Zu den abwechslungsreichen Seiten der Beschäftigung mit Vorkriegswagen im deutschen Sprachraum gehört die einstige Präsenz von US-Fahrzeugen – zumindest auf historischen Fotos, die sogenannten “Oldtimermagazine” hierzulande scheinen wenig davon zu wissen.
Dabei findet man auf alten Aufnahmen aus deutschen Fotoalben neben den üblichen Verdächtigen wie Buick, Cadillac, Chevrolet, Chrysler, Dodge, Ford und Oldsmobile auch Exoten wie Auburn, Chandler, DeSoto, Graham, Maxwell oder Oakland.
Von diesen Importwagen, die teilweise sogar auf deutschem Boden montiert wurden, haben nur sehr wenige überlebt. Die zeitweilig schwierige Ersatzteilbeschaffung hat ihnen nach dem Krieg den Garaus gemacht.
An sich wäre das ein Grund mehr, sich damit zu beschäftigen, als den x-ten Artikel zu Porsche 911, E-Type, Pagode oder Gebrauchtwagen der 1990er Jahre zu schreiben. Aber dafür müsste man sich auch ein wenig anstrengen – und das scheint in unserem müde und bequem gewordenen Land außer Mode geraten zu sein.
Auf diesem Blog für Vorkriegsautos sehen wir die Sache dagegen sportlich – und ausgestattet mit einer umfangreichen Bibliothek lassen sich immer “neue” Funde machen und zur Freude einer mittlerweile beachtlichen Leserschaft identifizieren.
Wenn dann auch noch die Aufnahme selbst ein Leckerbissen ist, dann ist das Glück vollkommen wie hier:

Studebaker “Big Six”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
“Im Tessin”, so steht von alter Hand auf der Rückseite des kontrastreichen und brilliant belichteten Abzugs geschrieben.
Das Kennzeichen mit römisch “I” und dem Buchstaben “A” verrät uns, dass einst ein Berlin zugelassener Wagen in der italienischen Schweiz auf Urlaubstour war.
Was genau das für ein Tourenwagen war, der in den 1920er Jahren seine Insassen in den sonnigen Süden transportierte, erschließt sich nicht auf den ersten Blick, sondern will erarbeitet werden.
Klar ist nur, dass wir ein US-Fabrikat vor uns haben – Kühlerform und verschlungene Doppelstoßstange deuten darauf hin. Nun kommt die US-Vorkriegsauto-“bibel” (Standard Catalog of American Cars, von Kimes/Clark) ins Spiel.
Das über 1.600 Seiten starke Werk ist eine unübertroffene Aufarbeitung der wichtigsten der über 5.000 (fünftausend) Automarken, die es in den Vereinigten Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg gab.
Dort werden nicht bloß Hersteller aufgezählt und ein paar lapidare Fakten angeführt. Soweit verfügbar werden für jedes Baujahr und jeden Typ präzise Angaben zur Erscheinungsbild, Technik, Ausstatttung und Stückzahlen gemacht.
Wie informativ dieses Meisterwerk ist, können wir anhand des Wagens auf unserem Foto nachvollziehen:
Eine Internetrecherche zu diesem Fahrzeug wäre zwecklos – wo soll man auch beginnen, selbst wenn man die Marke kennt?
Immerhin lässt sich anhand des Markenemblems erahnen, dass man es mit einem Wagen des 1902 gegründeten Autoherstellers Studebaker zu tun hat. Doch die präzise Ansprache von Typ und Baujahr ist nur anhand des erwähnten Buchs möglich.
Dort werden als formale Kennzeichen des Studebaker “Big Six” Model EP von 1925/26 folgende Details angeführt:
- Kühlermaske mit abgestufter Oberseite
- Motorhaube mit seitlicher Zierleiste und aufgesetztem Luftschlitzblech
- Leiste am hinteren Abschluss der Haube
- Positionsleuchten im Windlauf
- geflügelter Deckel mit Thermometer auf dem Kühlwasserstutzen
- einteilige Frontscheibe mit Scheibenwischern
- serienmäßige Stoßstangen
Die Scheibenräder waren als Extra erhältlich wie übrigens auch hydraulische Vierradbremsen. Ledersitze besaßen auch die offenen Basisvarianten.
Zur Motorisierung des Studebaker “Big Six” finden wir folgende Angaben:
- 5,8 Liter Hubraum
- 75 PS Höchstleistung bei 2.400 U/min
- 4 Kurbelwellenlager
Mitte der 1920er Jahre war ein so großzügig ausgestatteter und dermaßen gut motorisierter Großserienwagen am deutschen Markt praktisch konkurrenzlos.
Auch von den Stückzahlen konnte man hierzulande nur träumen: Von den Sechszylindermodellen aller Varianten fertigte Studebaker im Modelljahr 1925/26 fast 240.000 Stück.
Mit einem leistungsfähigen US-Wagen wie diesem ließen sich auch Fernreisen bedenkenlos absolvieren, wovon unser Aufnahme zeugt. Jedenfalls scheinen die beiden weiblichen Insassen glücklich mit ihrem Urlaubstransporter gewesen zu sein:
Wer die Gesichter der beiden Damen vergleicht, könnte zur Einschätzung gelangen, dass es sich um Mutter und Tochter handelt. Der Herr Papa hat dann möglicherweise das Foto geschossen.
Wer aber ist die dritte Person auf dem Bild, die sich lässig auf den rechten Vorderkotflügel und den Scheinwerfer stützt?
Der großgewachsene, blendend aussehende Mann, der uns hier selbstbewusst fixiert, hätte vermutlich als Filmschauspieler und Frauenheld beste Chancen gehabt:
Vom Typus her würde man den blonden Recken irgendwo im hohen Norden Deutschlands oder in Skandinavien verorten.
Vielleicht war er ein Freund der Berliner Familie, der hier im Studebaker mit von der Partie war – leider wissen nichts genaues über ihn.
Mit erfundenem Namen und getürkter Unterschrift könnte man aus diesem Ausschnitt glatt die Autogrammkarte eines Schauspielers der 1920er Jahre machen.
Auch das macht Veteranenwagen auf alten Fotos so einzigartig – man kann sie zusammen mit den Menschen studieren, die sie einst besaßen, bewunderten oder zeitweilig benutzten.
Und schon bewegen einen mehr als die blanken Daten und Fakten des längst den Weg alles Irdischen gegangenen Vorkriegsautos, das dort zu sehen ist…
© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.