polen,
  • alle überseeische Gebiete mussten abgetreten und der Großteil der Handelsflotte den Alliierten übergeben werden,
  • 1921 wurden Deutschland im Nachgang zum Versailler Vertrag Reparationen in Höhe von 132 Milliarden Goldmark auferlegt, abzustottern bis 1987,
  • mehr als ein Viertel der Exporteinnahmen waren an die Alliierten abzuliefern.

Das waren die Rahmenbedingungen (Quelle), die erklären helfen, weshalb Deutschland in den 1920er Jahren in Sachen individueller Mobilität hoffnungslos in Rückstand geriet – von den politischen Folgen ganz abgesehen.

So entschieden sich viele derer, die sich hierzulande überhaupt ein Automobil leisten konnten, für ausländische Fahrzeuge.

Neben US-Produkten waren in den 1920er Jahren vor allem die Modelle von Fiat erfolgreich im deutschsprachigen Raum, so auch dieses hier:

Fiat_507_oder_512_Tourenwagen_Galerie

Fiat 507 oder 512 Tourenwagen; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Mal ehrlich: Wer verbindet heute mit einem so großzügigen Wagen die Marke Fiat? So ändern sich die Zeiten und nicht in jeder Hinsicht nur zum Besseren…

In der Zwischenkriegszeit gehörten die Turiner Automobile zu den weltweit populärsten Fahrzeugen aus europäischer Produktion. Die Typen 501, 509 und 503, die wir hier bereits mehrfach besprochen haben, wurden ein Welterfolg.

Weniger bekannt sind die darüber angesiedelten Modelle 507 bzw. 512. Dabei handelte sich um ab 1926 gebaute Vier- und Sechszylindermodelle mit 2,3 bzw. 3,5 Liter Hubraum, die 35 bzw. 46 PS leisteten.

Mit insgesamt nur etwas mehr als 6.000 Exemplaren gehören sie zu den raren Fiat-Modellen jener Zeit. Zum Vergleich: Etliche deutsche Marken erzielten während ihres gesamten Bestehens nicht solche Stückzahlen.

Woran erkennt man aber diese gehobenen Fiat-Typen? Dazu schauen wir uns die Frontpartie des Wagens auf unserem Foto genauer an:

Fiat_507_oder_512_Tourenwagen_Frontpartie Über das Fiat-Emblem auf der mit klassisch geformtem Dreiecksgiebel versehenen Kühlermaske muss man keine Worte verlieren.

Interessanter wird es weiter unten: Die seitliche Verkleidung der Partie unterhalb des Rahmens und das ebenso weit hinunterreichende Abdeckblech unter dem Kühler sind typisch für die „großen“ Fiat-Modelle 507 und 512.

Das Tückische ist, dass sich die Versionen sonst äußerlich kaum unterschieden. Der Sechszylindertyp 512 wies gegenüber dem Vierzylindermodell 507 einen längeren Radstand auf, der dem längeren Motorblock geschuldet war.

Auf einer Aufnahme wie der hier vorgestellten lassen sich solche Unterschiede in den Proportionen kaum nachvollziehen.

Letztlich blieben beide Modelle gegenüber den kleinen Fiats jener Zeit sehr exklusiv. Umso erfreulicher, so einer Rarität und ihren erkennbar glücklichen Insassen auf einer historischen Aufnahme zu begegnen:

Fiat_507_oder_512_Tourenwagen_Insassen.jpg

Mit so einem sechssitzigen Tourenwagen aus dem Hause Fiat konnte man sich Ende der 1920er Jahre wahrhaft glücklich schätzen. Wir können heute kaum ermessen, wie bescheiden es bei 99 % der Deutschen damals zuging.

Die Insassen dieses Wagens wussten sicher, dass sie zu den „happy few“ gehörten, die in ihrer Freizeit eine solche Ausfahrt unternehmen konnten.

Dem Kennzeichen nach zu urteilen, scheinen unser glücklichen Fiat-Insassen einst in Südtirol gelebt zu haben, das 1918 an Italien fiel – ein Thema für sich…

Wir freuen uns mit ihnen an dem Fiat-Tourenwagen, der damals ein Prestige bot, von dem nichts geblieben ist außer dieser Aufnahme. Doch Oldtimer-Liebhaber können sich auch an längst vergangenem Glück erfreuen…

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

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