Vorkriegs-Kursus mit Carola: Wanderer W10-II

Die alten Hasen (m/w/d) in Sachen Vorkriegsautos sollten meinen heutigen Blog-Eintrag überblättern – sie werden hier diesmal vermutlich nichts Neues lernen. Zumindest als Einschlafhilfe mag ihnen bei Bedarf auch dieser kleine Essay dienen…

Beim Sichten meines noch etliche hundert Originalfotos umfassenden Bestands an unpublizierten Aufnahmen von Autos aus der Vorkriegszeit fiel mir eines in die Hände, das so unspektakulär ist, dass man sich schon etwas dazu einfallen lassen muss:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Technisch nicht gerade berauschend und gestalterisch einfallslos ist dieses Dokument, so lautet das nüchterne Votum des Kenners.

Was aber, wenn sich nicht nur Kenner hierher verirren?

Vielen Zuschriften entnehme ich, dass immer wieder Zeitgenossen in meinem Blog landen, die nur eine vage Vorstellung von Vorkriegsautos haben.

Meist sind sie auf der Suche nach der Lösung eines Bilderrätsels, das ihnen verstorbene Familienmitglieder in alten Fotoalben hinterlassen haben.

In solchen Fällen helfe ich gerne weiter. Wunderbar, wie sich die Leute freuen, wenn sie erfahren, was für ein Wagen Opa einst gefahren hat oder vor welchem Schlitten sich Oma hat ablichten lassen.

Einen Motivationsschub erhalte ich aber auch dann, wenn mit dem Bildern aus meinem eigenen Fundus eine kleine persönliche Information verknüpft ist.

“Carolas Wagen”, das ist auf der Rückseite des eingangs gezeigten Abzugs von alter Hand vermerkt.

Wir wissen sonst nichts über Carola, aber wir tun heute einfach einmal so, als stelle sie uns ihr Auto als Anschauungsmaterial für einen Einführungskurs in Sachen Vorkriegsautos zur Verfügung – vielleicht hätte ihr der Gedanke gefallen.

Dafür ist die Aufnahme ganz ausgezeichnet geeignet, gerade weil man erst einmal nicht allzuviel darauf erkennt. Also beginnen wir ganz vorne und fragen uns: Woran erkennt man eigentlich, dass dies ein Vorkriegswagen sein muss?

Sicher, die allermeisten würden auch ohne Vorkenntnisse darauf kommen, aber was gibt uns eigentlich diese Gewissheit?

“Das sieht man doch”, lasse ich nicht gelten, also was ist es genau?

“Die freistehenden Kotflügel – so etwas gab es nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr”, könnte jetzt die Antwort sein. Nun, das stimmt zwar in vielen Fällen, doch nicht immer.

Beispielsweise baute Daimler-Benz das Vorkriegsmodell 170V bis 1953 weiter. Der Wagen sah bis zum Schluss noch ziemlich genau so aus, wie auf dieser Aufnahme:

Mercedes-Benz 170V; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese prächtige Aufnahme entstand Ende der 1930er Jahre vor der prächtigen Kulisse von Budapest – wo sich das Alte Europa bis in unserer Tage erfreulich lebendig und erfrischend widerspenstig gegenüber der Bürokraten-Kreation EU zeigt.

Hier sehen wir indessen ein Detail, das sich zwar auch noch beim Nachkriegsmodell des Mercedes 170V findet, nicht aber bei “Carolas Wagen”: Die Kotflügel besitzen seitliche “Schürzen”, sind also nach unten gezogen und erlauben keinen Blick mehr aufs Chassis.

Das mag unerheblich scheinen, ist es aber nicht. Denn im Serienbau taucht dieses Element erst in den frühen 1930er Jahren auf – erstmals beim Graham “Blue Streak” von 1933.

Das spricht stark dafür, dass “Carolas Wagen” früher zu datieren ist, also nicht bloß allgemein in die Vorkriegszeit, sondern sogar auf die Zeit vor 1933. Das ist natürlich etwas vage und wir wollen am Ende ja genau wissen, was für ein Auto Carola einst fuhr.

Also werfen wir einen zweiten Blick auf die Vorderpartie ihres Wagens:

Die robusten Speichenräder finden sich nach 1930 kaum noch, sodas wir uns hier offenbar in den 1920er Jahren bewegen. Dass Carolas Wagen nicht noch früher entstanden sein kann, das verrät ein weiteres Detail.

Hinter den Radspeichen erkennt man ein dunkles rundes Gebilde, das deutlich größer als die Radnabe mit den fünf Radschrauben ist – das ist eindeutig eine Bremstrommel.

