Im heutigen Blog-Eintrag geht es um einen alten Bekannten – zumindest für Leser, die meiner Dokumentation von Vorkriegswagen im deutschen Sprachraum schon eine Weile folgen.
Es geht um den von 1928 bis 1932 gebauten Typ W11 von Wanderer, mit dem die bis dato auf brave Vierzylinder spezialisierte sächsische Marke erstmals in die prestigeträchtige Sechszylinderklasse vorstieß.
Nach etwas bieder geratenem Beginn verpasste man dem 50 PS starken, großzügig dimensionierten Wagen ab 1929 ein angemessenes Erscheinungsbild.
Das lässt sich anhand einiger Originalfotos nachvollziehen, die ich bereits besprochen habe, darunter auch solche von Lesern (Dank an: Marcus Bengsch, Martin Möbus und Klaas Dierks):
Schnell zeigt sich, dass kaum einer dieser imposanten Wanderer-Wagen des Typs W11 wie der andere aussah.
Kein Wunder – Wanderer stellte den Karosseriebau beginnend im Jahr 1929 ein, und rund ein Dutzend Karosseriehersteller lieferten von da an Aufbauten für das Modell.
Nur die Frontpartie folgte den gestalterischen Vorgaben des Werks. Und genau dort vollzogen sich Änderungen, die das Erscheinungsbild entscheidend beeinflussten.
In den Modelljahren 1929 und 1930 präsentierte sich die Kühlerpartie des Wanderer W11 wie auf diesem Bildausschnitt:

Wanderer W11 10/50 PS; Ausschnitt aus Originalfoto von Marcus Bengsch
Man beachte zum einen das traditionelle Wanderer-Emblem im oberen Teil der Kühlereinfassung, deren Unterseite markant geschwungen und stark profiliert ausgeführt war. Typisch ist zum anderen die optisch zweigeteilte Ausführung der Vorderschutzbleche mit ausgeprägten Sicken.
Das Fehlen der damals Wanderer-typischen Fahrtrichtungsleuchten auf den Kotflügeln ist ein Beleg für die oft individuelle Ausführung dieser Wagen (siehe das Porträt dieses Wagens hier) bzw. die spätere Nachrüstung von Winkern.
1931 kam es beim Wanderer W11 zu einer optischen Überarbeitung, die dem Wagen beinahe ein neues Gesicht gab:

Wanderer W11 10/50 PS; Originalffoto aus Sammlung Michael Schlenger
Was hat sich hier getan? Im Wesentlichen zwei Dinge:
- Die Kühlereinfassung wurde oben schlichter – d.h. “geradliniger” – gestaltet und das altvertraute Wanderer-Emblem wich einem neuen Logo.
- Die bis dato markant profilierten Vorderschutzbleche wichen glattflächigen Kotflügeln, die wie aus einem Guss wirken.
Beibehalten wurden die Wanderer-Kühlerfigur, die Doppelstoßstangen und die Scheinwerferstange.
Erstaunlich, welchen Effekt diese überschaubaren Veränderungen bewirkten. Denn der Wanderer W11 auf obigem Foto, das um 1970 bei einer Veteranenveranstaltung in Ostdeutschland entstand, könnte glatt für einen Cadillac durchgehen.
Wer das für übertrieben hält, studiere die folgende Aufnahme, die bei derselben Gelegenheit entstand (Zufälle gibt es…):

Cadillac von 1930; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Abgesehen vom unteren Kühlerabschluss wirkt dieser Wagen dem Wanderer wie aus dem Gesicht geschnitten.
Tatsächlich verhält es sich umgekehrt, denn diese zweite Aufnahme zeigt einen Cadillac von 1930. An dessen Äußerem hatte man bei Wanderer offenbar Maß genommen – ein Hinweis auf das Selbstbewusstsein, das man entwickelt hatte, aber auch auf die Vorbildwirkung von US-Automobilen noch in den frühen 1930er Jahren.
Nebenbei sind diese beiden Aufnahmen Zeugen der schon sehr früh lebendigen Vorkriegsautoszene im sich damals ausdrücklich “demokratisch” nennenden Teil Deutschlands. Merke: Was besonders betont werden muss, ist meist nicht gegeben.
Was in Ostdeutschland unter den Bedingungen des Sozialismus an Vorkriegsautovielfalt erhalten worden ist, verdient Bewunderung und Dank.
Es mag damit zu tun haben, dass “die Partei”, deren Nachfolgeorganisation heute beschämenderweise im Bundestag sitzt, den “Genossen” nur Fahrzeuge primitiver Bauart zubilligte (sofern sie verfügbar waren).
Einen Sechs- oder gar Achtzylinderwagen aus der Vorkriegszeit zu besitzen, muss da auf unerschrockene Charaktere magische Anziehungskraft gehabt haben.
Solchen Luxus im “Arbeiter- und Bauernstaat”, der unerlaubt in den kapitalistischen Westen ausreisende Insassen hinterrücks erschießen ließ, am Leben zu halten, mag bei manchem ein Akt der inneren Emigration gewesen sein.
Heute können wir uns so über eine Vielzahl herrlicher Vorkriegswagen freuen, die im Westen weitgehend verschwunden sind. Sicher wird der wunderbare Wanderer W11, den ich hier in der Ausführung als Cabriolet von “Gläser” zeigen durfte, noch existieren.
Übrigens werde ich dem prächtigen Cadillac von 1930 gelegentlich ebenfalls noch meine Aufwartung machen…
© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.