Wanderer W10 mit rarem Cabrio-Aufbau

Wer sich einmal auf die Welt der Vorkriegsautos einlässt, stellt irgendwann fest, dass ein Menschenleben vermutlich kaum reicht, um die unglaubliche Vielfalt an Fahrzeugen zu erfassen, die es in der Frühzeit des Automobils einst gab.

Was davon heute in Museen und in privater Sammlerhand noch vorhanden ist, stellt nur einen Ausschnitt einer untergegangenen Welt dar. Eine bessere Vorstellung von der enormen Vielfalt an Fabrikaten und individuellen Aufbauten vermitteln historische Fotografien – genau das ist der Zweck dieses Blog.

Heute schauen wir uns zwei zusammengehörige Aufnahmen an, die auf einer Urlaubsreise vor 85 Jahren entstanden sind – im Juni 1931. Die erste lässt zunächst wenig Spektakuläres erkennen:

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© Wanderer W10/II Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Qualität des Fotos lässt zwar zu wünschen übrig – offenbar ist in die Kamera unbeabsichtigt Licht eingedrungen und hat zu einer unharmonischen Belichtung geführt. Das Motiv hat aber seinen Reiz, hier verstand jemand etwas von Bildaufbau.

Der Wagen lässt sich aus dieser Perspektive gut identifizieren – es ist ein Wanderer W10, wie er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gebaut wurde. Vom Vorgänger W8 5/15 bzw. 5/20 PS, der hier bereits besprochen wurde, unterschied sich das Modell durch den stärkeren Motor (6/30 bzw. 8/40 PS) und die größeren Abmessungen.

Auf folgendem Bildausschnitt kann man zwei untrügliche Erkennungsmerkmale des Wanderer W10 erkennen:

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© Wanderer W10/II Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Im Unterschied zum Vorgänger besaß der Wanderer W10 Linkslenkung und eine Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern. Das markante Wanderer-Emblem auf der Kühlermaske war hier außerdem blau und nicht mehr rot unterlegt – hier natürlich nicht zu erkennen.

Ein weiterer Unterschied waren Form und Zahl der Luftschlitze in der Motorhaube. Da sie hier nicht zu sehen sind, ist auch unklar, ob es sich um die 30 oder 40 PS-Variante des Wanderer W 10 handelt.

Die Motorisierung dieses hochwertigen Mittelklassewagens soll an dieser Stelle auch gar nicht interessieren, weit spannender ist der Aufbau. Dazu wenden wir uns nun der Heckpartie des Wagens zu, die Überraschendes preisgibt:

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Der Wanderer hatte ganz offensichtlich einen Reifendefekt. Wie in den 1920er Jahren nicht selten, führte man zwei Reserveräder mit sich, das ersparte einem auf längeren Fahrten das aufwendige Flicken unterwegs.

Der gut gebräunte Herr im karierten Anzug scheint gerade die letzten Radbolzen am aufgebockten rechten Hinterrad einzudrehen, während die junge Dame neben ihm den Radschlüssel bereithält:

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Neben dem Hinterrad sieht man übrigens die Kurbel des Wagenhebers hervorschauen, davon liegt eine Handluftpumpe. Diese Utensilien scheint man im großen Kofferraum mitgeführt zu haben, auf dem das Verdeck aufliegt.

Schaut man näher hin, wird einem klar, dass man es mit einem zweitürigen Cabriolet zu tun hat, keinem Tourenwagen, wie er – neben der Limousine – ab Werk angeboten wurde. Eine solche sportlich wirkende Karosserie mit großzügigem Gepäckfach musste eine Sonderanfertigung sein!

Tatsächlich findet sich in der Literatur (Wanderer-Automobile von Thomas Erdmann/Gerd G. Westermann, Delius-Klasing 2011) eine Abbildung genau eines solchen Aufbaus, der von der Karosseriefirma Zschau in Leipzig hergestellt wurde.

Dieser spezielle Aufbau bot lediglich Platz für drei Insassen, weshalb wir annehmen müssen, dass das Foto vom Passagier eines Begleitfahrzeugs gemacht wurde. Dass die beiden Aufnahmen tatsächlich dasselbe Auto zeigen, beweist das Nummernschild, das auf eine Zulassung im Raum Dresden verweist.

Das ist eine schöne Entdeckung, die deutlich macht, dass es unter der Wanderer-Kundschaft anspruchsvolle Leute gab, denen die Werksaufbauten zu brav waren. Nur eines gibt Rätsel auf:

Was treibt die patente Dame mit dem feschen Hut auf der anderen Seite des Wanderer? Vorschläge sind willkommen…

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