Vorderradbremsen tauchen im Serienbau zuerst nach dem 1. Weltkrieg auf, zunächst bei besonders starken und fortschrittlichen Wagen, dann ausgehend von den USA auch in der Massenproduktion. Bei deutschen Fabrikaten sollte es bis 1924/25 dauern, bis sich diese Verbesserung gegenüber den bis dato üblichen Getriebe- und Kardanbremsen durchsetzte.

Woher wissen wir aber , dass wir es mit einem deutschen Fabrikat zu tun haben?

Nun, eine amerikanische Limousine hätte als Viertürer keinen solchen Aufbau besessen und bei französischen oder englischen Modellen findet sich die markante Aufteilung der Luftschlitze in der Motorhaube meines Wissens nirgends.

Von dieser Arbeitshypothese ausgehend sind Hersteller und Typ rasch eingegrenzt, denn so viele Fabrikate gab es ab Mitte der 1920er Jahre hierzulande nicht mehr, die für eine solche Mittelklasse-Limousine in Frage kamen – vielleicht ein Dutzend Hersteller.

Da ist es eine reine Fleißaufgabe, bei den gängigen deutschen Autoherstellern zu schauen, ob sich Vergleichbares findet – ich empfehle dafür selbstlos meine eigenen Galerien.

Unter der sächsischen Traditionsmarke “Wanderer” stößt man rasch auf dieses Fahrzeug:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

“Das ist doch Carolas Wagen!”, möchte man hier spontan ausrufen. Tatsächlich sieht der Wagen fast genau so aus – nur die Haubenschlitze sind hier nicht dunkel gehalten.

Dafür lässt sich anhand der Form des Kühleremblems das Fabrikat genau benennen. Denn dieses Emblem wurde von Wanderer verwendet.

Auf folgender Aufnahme aus dem Fundus von Leser Matthias Schmidt (Dresden) erkennt man es besser – wiederum an einem Wanderer desselben Typs wie Carolas Wagen, hier bloß als offener Tourer:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Man sieht außerdem, dass die vermeintlichen Parklichter auf den Vorderkotflügeln etwas anderes sind – nämlich Fahrtrichtungsanzeiger.

Diese blinkten zwar nicht, leuchteten aber erkennbar auf, wenn man abbiegen wollte – vielleicht die einzige Innovation der sonst sehr konservativen Marke Wanderer.

Da das Kühleremblem 1930 verändert wurde, kommt für Carolas Wagen letztlich nur ein Wanderer von 1925-29 in Betracht.

Ein kurzer Bildabgleich führt uns zum Typ 8/40 PS, der intern als W10-II geführt wurde. Dieses solide Vierzylindermodell wurde 1927/28 gebaut und erfreute sich einiger Beliebtheit.

Damit hätten wir das Auto erstaunlich genau datiert und präzise identifiziert. Was wir nicht mehr herausbekommen werden ist, wer Carola war und ob sie vielleicht auch auf diesem zweiten schönen Foto zu sehen ist – der Wagentyp scheint jedenfalls identisch zu sein:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Moment einmal, das Heck ist hier doch anders gestaltet und die Lackierung erscheint dunkler – so könnten Sie jetzt einwenden.

So ist es, und wenn man anfängt, auf solche Dinge zu achten und hektisch Bilder zu vergleichen, dann ist man auf dem besten Weg, sich in der Welt der Vorkriegsautos zu verlieren und damit eine wunderbare Ablenkung von den Miseren der Gegenwart zu finden.

Dafür danken wir Carola, deren Wagen sicher längst nicht mehr existiert, der für uns aber in einem kleinen Fotokursus in Sachen Vorkriegsautos fortlebt.

So, und jetzt können wir uns wieder spannenderen Dingen zuwenden – aber dafür müssen wir den nächsten Blog-Eintrag abwarten und auf neue Inspiration hoffen, die Arbeitswoche war ein wenig anstrengend…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 Gedanken zu „Vorkriegs-Kursus mit Carola: Wanderer W10-II

  1. Danke für den Bericht – wahrscheinlich wurde der Wanderer einst eher konservativ bewegt. Stoßdämpfer waren ja noch die Ausnahme.

  2. Auf einer “August-Horch-Ausfahrt” rund um Zwickau hatte ich das Vergnügen, einige Zeit einem flott bewegten Wanderer W10 zu folgen. Die Karosse erlaubt einen großartigen Ausblick auf die hintere Starrachse und Blattfedern (sieh man sonst so nie). Die Achse ist total unterdämpft und hüpft rum wie ein Springbock ! ich bewunderte den Fahrer, welcher die Karosse auf der Strasse hielt, auch wen hinten mal wieder alles in der Luft war – ich war erstaunt, wie flott und sportlich so ein Wanderer fahren läßt, mit meinem DKW konnte ich gerade noch folgen …

Kommentar verfassen