US-Vorkriegswagen hatten in Europa ihre große Zeit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Speziell am deutschen Markt waren die gut motorisierten und großzügig ausgestatteten “Amerikanerwagen” ungeheuer erfolgreich.
Die einheimischen Hersteller verstanden lange nicht, dass sie nur mit Massenproduktion eine Chance gegen die Konkurrenz aus Übersee hatten – selbst im rückständigen Italien setzte Fiat längst erfolgreich auf Großserie.
Mit der Weltwirtschaftskrise gingen die Marktanteile der US-Wagen rasch zurück – die bisherige Klientel, die sich trotz der rigiden deutschen Hubraumbesteuerung großvolumige amerikanische Autos leisten konnte, musste kleinere Brötchen backen.
Gleichzeitig begannen die einheimischen Hersteller aufzuholen und setzten vor allem fahrwerksseitig auf moderne Konzepte, die zunehmend gut ankamen.
Wirklich souverän motorisierte und einigermaßen erschwingliche Autos aus deutscher Produktion blieben aber Mangelware. Das sagte sich offenbar auch der Besitzer dieses Wagens:

Chevrolet “Six” von 1933; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Dieser Abzug wirkt wegen des strukturierten Papiers in digitalisierter Form deutlich körniger, als er es tatsächlich ist. Dieses Problem taucht auf auf Ansichtskarten der Vorkriegszeiten bisweilen auf.
Gut erkennbar ist aber die Hafeneinfahrt der bis heute weitgehend erhaltenen historischen Stadt Lindau am Bodensee mit dem Leuchtturm von 1856 und dem monumentalen Bayrischen Löwen.
Auf der gegenüberliegenden Kaimauer steht eine große Sechsfenster-Limousine, bei der man wegen der massiven Fenstersäulen gleich auf ein US-Fabrikat der frühen 1930er Jahre tippen würde – aber welches?
Das Foto war lange eines von Dutzenden in der Sammlung des Verfassers, die noch der Identifikation harren. Doch kann man sich mit etwas Geduld auch solch einem Fahrzeug auf systematische Weise nähern und es schließlich klar ansprechen.
Basierend auf der Ausgangsthese, dass es sich um ein US-Auto handelt, das in Deutschland verkauft worden war, reduziert sich die kolossale Zahl an einstigen amerikanischen Automarken auf rund ein Dutzend “Verdächtige”.
Bevor man also den “Standard Catalog” of American Cars von Clark/Kimes bemüht, der eine vierstellige (!) Zahl von US-Marken abdeckt, ist man gut beraten, erst einmal einen “Europa-Filter” vorzuschalten.
Dazu eignet sich hervorragend ein Buch, wie es wohl nur in England entstehen konnte: “American Cars in Europe 1900-1940 – A Pictorial Survey” von Bryan Goodman (2006).
Darin werden anhand zeitgenössischer Originalaufnahmen und Reklame US-Automobile vorgestellt, die einst in Europa verkauft wurden. Mit rund 200 Seiten ist das Werk auch rascher durchgearbeitet als die 1.600 Seiten starke US-Auto”bibel”.
Schon auf Seite 25 wurde der Verfasser fündig, zumindest beinahe. Dort fand sich die Abbildung eines Wagens, dessen Frontpartie in wesentlichen Teilen mit diesem Ausschnitt übereinstimmte:
Einteilige Stoßstange, Chromradkappen an Speichenfelgen, schwungvoll ausgeführte Schutzbleche mit Seitenschürzen, leicht schrägstehende Frontscheibe und – hier kaum erkennbar – seitliche Luftklappen mit jeweils einer waagerechten Chromleiste.
Von der Kühlerpartie ist zwar nur wenig zu sehen, doch auch sie passt auf den ersten Blick zum genannten Foto. Dieses zeigt einen Buick “Eight” Series 50 von 1933 mit Cabrioletaufbau von Langenthal in Bern, also eine offene Version.
Mit dieser Information kann man nun gezielt den “Buick”-Eintrag im “Standard Catalog of American Cars und dort speziell das Modelljahr 1933 durchgehen.
Darin findet sich derselbe Aufbau als 6-Fenster-Limousine wie auf unserem Foto unter der Bezeichnung “Series 57”. Selbst Details wie das aufschiebbare hintere Seitenfenster finden sich in beiden Fällen:
Dabei hat die Aufnahme aus Lindau am Bodensee den Vorzug, dass wir zwei junge Damen im langen Wollmantel als “Extra” geboten bekommen.
Es muss ein kalter Tag gewesen sein, als das Foto entstand: Die eine der Damen hat ihre Handtasche unter den Arm geklemmt und die Hände in den Manteltaschen versenkt.
Die andere hält die Handtasche am linken Arm, scheint aber mit der Temperatur ebenfalls nicht ganz zufrieden zu sein. Ihr Blick dürfte auf die Fassade des Bahnhofs gegangen sein, der sich direkt an der Lindauer Hafenpromenade befindet.
“Man könnte sich doch im Bahnhofsrestaurant aufwärmen”, mag sie gedacht haben. Ja, das hätte man tun können, denn in der Vorkriegszeit waren Bahnhöfe noch gepflegte Orte, an denen man respektabel speisen konnte.
Der Fotograf mag anderes im Sinn gehabt haben. Ihm kam es vor allem darauf an, seinen Wagen und die beiden Begleiterinnen möglichst ansprechend auf Zelluloid zu bannen.
Dass sich der Wagen bei näherer Betrachtung doch nicht als Buick “Eight”, sondern als günstigerer Chevrolet “Six” aus demselben Modelljahr 1933 erwies, tut der eindrucksvollen Erscheinung keinen Abbruch.
Die beiden Marken aus dem General Motors-Konzern wurden bei stark unterschiedlicher Motorisierung und Ausstattung letztlich mit sehr ähnlichen Karosserien versehen.
Unsere Buick-Besatzung wird ihre Tour am Bodensee unter denkbar angenehmen Umständen absolviert haben – zumindest, was den automobilen Untersatz angeht. Das gesellschaftliche Umfeld dagegen sollte sich ab 1933 dagegen rapide eintrüben…
© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.