Die Spitzkühlermodelle, die die Stettiner Manufaktur Stoewer in der ersten Hälfte der 1920er Jahre baute, sind trotz überschaubarer Stückzahlen auf diesem Blog zahlreich anhand historischer Originalfotos dokumentiert.
Stellvertretend für die beiden erfolgreichsten Vertreter dieser Gattung – die Stoewer-Typen D3 und D5 – sei folgende Originalwerbung präsentiert:

Der Verfasser vermutet, dass diese außergewöhnliche Werbeanzeige mit einer charmanten Stoewer-Liebhaberin kurz nach dem 1. Weltkrieg entstand.
Dafür spricht der Hinweis auf den Flugmotorenbau, der nach dem Krieg letztlich aber keine Bedeutung mehr entfalten sollte. Zudem ist die junge Dame, die hier ihren Stoewer herzt, modisch noch nicht in den wilden 1920ern angelangt.
Wer auch immer der Grafiker war, der dieses schöne Dokument schuf, nahm es mit den Details der Stoewer-Wagen nicht so genau.
Ja, man erkennt hier einen D-Typ in seinen Grundzügen – wahrscheinlich das ab 1920 gebaute Sechszylindermodell D5 – doch die Proportionen passen nicht. Ein Stoewer-Wagen der D-Baureihe war keineswegs so putzig, wie er hier erscheint.
Tatsächlich handelte es sich um eindrucksvoll dimensionierte Wagen, wie folgende Aufnahme deutlich macht:

Unserer Stoewer-Liebhaberin in der Werbung ging die Motorhaube des Stoewer-Tourers gerade bis zur Hüfte. Dieser künstlerischen Freiheit stehen die wahren Proportionen des mächtigen Wagens auf dem Foto gegenüber.
Dass es ein Stoewer des D-Typs ist, verrät die Form des Spitzkühlers mit der leicht geneigten Vorderkante. Auch die niedrig angeordneten Luftschlitze passen dazu.
Äußerlich unterschieden sich die Spitzkühlertypen aus der D-Baureihe von Stoewer nur in Details. Umso bemerkenswerter ist es, dass wir den Stoewer auf dem Foto genau identifizieren können:

Trotz der mäßigen Qualität des über 90 Jahre alten Abzugs ist ein entscheidendes Element gut zu erkennen. So zeichnet sich hinter den Speichen des Vorderrads eine eindrucksvoll dimensionierte Bremstrommel ab.
Bremsen an den Vorderrädern besaßen die Stoewer-Wagen der bisher vorgestellten Typen D3 (Vierzylinder) und D5 (Sechszylinder) noch nicht. Vorderradbremsen wurden erst an den Nachfolgemodellen D9 und D12 verbaut.
Bei der Vierzylinder-Version D9 stieg die Leistung gegenüber dem D3 von 24 auf 32 PS, beim Sechszylinder-Typ D12 fielen 55 statt 36 PS an. Damit erreichten diese Kolosse Spitzengeschwindigkeiten von 90 bzw. 100 km/h.
1925, also nur ein Jahr nach Vorstellung der beiden Modelle, stattete man sie mit Vorderradbremsen aus, die Typbezeichnung änderte sich dementsprechend in D9V bzw. D12V.
Die kurze Motorhaube und der nicht weit nach hinten reichende Vorderkotflügel beim Stoewer auf dem Foto sprechen für die Vierzylinderversion D9V.
Der Reihensechszylinder D12V besaß eine längere Haube und sanfter auslaufende Schutzbleche in Verbindung mit einem 40 cm längeren Radstand.
Bevor nun jemand beanstandet, dass dies ja reichlich Details sind, die hier aus einem alten Foto von mäßiger Erhaltung herausgelesen werden, bringen wir folgende Aufnahme desselben Typs von ungleich besserer Qualität:

Solche spektakulären Ergebnisse vermochte Mitte der 1920er Jahre eine analoge Mittelformatkamera abzuliefern, wenn sie von sachkundiger Hand bedient wurde.
Überzeugend sind nicht nur die beachtliche Schärfe und der enorme Tonwertreichtum, sondern auch der Bildaufbau, der endlich einmal einen Stoewer D-Typ von vorne zeigt.
Und weil dieser alte Abzug es ohne weiteres hergibt, “zoomen” wir uns noch näher an dieses Prachtexemplar von Automobil heran:

