Eine hübsche Überraschung: Röhr 8 Typ R 9/50 PS

Heute setze ich auf die Vergesslichkeit meiner Leser – denn das Auto, das ich vorstelle, ist ein so seltener Gast in meinem Blog, das wohl kaum einer sich daran erinnern wird.

Doch auch diejenigen, die mich schon länger auf meiner Zeitreise durch die automobile Welt der Vorkriegszeit in deutschen Landen begleiten und ein gutes Gedächtnis haben, werden am Ende vielleicht sagen – “Ein alter Bekannter, doch eine hübsche Überraschung!”

Am Anfang steht ein Ablenkungsmanöver, heute nennt man so etwas “Framing” – das zum Ziel hat, die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung zu lenken:

Ausschnitt aus einer Originalreklame um 1929 (Zeichnung von Bernd Reuters); Sammlung Michael Schlenger

“Der Wagen mit dem offenen Himmel” – das ist in der deutschen Werbung der Vorkriegszeit, die oft ziemlich hölzern daherkam, ein geschickt gewählter Slogan.

Bis weit in die 1920er Jahre waren Wagen mit offenem Verdeck in Europa Standard, von der Luxusklasse abgesehen, wo die höheren Kosten eines geschlossenen Aufbaus weniger ins Gewicht fielen.

Nachdem sich von den USA ausgehend die Vorzüge eines Limousinenaufbaus allgemein durchgesetzt hatten, kam es im deutschsprachigen Raum zu einem ausgeprägten Trend “zurück zur Natur” – der bis in die 1930er Jahre anhalten sollte.

Sicherheit und Komfort einer Limousine kombiniert mit dem Freilufterlebnis eines offenen Verdecks – das ließ sich trefflich mit einer Cabrio-Limousine vereinen! Anstatt aber einfach diese profane Bezeichnung zu verwenden, weckt die obige Reklame die Sehnsucht nach dem “offenen Himmel”.

Was eine Selbstverständlichkeit für frühe Automobilisten war – der Blick auf das Himmelsblau und dahinziehende Wolken – das wurde nun auf einmal durch den Dachausschnitt einer Cabriolimousine eingerahmt wie ein Juwel.

“Der Wagen mit dem offenen Himmel” lenkt von technischen Details ab, was dann angebracht ist, wenn man auf diesem Sektor nicht zu brillieren vermag. Der Kopf ist auf das sinnliche Fahrerlebnis eingestellt, denkt nicht an Verbrauch, Laufkultur und Federkomfort. “Sind Sie auch für mehr Gerechtigkeit?– Genau so funktionieren Umfragen.

Szenenwechsel: Ist das nicht ein ganz ähnliches Automobil wie das auf der Reklame – also eine Cabrio-Limousine, hier bloß mit geschlossenem Verdeck?

Röhr 8 Typ R 9/50 PS; Originalfoto aus Sammlung Marcus Bengsch

Unvermittelt vergleicht das Auge die Dachlinie mit den starren Fensterrahmen, an der Hintertür schön abgerundet zur geschwungenen Sturmstange am Verdeck überleitend. Auch die breite Zierleiste entlang der Türen stimmt präzise mit der Reklame überein.

Konnten Sie mir soweit mit dem Auge folgen? Ich fürchte: ja. Klassische Manipulation, die ausnutzt, dass man zuvor den Blick auf einen bestimmten Aspekt gelenkt hat.

Hand auf’s Herz: Wer erinnert sich, wie die Luftschlitze in der Motorhaube auf der Reklame ausgeführt waren? Oder wie die Kühlerpartie gestaltet war?

Ganz anders, dabei sind das die Details, auf die man bei Vorkriegsautos zuerst schaut. Aber “der offene Himmel” – so ein schöner Gedanke – hat uns von den Fakten abgelenkt.

Zurück zu der Reklame – jetzt aber in voller Größe und ganz nüchtern betrachtet:

Brennabor-Reklame von ca. 1929 (Zeichnung: Bernd Reuters); Original aus Sammlung Michael Schlenger

“Der Wagen nicht nur für die schöne Frau, sondern auch für den Herrn von Format”. Verflixt, da ist es schon wieder – null Information über den Typ, aber direkt das Ego ansprechend: “Die meinen mich”!

Doch immerhin steht hier geschrieben “4- und 6-Cylinder-Modelle” und “Brennabor”. Das genügt, um zu erkennen, dass der Wagen in dieser Werbung außer der Dachpartie nichts mit dem Auto zu tun hat, das ich zwischenzeitlich gezeigt hatte:

Röhr 8 Typ R 9/50 PS; Originalfoto aus Sammlung Marcus Bengsch

Denn bei dieser Cabrio-Limousine, deren Foto wir Leser Marcus Bengsch verdanken, verlaufen die Haubenschlitze vertikal, nicht horizontal, der Kühler ist oben ganz glatt gestaltet und weist keine Verdickung in der Mitte auf, darauf thront eine eigenwillige Kühlerfigur – alles anders als bei Brennabor.

