Wie so oft ist der Titel meines heutigen Blog-Eintrags mit einem Augenzwinkern zu verstehen – der “Ernstfall”, um den es geht, war ein vergleichsweise harmloser.
Und wie so oft gehe ich dabei spielerisch mit vorhandenem bzw. neu eingetroffenem Bildmaterial um – in einem Blog lässt sich das leichter bewerkstelligen als in statischen und ernsthafteren Formaten wie Buchpublikationen oder Magazinbeiträgen.
Insofern verstehe ich mein Vorgehen nicht als Konkurrenz zu seriöser Automobilliteratur, aber durchaus als Ermutigung, Buchprojekte voranzutreiben und auch einmal fertigzustellen, obwohl es immer neue Erkenntnisse gibt.
Die Marke, um die es geht, wartet ebenfalls noch auf ein umfassendes und attraktiv bebildertes Standardwerk – es handelt sich um die Siemens-Tochter Protos aus Berlin.
Ein Blick in die Schlagwortwolke meines Blogs (rechts unten auf der Startseite) verrät, wie bedeutend die Firma einst war – zumindest bis Mitte der 1920er Jahre. Je zahlreicher die Blogeinträge zu einer Marke sind, desto größer ist deren Name wiedergegeben.
Tatsächlich gehörten Protos-Automobile vor dem 1. Weltkrieg zu den renommiertesten aus deutscher Produktion, auch international. Die folgende Reklame für das Spitzenmodell E2 37/65 PS sagt eigentlich alles über den Rang der Marke:

Protos-Wagen scheinen sich aber nicht nur in adligen Kreisen, sondern auch generell beim Militär großer Beliebtheit erfreut zu haben.
Das hohe Ansehen der Marke in militärischen Kreisen sollte auch nach dem 1. Weltkrieg anhalten. Ein Beispiel dafür habe ich bereits vor längerer Zeit besprochen. Dabei handelte es sich um einen Typ C1 10/45 PS – das letzte Protos-Modell, das gebaut wurde.
Vom Vorgängertyp C 10/30 PS (1918-24) unterschied sich der C1 10/45 PS durch einen beträchtlich stärkeren Motor. Ob die Leistungssteigerung um 50 % nur durch einen neuen Zylinderkopf mit nunmehr hängenden Ventilen erreicht wurde, ist nicht ganz klar.
Teile der Literatur geben für beide Typen einen identischen Hubraum an, andere Quellen (H. von Fersen: Autos in Deutschland 1920-39) einen unterschiedlichen Hubraum bei identischen Abmessungen und wiederum andere (Gränz/Kirchberg: Ahnen unserer Autos) einen geringeren (!) Hubraum des C1 10/45 PS bei größeren Abmessungen als beim C1 10/30 PS – offenbar ist auf keine dieser Angaben Verlass.
Das ist einer von den Fällen, wo nur der Zugriff auf Originalprospekte weiterhelfen würde, die bei einer herausragenden Marke wie Protos sicher noch in Sammlerhand existieren. Leider herrscht online diesbezüglich Fehlanzeige wie bei vielen deutschen Herstellern.
Lassen wir dieses traurige Kapitel sinnlosen Hortens ohne Nutzen für interessierte Kreise und bleiben wir bei den zahlreich vorhandenen Originalaufnahmen wie dieser:

Diesen Wagen hatte ich hier als Protos Typ C1 10/45 PS von 1925 angesprochen. Dabei hatte ich mich außer von den zehn (acht beim Typ C 10/30 PS) seitlichen Luftschlitzen vom Nebeneinander von abgeflachtem Kühler, Vorderradbremse und Rechtslenkung leiten lassen.
Zugelassen war das Auto seinerzeit bei der deutschen Reichswehr, worauf nicht nur die drei Soldaten in dem Wagen hindeuten, sondern auch das “W” auf dem Nummernschild, das nur zur Kennung “RW” (für Reichswehr) gehört haben kann.
Die Doppelstoßstange nach US-Vorbild war nachträglich angebracht worden, so etwas gab es werksseitig nicht.
Eine weitere Aufnahme eines ganz ähnlichen Wagens verdanke ich Matthias Schmidt aus Dresden, der wie andere regelmäßige Bildlieferanten die Allgemeinheit kostenlos an seinen Schätzen teilhaben lässt:

Dieser Protos stimmt fast vollständig mit dem zuvor gezeigten Reichswehr-Wagen überein – nur die Vorderradbremsen fehlen ihm noch. Offenbar fielen die Einführung des abgeflachten Kühlers und der Vierradbremse zeitlich auseinander.
Auf der Rückseite des Abzugs ist vermerkt, dass dieses Auto ein Fahrschulfahrzeug war, das bei der Kriegsmarine eingesetzt wurde. Möglicherweise wurde damit der “Ernstfall” geprobt, von dem eingangs die Rede war.
Denn solche Autos dienten dem Transport hoher Offiziere und prominenter Besucher von Militäreinrichtungen oder Manövern.
Bei solchen Gelegenheiten wollte man sich keine Fehler leisten, sodass wohl nur ausgesuchte Fahrer mit perfekter Beherrschung des Wagens und angemessenen Manieren eine Chance hatten, Vorgesetzte oder Besucher umherzukutschieren.
Den Test auf den Ernstfall bestanden hatten ganz offenbar die beiden Fahrer, die auf folgender Aufnahme zwei Protos-Wagen des Typs C1 10/45 PS chauffierten:

Auf diesem Foto aus der Sammlung von Klaas Dierks ist einige Prominenz versammelt.
Auf der Rückbank des linken Protos sitzt unverkennbar Paul von Hindenburg – Generalfeldmarschall des 1.Weltkriegs und ab 1925 Reichspräsident. Im Fond des rechten Protos sieht man Admiral Hans Zenker, dem von 1924 bis 1928 die Führung der deutschen Kriegsmarine oblag.
Für diesen protokollarischen “Ernstfall” hatten die zuständigen Organisatoren nicht nur absolut zuverlässige Autos aus dem lokalen Wagenpark ausgesucht – zwei Protos des Typs C1 10/45 PS – sondern wohl auch handverlesene Fahrer bestimmt.
Wir können davon ausgehen, dass die Chauffeure im einfachen Mannschaftsrang ihre “Feuertaufe” bestanden so wie die braven Protos-Wagen ebenfalls, die man wohl nicht zufällig so oft im Dienst des Militärs im Krieg wie im Frieden sah…
© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.