Schon vor 100 Jahren ein Klassiker: Opel 8/25 PS

Der Begriff des Klassischen hat je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen.

In der Baukunst gelten Werke als klassisch, deren Erscheinungsbild durch harmonische Proportionen und klare Linienführung bestimmt wird und bei denen Zierelemente lediglich das Erscheinungsbild unterstützen, dieses aber nicht (wie in Gotik, Barock oder Rokoko etwa) dominieren.

Ähnlich verhält es sich mit der klassischen Musik, in der ebenfalls strenge Strukturen die Wirkung bestimmen und vordergründige Effekte (wie in der Romantik etwa) gemieden werden – was Gefälligkeit nicht ausschließt, sie aber nicht zum Selbstzweck macht.

Dann gibt es noch den Klassiker im allgemeinen Sinn, womit man etwas bezeichnet, was als typisch für ein bestimmtes Phänomen angesehen wird, ohne dass dies gleich eine Auszeichnung beinhalten muss.

Ein Klassiker ist beispielsweise, dass Menschen mit nach außen hin besonders betonten moralischen Maßstäben sich oft als besonders bösartig entpuppen.

Den Klassikerstatus erwirbt man jedenfalls nicht zwangsläufig erst, wenn ein großer zeitlicher Abstand die Dinge klarer hervortreten lässt. Das gilt auch für manches historische Automobil. Was nach 100 Jahren klassisch erscheint, konnte es auch damals schon sein:

Opel 8/25 PS (8 M 21) Tourenwagen; Originalfoto aus Familienbesitz (Lutz Heimhalt)

Genau so wie dieser Opel 8/25 PS sah Anfang der 1920er Jahre ein typischer – also klassischer – Tourenwagen im deutschsprachigen Raum aus: mit Spitzkühler noch aus der Vorkriegszeit und auf’s Notwendigste reduzierter Karosserie

Ein klassisches Element, das sich auch bei anderen Herstellern in Deutschland und Österreich damals fand, war die mittig unterteilte, geneigte und „gepfeilte“ Frontscheibe. Sie nimmt die Form des Spitzkühlers auf und erzeugt einen Hauch Sportlichkeit.

Dieser Akzent ist ein Beispiel für die „dienende“, nicht dominierende Form des Gefälligen bei klassischen Tourern. Dagegen bestehen manche Karosserientwürfe der 1930er Jahre quasi nur aus dekorativen Elementen, was nicht heißen soll, dass sie nicht von großartiger Wirkung sein konnten.

Das Klassische dagegen strahlt stets eine gewisse Ernsthaftigkeit aus, die dem Aufkommen hemmungsloser Begeisterung entgegenwirkt, aber dennoch eine unterbewusst wirkende Anziehungskraft besitzt. Hier ist keine Linie überflüssig oder gar exaltiert, alles wirkt sorgfältig abgewogen, beinahe feierlich:

Opel 8/25 PS (8 M 21) Tourenwagen; Originalfoto via Wolf-Dieter Ternedde (Seesen)

Auf dieser Aufnahme bietet sich der Opel 8/25 PS in der Ausführung von 1921/22 sicher nicht als hinreißende Schönheit dar – aber die Klarheit der Formen ist gerade im Vergleich zu der mir unzugänglichen Autogestaltung 100 Jahre später beeindruckend.

Übrigens stellt man erst bei der Live-Begegnung mit einem solchen Gefährt fest, wieviel Spannung und Schwung selbst ein derartig sachlicher Aufbau noch aufweist – das ist nicht nur der Manufakturproduktion geschuldet, sondern war auch beabsichtigt.

Das wird ansatzweise auf der dritten Aufnahme eines Opel 8/25 PS deutlich, die ich heute erstmals zeigen kann. Ich verdanke sie Leser Klaas Dierks und trotz einiger technischer Mängel schätze ich dieses Dokument ebenfalls sehr:

Opel 8/25 PS (8 M 21) Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Hier erkennt man nämlich, wie der den Passagierraum umfassende Karosseriekörper in mehreren Dimensionen gewölbt ist – nach hinten leicht ansteigend, zur Mitte breiter und am Ende wieder schmaler werdend und in der Flanke nach innen gewölbt.

Dieser Art Aufbau wurde wegen seiner Ähnlichkeit mit einer sich öffnenden Blüte seinerzeit als Tulpenkarosserie bezeichnet. Leider sieht man nur auf wenigen historischen Aufnahmen den vollen Effekt dieser handwerklich anspruchsvollen Gestaltung.

Vor einigen Jahren hatte ich anlässlich der Classic Days auf Schloss Dyck am Niederrhein die Gelegenheit, eine solche klassische Tulpenkarosserie am Beispiel eines fabelhaft restaurierten Benz des 100 PS starken Sporttyps „Prinz Heinrich“ von 1910 aus idealer Perspektive festzuhalten:

Benz „Prinz Heinrich“ von 1910; Bildrechte: Michael Schlenger

Man bekommt hier eine Vorstellung davon, welche Spannung und Dynamik ein solcher an sich fast völlig schmuckloser Tourenwagenaufbau entfalten kann.

Eine klare, schnörkellose Form muss also nicht Schuhkartonformat bedeuten – leider etwas, was vom immer noch zwanghaft dem Bauhaus verhafteten architektonischen Mainstream seit fast 100 Jahren ignoriert wird.

Das gegenteilige Extrem sind in automobiler Hinsicht die für meine Begriffe jeder Logik entbehrenden Schwünge, Ein- und Ausbuchtungen sowie platt applizierten Elemente im zeitgenössischen Karosseriebau (Audi einmal ausgenommen).

Wie klassisch schön, dem Auge Halt und Führung vermittelnd ist dagegen der Karosseriekörper des Opel 8/25 PS in dieser außergewöhnlichen Draufsicht:

Dieses meisterlich gezeichnete und von Meisterhand gefertigte Automobil war zurecht schon vor genau 100 Jahren ein Klassiker – in heutigen Zeiten großer gestalterischer Verwirrung tritt das vielleicht deutlicher zutage denn je.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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