Auch wenn es um Vorkriegsautos geht, kommt man an Altmeister Goethe nicht vorbei. Was Shakespeare für das Englische ist – ein Lieferant von Lebensweisheit in allen Lagen – das war und ist der Weimarer Dichterfürst für uns Deutsche.
“Das einfach Schöne soll der Kenner schätzen…”, so sagt die adlige, doch uneheliche Eugenie zur Hofmeisterin in Goethes Werk “Die natürliche Tochter” von anno 1803.
Natürlich kannte ich als Inhaber eines hessischen Schmalspurabiturs dieses Werk bis heute abend gar nicht. Die Klassiker kamen im Deutschunterricht viel zu kurz, wurden bestenfalls auszugsweise gelesen, stattdessen gab es “progressive” Autoren, deren Namen und Werke ich vergessen habe.
Zum Glück lässt sich später alles nachholen. Denn das Großartige an unserer Zeit ist ja, dass jedermann das Wissen und die Weisheit, die Mythen und die Moden aller Epochen offenstehen – es ist alles aus zweieinhalb Jahrtausenden da, kostenlos verfügbar.
Und so genießen wir heute das von Goethe empfohlene “einfach Schöne” anhand eines Produkts, von dem er nichts ahnen konnte – welches ihm aber vielleicht gefallen hätte, weil er damit entschieden leichter in sein geliebtes Italien gelangt wäre.
Dazu genügten vor rund 90 Jahren bereits 20 Pferdestärken aus einem Zweizylinder-Zweitaktmotor mit knapp 700ccm Hubraum – das war die Spezifikation des Wagens, den ich Ihnen heute unter dem Motto “Das einfach Schöne” nahebringen will:

Jeder Freund von Vorkriegsautos wird sofort ausrufen: “Das ist ein DKW!” – niemand sonst baute Anfang der 1930er Jahre so “einfach schöne” Kleinwagen.
Ich weiß nicht, wer für die Gestaltung der DKW-Zweitaktwagen verantwortlich war, jedenfalls wirken sie in allen bis zum 2. Weltkrieg gebauten Varianten einfach stimmig, geradezu vollkommen proportioniert.
Und das obwohl die Aufbauten mit einer Kombination aus Sperrholz und Kunstleder nicht sonderlich widerstandsfähig oder dauerhaft waren. Aus Blech waren an der Karosserie nur die Motorhaube, die Kotflügel und die Kühlermaske.
Trotz der Einfachheit der Konstruktion wirkt alles auf merkwürdige Weise richtig – man wüsste bei DKW-Wagen generell nicht, was man anders daran gestalten wollte (Ausnahme: die ungeschlachte “Schwebeklasse” ab 1934).
Nun wissen die DKW-Freunde natürlich, wieviele Veränderungen es äußerlich an diesen adretten Autos gab, das ist fast eine Wissenschaft für sich. Doch zum Glück gibt es zwei Werke, die einem bei der Einordnung helfen:
Zum Einstieg empfehle ich das “DKW-Fotoalbum 1928-1942” von Jörg Lindner, Verlag Kleine Vennekate, 2010. Zur Vertiefung ideal ist dann “DKW Automobile 1907-1945” von Holger Erdmann, Verlag Delius-Klasing, 2012.
Damit munitioniert lässt sich der DKW auf obigem Foto wie folgt ansprechen: Die Motorhaubengestaltung gab es zwar noch beim Typ F5 anno 1935, doch die gerade Unterseite der Frontscheibe verweist auf das frühere Modell F2.
Dieses wurde 1932 als Nachfolger des ersten DKW-Fronttrieblers F1 eingeführt, doch erst 1933 gab es die hier abgebildete Variante mit von Chromleisten eingefassten Luftschlitzen in der Kühlermaske:

Eindrucksvoll ist das Profil des in Fahrtrichtung linken Vorderreifens, während der rechte völlig abgefahren ist – vermutlich handelt es sich um ein Ersatzrad, auf das man mangels Alternativen zurückgriff.
Das Nummernschild mit dem Kürzel “IIA2” verweist auf eine Vorkriegszulassung im Raum Stuttgart. Darüber ist ein Nebelscheinwerfer zu sehen – dieser DKW war trotz aller Schönheit im Einfachen eindeutig kein Schönwettervehikel.
Leider wissen wir nicht, wozu der großgewachsene Herr den Wagen nutzte, der daneben abgelichtet ist. Der DKW F2 war 1,47 Meter hoch, sein Besitzer muss eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein.
Wir kennen sogar seinen Namen – “Johannes Diettrich” ist auf der Rückseite vermerkt.
Das für mich wirklich “einfach Schöne” ist dies: Johannes Diettrich war der Großvater der Dame, die mir dieses Foto im Original übereignet hat. Heute fand ich es wohlbehalten in meinem Postfach vor, nachdem es in Flensburg auf die Reise geschickt worden war.
Die Enkelin war der Ansicht, dass dieses Dokument bei mir eine angemessene Würdigung erfahren würde, und ich muss sagen, dass mich das sehr rührt.
Dass einander fremde Menschen so selbstverständlich freundlichen Umgang miteinander pflegen – das mag ebenfalls das “einfach Schöne” sein, was Meister Goethe einst meinte. Das gibt ein Vorbild für den Alltag ab, von dem wir auch heute lernen können.
So gewinnt am Ende das alte Foto eines Vorkriegsautos einen überzeitlichen Wert. Und die DKW-Experten sind hoffentlich einverstanden mit der Einordnung des Wagens…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.