Dass beide Türen vorne angeschlagen sind – also beide Türschlösser und Griffe sich am hinteren Ende finden – ist ein weiterer Unterschied, der aber bei Vorkriegswagen für sich nicht viel besagen will. Man findet beide Varianten oft genug beim selben Typ.

Außerdem fällt auf, dass der Passagierraum recht weit vorne endet, sodass die rückwärtigen Passagiere nicht über, sondern vor der Hinterachse sitzen.

So kam Ende der 1920er Jahr nur ein Auto daher – der Röhr 8 mit tiefliegendem Chassis und hervorragendem Fahrwerk mit vorn und hinten einzeln aufgehängten Rädern. Dieses zukunftsweisende Fahrzeug war Ergebnis der Zusammenarbeit von Hans Gustav Röhr und seinem Wegbegleiter Joseph Dauben.

Im Unterschied zu manchen Kopfgeburten deutscher Ingenieure der 1920er Jahre wie dem “Kommissbrot” von Hanomag oder dem Rumpler-“Tropfenwagen” hatte der Röhr 8 echtes Potential – wären da nicht der unnötige und wenig erbauliche Achtzylindermotor sowie chronische Kapitalknappheit gewesen.

So bedauerlich es ist, dass den Automobilen von Röhr aus dem hessischen Städtchen Ober-Ramstadt letztlich der Erfolg versagt blieb, so erfreulich ist es, dass sich einige Enthusiasten dieser Nischenmarke angenommen haben.

Das sind nicht nur Sammler wie Marcus Bengsch, dem ich beinahe alle Röhr-Fotos in meinem Blog verdanke, sondern auch Historiker wie Werner Schollenberger. Letzterer hat ein grandioses Porträt der kurzlebigen Marke und des langen Wirkens der beiden Männer dahinter erarbeitet.

Wer vielleicht schon jetzt Ausschau nach einem Weihnachtsgeschenk für einen Liebhaber deutscher Vorkriegswagen sucht, dem sei dieses Standardwerk empfohlen:

Röhr – Die Sicherheit selbst: Die Automobilkonstruktionen von Hans Gustav Röhr und Joseph Dauben, von Werner Schollenberger, 2019 (Bezug über den Autor)

Was Werner Schollenberger darin auf sage und schreibe 487 Seiten an Fakten, Dokumenten und Fotos zusammengetragen hat, macht nicht nur endlos Freude, sondern auch ein wenig sprachlos. Denn es wurden keine 4.000 Röhr-Wagen gebaut.

Wo aber bleibt die hübsche Überraschung, die im Titel versprochen wurde?

Nun, diese besteht in einem Foto, das den Röhr 8 Typ R 9/50 PS in fast identischer Ausführung als Cabrio-Limousine aus einer Perspektive zeigt wie man sie sich schöner kaum wünschen kann – und das nicht nur, weil man hier den Markenschriftzug lesen und eine geflügelte 8 – erkennen kann:

Röhr 8 Typ R 9/50 PS Cabrio-Limousine; Originalfoto aus Sammlung Marcus Bengsch

Für diejenigen, die vor mehr als drei Jahren diesen Blog-Eintrag konsumiert haben, mag der Wagen ein alter Bekannter sein, doch zugleich eine hübsche Überraschung, hoffe ich…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ein Gedanke zu „Eine hübsche Überraschung: Röhr 8 Typ R 9/50 PS

  1. Dieser Zufallsfund paßt doch genau hierher …

    http://www.roehrauto.de/Bernd-Reuters-Leben-und-Werk.php

    … wobei so, wie mittels der Graphik von Bernd Reuters hier “der Wagen mit dem offenen Himmel” wohl in Gestalt eines Brennabor Juwel beworben wird, diente Reklame schon damals zur Aufmerksamkeitserzeugung und Wunscherweckung.
    “Urteilen Sie selbst, indem Sie sich ihn unverbindlich vorführen lassen” – damit wurde auf den Händler verwiesen, der dann eben alle Fragen zur Urteilsfindung beantwortete.
    Heute schaut man ins Internet und ist bereits zu 80% informiert, wenn man zum Händler geht, vor 40 Jahren las man Hefte mit Autotests und hatte vielleicht auch bereits den Prospekt zur Hand, so fand man schon Antworten auf etwa die Hälfte aller Fragen. Da hatte man den Ford Capri, den Opel Manta CC und den VW Scirocco verglichen, und vielleicht auch den Renault R15 … aber hatte man auch an den Honda Prelude und den Mitsubishi Celeste gedacht ? Oder hatte der Honda-Händler eben nur Motorräder, aber keine Autos, und der nächste Mitsubishi-Händler war 40 km entfernt ? Autokauf vor 90 Jahren, wie sah da die regionale Auswahl an Händlern und Marken aus, wenn man nicht in Berlin, Hamburg oder Wien wohnte ? Aschaffenburg war nicht zu weit von Adler, Opel und Röhr entfernt – aber gab es 1930 dort auch einen Brennabor-Händler ?

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