Schöner als auf diesem Spitzenfoto wird man einen Stoewer-Wagen der D-Baureihe kaum abgelichtet finden. Das darf man genießen, so eine Aufnahme findet sich in der gesamten Literatur über Stoewer-Automobile nicht.
Man beachte beispielsweise den spannungsreichen Kontrast zwischen der oben abgerundeten Kühlermaske und dem unten eckig ausgeführten Abschluss. Raffinierte Details wie diese machten einst die Klasse von Stoewer-Wagen aus.
Apropos Details: Wer dem Hintergrund unserer Aufnahme etwas Aufmerksamkeit schenkt, wird dort außer dem kleinen Jungen, der sich ins Bild gemogelt hat, einige Firmenschilder registrieren:

Über dem Emaille-Schild mit der Aufschrift “Öffentliche Telephonstelle” ist eine Werbung für “Patrizier-Bier” der Nürnberger “Lederer-Bräu” angebracht. Vielleicht sagt einem in Bierwissenschaften sachkundigen Leser das etwas…
Wir wissen nur von der Beschriftung des Abzugs, dass dieses Foto im Juli 1930 in “Grünsberg bei Altdorf” entstand, wenn der Verfasser es richtig gelesen hat.
Demnach muss das Foto in der Nähe der gleichnamigen Burganlage im Raum Nürnberg entstanden sein. Erkennt jemand vielleicht den genauen Ort?
Nachtrag: Einem Leser verdanke ich den Hinweis, dass es sich um das Gasthaus zum roten Ross von Johann Schrödel, auch genannt Schrödel’sches Gasthaus, handelt.
Erwähnung verdienen nach Ansicht des Verfassers auch die drei Herren im bzw. neben dem Stoewer, die ohne weiteres als Charakterköpfe Theaterkarriere hätten machen können:

Das waren offenbar echte Persönlichkeiten, die ohne Stilberater sie selbst sein konnten, keine Abziehbilder aus Zeitgeistjournalen, die ängstlich darauf bedacht sind, alle dieselben Bärte, Brillen und Modelabels zu tragen.
Heute wird ja oft von Individualität und Vielfalt fabuliert – kann es sein, dass beides früher selbstverständlich war, als man dies nicht ständig betonen musste?
Wer partout die Gegenwart in jeder Hinsicht für die beste aller Welten hält, darf gern mal schätzen, wieviele Automarken es einst allein in Europa in der Vorkriegszeit gab.
Das richtige Ergebnis ist vierstellig und das mag erklären, warum die Zeiten wirklich bahnbrechender Innovationen längst vorbei sind.
Vielleicht wäre das anders, würden in Stettin und anderswo heute noch Autos von echten Erfinder-Unternehmern wie den Gebrüdern Stoewer gebaut…
© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.
Großartig, ganz herzlichen Dank für die Aufklärung!
> Über dem Emaille-Schild mit der Aufschrift „Öffentliche Telephonstelle“ ist eine Werbung für „Patrizier-Bier“ der Nürnberger „Lederer-Bräu“ angebracht. Vielleicht sagt einem in Bierwissenschaften sachkundigen Leser das etwas…
>
> Wir wissen nur von der Beschriftung des Abzugs, dass dieses Foto im Juli 1930 in „Grünsberg bei Altdorf“ entstand, wenn der Verfasser es richtig gelesen hat.
>
> Demnach muss das Foto in der Nähe der gleichnamigen Burganlage im Raum Nürnberg entstanden sein. Erkennt jemand vielleicht den genauen Ort?
Das ist vor dem Gasthaus zum roten Ross von Johann Schrödel, auch genannt Schrödel’sches Gasthaus, manchmal auch falsch “Gasthaus Schröder” mit “r” am Ende.
Einige Links zu Bildern, Stand 22.02.2020:
http://www.akpool.de/ansichtskarten/26029157-ansichtskarte-postkarte-gruensberg-altdorf-im-landkreis-nuernberger-land-gasthaus-zum-roten-ross-von-johann-schroedel
http://www.ebay.de/itm/184141742138 – Schrödel’sches Gasthaus
http://www.ebay.de/itm/274221130789 – Gasthaus Schröder
http://www.ansichtskartenversand.com/ak/91-Alte-Ansichtskarte/38696-Cafe-s-Gaststaetten-Hotels/7815522-AK-Gruensberg-Ortsansicht-Sophienquelle-Gasthaus-Schroedel
http://www.ansichtskarten-center.de/nuernberg-stadtkreis/gruensberg-im-schwarzachtal-teilansicht-gasthof-zum-roten-ross-gelaufen-gute-erhaltung – “zum roten Ross”
http://www.ansichtskarten-center.de/nuernberger-land-lkr-weitere/8503-gruensberg-1905-schloss-sophienquelle-gasthaus-von-j-schroedel-nuernberger-land-lkr – “Restauration J. Schrödel”