Heute befasse ich mich mit einem Fall “vornehmer Blässe” in zweierlei Hinsicht.
Vordergründig geht es dabei natürlich um ein Automobil, daneben aber auch um die komplizierte Frage, ob Blässe zu Blasiertheit wird, wenn sie zu sehr zur Schau getragen wird – so wie übertriebene Bescheidenheit ein Ausweis besonderer Eitelkeit sein kann.
Den Anlass dazu liefert die Aufnahme eines “Berliet” aus den späten 1920er Jahren, die in einer französischen Zeitschrift abgedruckt war – leider ist mir nicht bekannt, in welcher.
Die Personenwagen des mehr für seine Nutzfahrzeuge bekannten Herstellers aus Lyon zeichneten sich durch eine sachliche Gestaltung aus, welche sich eng an US-Großserienfabrikaten orientierte. Ein Berliet ließ selten besondere Eleganz oder auch Exzentrizität erkennen, wie man sie bei französischen Marken erwarten würde.
So pflegten Berliet-Automobile übertragen gesprochen eine vornehme Blässe, die Kunden ansprach, welche bei der Wahl ihres Fahrzeugs nicht auf Außenwirkung abzielten, aber an den soliden inneren Werten interessiert waren, für die man Berliet schätzte.
Das traf auch auf die 1927 eingeführten Sechszylindermodelle des Herstellers zu. Eines davon mit 11 französischen Steuer-PS (daher die Bezeichnung 11 CV) zeigt diese hübsche Abbildung:

Da Hersteller und Typbezeichnung mitüberliefert sind, war die Identifikation keine Herausforderung – ohne die originale Bildunterschrift hätte das anders ausgesehen.
Nur ein Detail hätte einen vielleicht auf die Idee bringen können, dass man es mit einem Berliet vom Ende der 1920er Jahre zu tun hat – der scheinbare “Knick” in der Schwellerpartie. Tatsächlich ist dieser Effekt einer starken Ausbuchtung des Windlaufs geschuldet, welcher von der schmalen Motorhaube zum breiten Passagierabteil überleitet.
Dasselbe Detail – wie auch alle Feinheiten der Kühlerpartie – finden sich auf zwei weiteren Fotos eines Berliet “Six”, die ich vor einiger Zeit hier vorgestellt habe. Dort finden sich auch nähere Ausführungen zur Geschichte der PKW-Produktion bei Berliet.
So birgt dieses Exemplar keine großen Geheimnisse, außer vielleicht der Frage, ob man es mit einer Cabriolimousine oder einem “Faux Cabriolet” zu tun hat – also einer Limousine, bei der die seitlichen Sturmstangen und das vermeintliche Verdeck nur Attrappen sind:

Das Urteil in dieser Hinsicht überlasse ich gern Ihnen, liebe Leser – ich möchte mich da nicht festlegen, bin aber wie immer für fundierte Hinweise dankbar.
Unterdessen möchte ich der Frage nachgehen, weshalb die drei Damen auf dieser kolorierten Fassung der Aufnahme partout ihre vornehme Blässe wahren konnten? Normalerweise sind die einschlägigen Programme zur Einfärbung von Schwarzweiß-Fotos gerade beim Erkennen von Gesichtern recht gut und wählen einen fleischfarbenen Ton.
Hier ist das nicht der Fall. Sollte die Software wirklich so gut historisch informiert sein, dass sie “weiß”, dass die Französinnen in gehobeneren Kreisen einst großen Wert auf einen blassen Teint legten und im Zweifelsfall mit reichlich Makeup nachhalfen?
Denn so war für die Herren der Schöpfung auf Anhieb zu erkennen, dass sie es mit einer Dame von Welt zu tun hatten, welche keine Arbeit unter freiem Himmel verrichten musste, wie der Großteil der Geschlechtsgenossinnen in der Vorkriegszeit.
Das Meiden der Sonne beugt zudem der Alterung der Haut vor – das war schon in der Antike gesichertes Wissen beim schönen Geschlecht – so ließ sich ebendieses Attribut – bei manchen “Damen” marktwertbestimmend – länger wahren.
Tatsächlich ändert sich der Befund vornehmer Blässe auch nicht, wenn wir uns dem Berliet und den mitabgelichteten Fotomodellen nähern:

Immerhin ein Hauch von Rosa auf dem Antlitz scheint sich hier aber doch zu zeigen und so vermeiden diese Grazien am Ende einen allzu blassen Eindruck. Auch der Berliet wirkt in der (hypothetischen) Kolorierung ebenfalls viel freundlicher.
So scheint die Gratwanderung zwischen vornehmer Blässe und Blasiertheit gerade noch gelungen zu sein. Denn als “blasiert” bezeichnet man traditionell jemanden, der sich unzugänglich und dem Alltag enthoben gibt.
Das trifft auf unsere Damen ebenso wenig zu wie auf den Berliet, dessen Gestalter zwar bemüht waren, nicht zu sehr aufzufallen, aber auch nicht mit allzu großer Schlichtheit auftrumpfen zu wollen – nach dem Motto: “Sieht auch jeder, wie anspruchslos ich bin?”
Diese Attitüde auf die Spitze getriebener Beschränkung gab es nämlich auch bei der Automobilgestaltung, aber das ist ein Thema, das ich mir noch ein wenig aufspare – die Freunde von Adler-Wagen derselben Epoche ahnen vermutlich, auf welches Fahrzeug ich damit anspiele…
© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.