Ende Oktober – wechselhaftes Wetter wie immer um diese Zeit. Gegen Mittag recht mild und trocken, da bietet sich nach getaner Schreibtischarbeit ein Gang in den Garten an, dachte ich. Der mächtige alte Maronenbaum wirft nämlich beängstigende Mengen Laub ab.
Ein kurzer Blick zum Himmel, dort zeigen sich die ersten Kraniche in V-Formation auf dem Weg in südliche Gefilde, damit ist immer eine Empfindung von Abschied für mich verbunden.
Zwei Stunden später fällt die geplante Schicht im Garten ins Wasser und bis abends bleibt es regnerisch. Gut bedacht zeigt sich da der ehemals gläserne kleine Wintergarten am östlichen Ende des Hauses. Noch vor Einsetzen der Schlechtwetterperiode erhielt er ein Dach in Ziegelrot passend zu den alten Tonziegeln des gut 120 Jahre alten Fachwerkbaus.
Eine hübsch anzuschauende Regentonne ist jetzt an das Fallrohr angeschlossen. Doch hatte ich nicht bedacht, welche Mengen Wasser trotz der kleinen Fläche herunterkommen. Jetzt ist das Teil kurz vor dem Überlaufen, und ich weiß kaum wohin mit dem Inhalt. Denn der Garten ist seit Wochen tief durchfeuchtet.
So ist das in der hessischen Wetterau – wir haben oft meist warme trockene Sommer, doch der Wasserhaushalt kommt in der kühlen Jahreshälfte stets wieder ins Lot.
Die Wetteraussichten um diese Zeit ließen es auch schon vor 120 Jahren angeraten erscheinen, sich auf teils ergiebige Regenfälle einzustellen. Da stand man dumm da, wenn man beim Kauf seines ersten Automobils am Zubehör gespart hatte wie hier:

Tatsächlich war ein Dach bei diesem leichten Zweisitzer aufpreispflichtig. Gebaut wurde er ab 1904 unter dem Namen “Piccolo” von der Firma Ruppe & Sohn im thüringischen Apolda.
Das vom Chassis her noch der Kutschentradition entstammende Gefährt besaß einen vorn montierten luftgekühlten 2-Zylinder (V-Anordnung), der aus 800ccm Hubraum 5-6 PS leistete.
Speziell für Landärzte war das ein ideales Einstiegsautomobil, sie verdienten auch gerade genug, um sich so eine teure Maschine leisten zu können. Für die breite Masse war auch nur der Gedanke an irgendein motorisiertes Gefährt völlig abwegig.
Das hatte man bei Ruppe & Sohn wohl nicht gut bedacht, als man den “Piccolo” in Reklamen vollmundig als Volksauto anpries. Dennoch scheint der Absatz bis Produktionsende 1907 recht ansehnlich gewesen zu sein, da man immer wieder auf Fotos davon stößt.
Die wohl umfangreichste Kollektion an zeitgenössischen Fotos, Werbung und Presseartikeln zum “Piccolo” hat Wolfgang Spitzbarth auf seiner hochinformativen Website zum deutschen Automobilkonstrukteur Karl Slevogt zusammengetragen.
Unter der Rubrik “Ruppe, MAF” findet man dort reichhaltiges Material und viele Erläuterungen zum Piccolo, weshalb ich interessierte Leser ausdrücklich darauf verweise.
Mir geht es bekanntlich ohnehin eher um eine spielerische, meist sehr subjektive Auseinandersetzung mit den Autos aus der Vorkriegszeit sowie den Menschen, in deren Leben sie eine Rolle spielten – daher das Format als Online-Tagebuch (Web-Log, kurz: Blog).
Wichtiger als Konstruktionsdetails und Fahreigenschaften ist mir oft das Erscheinungsbild oder auch die Aufnahmesituation. Dabei gilt es auch, ein einmal gewähltes Thema durchzuhalten – heute geht es um Variationen von “Alles gut bedacht”.
Im Unterschied zu dem Herrn auf dem ersten Foto hat es der Besitzer dieses “Piccolo” besser gemacht und tatsächlich auch die Eventualität von Regenwetter bedacht:

Wohl als Praktiker mit zwei- oder vierbeinigen Patienten im Umland, die bei jedem Wetter seine Hilfe brauchen können, hat er sich nicht nur für das Klappverdeck entschieden, sondern auch einen ledernen Beinschutz geordert.
Dieser hielt Nässe und Kälte ab, denn eine Heizung besaß damals noch kein Auto – das tauchte meines Wissens erst ab den frühen 1920er Jahren als Zubehör auf. Erwähnenswert ist auch der Spritzschutz am vorderen Ende der Kotflügel, selten zu sehen beim “Piccolo”.
So gesehen hat dieser “Piccolista” wirklich alles gut bedacht, was den Einsatz bei Wind und Wetter angeht. Dank recht großen Gasscheinwerfer waren sogar nächtliche Fahrten möglich. Schön nebenbei, dass hier das Töchterchen mit aufgenommen wurde.
