Wer öfters auf diesem Blog vorbeischaut, hat sicher bemerkt, dass hier die vielfältige Markengeschichte der Vorkriegszeit besonders gewürdigt wird. Der Verfasser hegt dabei keine besondere Vorlieben – es wird schlicht anhand historischer Fotos aus Privatbesitz in die Automobilgeschichte eingetaucht.
Natürlich ist die Verfügbarkeit zeitgenössischer Aufnahmen ein Spiegelbild der einstigen Verbreitung – in einigen Fällen auch der Wertschätzung – bestimmter Marken und Typen.
Beispielsweise kristallisiert sich für die Zeit vor und nach dem 1. Weltkrieg eine Häufung von Abbildungen heraus, die Wagen der Berliner Firma N.A.G. zeigen. Von dieser Qualitätsmarke wurden hier bereits die Typen C4 und D4 sowie das 6-Zylindermodell von 1928 vorgestellt.
Nun soll es um das hubraumstärkste Modell gehen, das NAG je gebaut hat, den Typ K8 33/75 PS (Baujahr: 1912-14). Denn damit haben wir es wahrscheinlich auf diesem Originalfoto zu tun:
© NAG Typ K8 33/75 PS; Fotoquelle: Sammlung Michael Schlenger
Auf den ersten Blick wirkt das Fahrzeug wie einer der vielen Tourenwagen, die von Marken wie Adler, Daimler, Benz und Opel kurz vor dem 1. Weltkrieg gebaut wurden. Für das ungeschulte Auge sehen sich diese Autos sehr ähnlich, doch im Detail finden sich genügend Merkmale, die eine Identifizierung erlauben.
Dabei hängt viel von der Qualität der Aufnahme und dem Erhaltungszustand des Abzugs ab. An sich ermöglichten die Kameras und das Filmmaterial vor 100 Jahren scharfe und tonwertreiche Bilder. Enscheidend war aber das Können des Fotografen. Daneben zählt die Aufbewahrung der Abzüge – am Licht verblassen selbst die besten alten Fotos nach so langer Zeit.
Zum Glück haben wir es mit einer guten Aufnahme zu tun. Die Vergrößerung der Frontpartie erlaubt die Ansprache des Wagens als NAG:
Gut zu erkennen ist der ovale Kühlerausschnitt, der typisch für die NAG-Wagen bis in die 1920er Jahre bleiben sollte. Sofern das Nummernschild kein militärisches ist, verweist die römische Ziffernfolge “II” auf eine Zulassung des Wagens im Raum Dresden.
Hier haben wir es natürlich mit einer Aufnahme aus Kriegszeiten zu tun. Dies belegen der preußische Adler auf der Flanke der Karosserie und der trotz der “verfahrenen Lage” zuversichtlich schauende Offizier nebst Hund auf dem Rücksitz:
Man sieht sehr schön das Gestänge des leichten Verdecks, wie es für Tourenwagen der Zeit typisch war. Die Konstruktion bot nur mäßigen Schutz und blieb beim Militär meist ungenutzt, da ein offener Wagen besseren Ausblick bot und bei gegnerischen Angriffen ein schnelleres Verlassen des Fahrzeugs ermöglichte.
Am hinteren Schutzblech scheint übrigens eine Schaufel zu lehnen, aber offenbar hat man es aufgegeben, den festgefahrenen Wagen freizugraben, und wartet wohl auf den Abschleppdienst in Form eines LKW oder kräftiger Zugpferde.
Wo die Aufnahme entstand, ist unbekannt. Prinzipiell kann sie an allen Fronten gemacht worden sein, an denen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn damals Krieg führten. Verschlammte Wege waren nach Ende der Frostperiode und langen Regenfällen mangels befestigter Straßen überall möglich.
Ein Grund dafür, dass der Wagen sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte, könnte das hohe Gewicht sein. Denn wahrscheinlich handelt es sich um einen NAG des Typs K8 33/75 PS, der über einen Vierzylindermotor mit dem kolossalen Hubraum von 9 Litern verfügte.
Dafür sprechen die Größe des Fahrzeugs und die vielen Übereinstimmungen mit der Abbildung eines solchen Typs im Standardwerk “Deutsche Autos 1885-1920” von Halwart Schrader. Die beachtliche Motorleistung von 75 PS nützte wenig, wenn das fast 2 Tonnen schwere Fahrzeug im Dreck feststeckte.
Dass in schwierigem Gelände ein leichter Wagen mit kurzem Radstand selbst bei geringer Motorleistung einer schweren Konstruktion überlegen ist, musste auch im 2. Weltkrieg nochmals schmerzlich gelernt werden. Die von “Schreibtischtätern” ersonnenen militärischen Einheitsfahrzeuge erwiesen sich in der Praxis meist als zu schwer. Frontsoldaten bevorzugten nicht umsonst leichte und wendige Modelle wie den VW Kübelwagen oder erbeutete amerikanische Jeeps.
Im 1. Weltkrieg gab es noch keine geländetauglichen Wagen und man darf davon ausgehen, dass Situationen wie die hier aufgenommene an der Tagesordnung waren. Eine Generation zuvor wäre man auch als hoher Offizier beritten unterwegs gewesen. Doch die Verlockung eines prestigeträchtigen Automobils war offenbar zu groß für die Herrschaften. So fuhr man auf allen Seiten ab einer gewissen Führungsebene mit völlig ungeeigneten Zivilkraftwagen umher.
Zuletzt noch ein Blick auf die mittlere Partie des mächtigen NAG:
Hier ist zu sehen, dass die Windschutzscheibe komplett nach vorne umlegbar war. An der Schottwand sind elektrische Lampen angebracht, wie sie viele Wagen jener Zeit zusätzlich zu den gasbetriebenen Frontscheinwerfern besaßen. Doch sicherheitshalber hat man daneben weitere Laternen befestigt, die möglicherweise mit Petroleum betrieben wurden, wohl ein Frontumbau.
Interessant ist die vorne auf dem Trittbrett montierte Apparatur. Gegen eine Batterie spricht die zylindrische Form, vielleicht steht die Anlage in Zusammenhang mit den gasbetriebenen Scheinwerfern. Weiter hinten ist auf dem Werkzeugkasten mit Lederriemen ein Benzinkanister in Dreiecksform befestigt.
Insgesamt haben wir es hier mit einer außergewöhnlich detailreichen, gekonnt fotografierten Aufnahme des hubraumstärksten PKWs zu tun, den die untergegangene Marke NAG fertigte. Gleichzeitig erinnert uns die Situation an die Härten, die unsere Vorfahren vor 100 Jahren ertragen mussten.