Nur eines konnte dem Fahrer gegebenenfalls dazwischenfunken und das war ein Defekt am Motor, speziell an der damals allgemein noch anfälligen Zündanlage. Hatte der Hersteller ansonsten alles gut bedacht bei diesem Wagen?
Ich möchte hier Zweifel äußern. Ein luftgekühlter Motor mit frei im Fahrtwind stehenden einzelnen Zylindern sollte thermisch stabil sein, wenn er korrekt konstruiert ist, meint der Motorradfahrer in mir.
Warum aber setzte man beim “Piccolo” einen zusätzlichen Lüfter in einem runden Gehäuse vor das Aggregat?
Sollte diese über den Motor und einen Riemen angetriebene Vorrichtung ein thermisches Defizit ausgleichen? Und konnte sie das überhaupt wirksam oder störte sie möglicherweise sogar den kühlenden Luftstrom durch ihre Platzierung vor den Zylindern?
Bar jeder Fachkenntnis würde ich vermuten, dass eine zusätzliche Kühlung der nicht im Fahrtwind liegenden Zylinderhälften wichtiger gewesen wäre, sofern diese zu heiß werden drohten. Dann hätte sich aber eine andere Lösung mit Luftleitblechen angeboten.
Mir scheint, dass der Zusatzlüfter nicht gut bedacht war, vielleicht brachte er gar nichts oder war sogar eher abträglich. Dass man die Strömungseffekte irgendwie gemessen oder gar berechnet hat, möchte ich bezweifeln.
Im damaligen Automobilbau war längst noch nicht alles mit Bedacht wohlersonnen, sondern vieles basierte auf Bauchgefühl und Erfahrung. Im Fall von Ruppe & Sohn wurde vermutlich erst mit dem Antritt des brillianten Ingenieurs Karl Slevogt wirklich auf rationaler Grundlage konstruiert und nach Möglichkeit alles gut bedacht.
Die Apollo-Wagen waren das Ergebnis dieses neuen Kapitels bei Ruppe & Sohn.
Das ist aber eine andere, sehr umfangreiche Geschichte, die Sie am besten auf Wolfgang Spitzbarths Website studieren können, auch wenn ich hier ab und zu Apollo huldige…
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Spannende Einblicke wieder einmal, danke!
Vor einiger Zeit schon erwähnte ich den alten Freund, der mir von seinem Großvater mütterlicherseits erzählt hatte, der als Arzt, Dr. Wider, der erste Automobilist im Oberamtsbezirk Leonberg gewesen wäre mit einem Piccolo- Wagen!
Nein , er war der Zweite im Oberamt, allerdings der erste Leonberger – dafür aber mit gleich zwei Zulassungen , IIID- 202 u. IIID- 203 am Start:
Das Verzeichnis der Automobilbesitzer von 1909 verzeichnet: Dr Wider, Oberamts- Wundarzt mit der 2. u. 3. Zulassung.als BW. ( Berufs- Wagen).
Zu dem Vorkommen von Wagenheizungen: Ich stieß in einem umfangreichen Zubehörkatalog von 1911 auf:
Warmwasserheizung, in den Wagenboden einzulassen für die Passagiere im Fond !
Dieser war Teil eines Konvoluts an Papieren, die ein Freund in den tiefsten Achzigern in Berlin aus einem Container geklaubt hatte. Es umfasste u. A. Rechnungs- Schreiben über einen 35 PS BENZ- Wagen an : Sr.hochwohlgeb. Herrn Fabr.-Bes. FRITZ WERNER , Berlin.
Fritz Werner war seinerzeit einer der führenden Hersteller von Drehmaschinern aller Art, spezialisiert imbes. auf Dreh- Automaten zur Herstellung von
Patronenhülsen , die ja in diesen Jahren Konjunktur hatten! Bei an der Berufsschule in Ulm hab ich selbst an einer FRITZ WERNER drehen gelernt.
Ich kann mich auch noch an eine Korrespondenz bezüglich der Wagenbatterie mit den Varta- Accumulatoren- Werken erinnern, sowie an die Mitteilung über die Beschlagnahme des Wagens zum Krankentransport nach Kriegsbeginn….
Danke für die fachmännische Erläuterung! Dann habe ich ja einigermaßen richtig gelegen mit meiner Vermutung.
Ja, das “Erstlingwerk” des Konstrukteurs Hugo Ruppe hatte ein massives thermisches Problem. jeder normale V-Motor hat die Ansaugspinne im “V” und den Auspuffkrümmer aussen. Nur Hugo Ruppe konstruierte einen V-Motor, bei dem der Auspuffkrümmer unter dem (mit Schnüffelventilen ausgestatteten) Ansaugkrümmer im inneren des “V” lag – und da half nur noch kräftig Pusten….
Die Folge-Version hatte dann den Auspuff außen. der Ventilator wurde beibehalten.