Rarer Auftritt in Paris: Wanderer W22 „Phaeton“

Auf einem Oldtimerblog, der Vorkriegsautos auf historischen Originalfotos vorstellt, taucht man immer wieder tief in die an Katastrophen reiche europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein.

In den Momenten, die auf Schwarzweißfilm verewigt wurden, ist mitunter mehr an Geschehen verdichtet, als es auf den ersten Blick erscheint.

Wenn sich dann noch eine automobile Rarität darauf entdecken lässt, dann ist das „großes Kino“ und ersetzt einige Stunden blutleeren Geschichtsunterrichts.

Nehmen wir zur Illustration diese Aufnahme hier:

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Champs-Elysées in Paris; Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn Absolventen moderner Bildungsanstalten hier auf eine Szene „vor dem Brandenburger Tor“ tippen, kann man es ihnen nicht verdenken.

Die Zeiten, in denen selbst Volksschüler die ikonischen Bauwerke europäischer Großstädte kannten und nebenbei noch die Rechtschreibung beherrschten, sind dank einer auf einheitlich niedriges Niveau abzielenden Bildungspolitik vorbei.

Leser dieses Blogs – die wohl ein ans Pathologische grenzendes historisches Interesse haben müssen – und Anhänger der Tour de France natürlich werden aber den Arc de Triomphe auf den Pariser Champs Elysées erkennen.

Das zeitliche Zusammenfallen dieses Blogeintrags vom 8. Mai 2017 mit dem Triumphzug des als „jung und unabhängig“ inszenierten französischen Präsidentschaftskandidaten Macron ist übrigens rein zufällig.

Dass zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Aufnahme in Paris ganz andere Machtverhältnisse herrschten, die bis heute in der europäischen Politik nachhallen, zeigt sich bei näherem Hinsehen:

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Der mattlackierte Wagen links ist eindeutig ein Militärfahrzeug, und zwar ein Peugeot des 1935 vorgestellten Stromlinientyps 302 oder 402. Exemplare dieses Modells waren in großer Zahl bei der französischen Armee im Einsatz.

Nach dem siegreich beendeten deutschen Frankreichfeldzug im Sommer 1940 wechselten die meisten dieser hochwertigen und leistungsfähigen Wagen den Besitzer – das war offenbar auch hier der Fall.

Auf dem Originalabzug sind die Anfangsbuchstaben des Kennzeichens zu lesen: „WL“ gefolgt von sechs Ziffern. Diese Kombination verweist auf eine Registrierung bei der deutschen Luftwaffe (WL: „Wehrmacht Luftwaffe“).

Damit hätten wir den frühestmöglichen Entstehungszeitpunkt unseres Fotos: Sommer 1940. Auf die bis 1944 anhaltende deutsche Besatzungszeit weist auch der für die Champs Elysées ungewöhnlich geringe Autoverkehr hin.

Die meisten brauchbaren PKW im besetzten Teil Frankreichs wurden für die Wehrmacht beschlagnahmt – was die deutschen „Volksgenossen“ zu diesem Zeitpunkt in den meisten Fällen übrigens bereits hinter sich hatten.

Was lässt sich nun zu den beiden anderen Autos sagen, die in voller Fahrt abgebildet sind? Schauen wir auch hier genauer hin:

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Beginnen wir mit dem hinteren Fahrzeug – ein amerikanisches Fabrikat. Er ist anhand der Literatur schnell als Plymouth P4 des Modelljahrs 1937 identifiziert.

Mit dem dank Ganzstahlkarosserie robusten, komfortablen und gut motorisierten Modell (3,3 Liter, 6 Zylinder, 80 PS) landete Plymouth in der Mittelklasse einen enormen Erfolg: über 566.000 Stück wurden vom P4 in nur einem Jahr gefertigt!

Konstruktiv und gestalterisch war der Plymouth dem Wagen im Vordergrund in jeder Hinsicht eine ganze Generation voraus. Einzige Gemeinsamkeit der beiden ist die Aufschrift „NSV“ auf dem rechten Kotflügel – darauf kommen wir noch zurück.

Nun endlich zur versprochenen Rarität.

Zunächst erschien der vordere Wagen konventionell; klar war, dass es ein Wanderer sein musste. Form und Neigung der Kühlermaske sprechen dafür, außerdem ist auf dem Abzug das auf dem Kühler thronende „Wanderer“-Emblem zu erahnen.

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Nicht zu erkennen ist, ob die Streben im Kühlergrill senkrecht oder schräg verlaufen – damals ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Modellgenerationen der sächsischen Traditionsmarke.

Doch zum Glück gibt uns etwas anderes den entscheidenden Hinweis, nämlich die sichelförmigen, vollverchromten Halterungen der ausstellbaren Frontscheibe. 

Nur ein Wanderer-Modell der 1930er Jahre zeichnet sich durch dieses Detail aus: Der Tourenwagen auf Basis des Modells W22, der unter der damals schon veralteten Bezeichnung „Phaeton“ angeboten wurde.

Die Meriten des ab 1933 gebauten Wanderer W22 und seines schwächeren Pendants W21, die mit den 6-Zylindertypen 170 und 200 von Daimler-Benz konkurrieren sollten, haben wir im damaligen Bildbericht ausführlich gewürdigt.

Leider blieb der Erfolg trotz herausragender Technik und eleganter Formgebung hinter den Erwartungen zurück; die klassische Mercedes-Kundschaft bevorzugte die konservativen Modelle aus Stuttgart.

Daran änderte auch die ab 1934 größere Karosserievielfalt beim Wanderer W22 nichts, zu der die Tourenwagenversion auf unserem Foto beitrug. Sie wurde übrigens bei der Berliner Karosseriebaufirma Buhne gefertigt.

Sofern das Auto-Union-Emblem – also die vier Ringe, die heute Audi verwendet – nicht verlorengegangen ist, erlaubt sein Fehlen eine Datierung des Wagens auf Anfang Juni 1934.

Denn erst in diesem Monat wurde die Tourenwagenvariante vorgestellt und noch im Juni wurde auch bei Wanderer das zuvor fehlende Auto-Union-Emblem angebracht.

Erstaunlicher als die genaue Eingrenzung des Produktionszeitpunkts ist etwas anderes: Von der Tourenwagenversion des Wanderer W22, die wir hier auf den Pariser Champs Elysées sehen, wurden nur 109 Stück gebaut!

Ein historisches Foto dieser raren Ausführung des Wanderer W22 zu finden, ist bereits außergewöhnlich. Dann aber noch eines mit einem so prominenten Aufnahmeort und unter so speziellen Bedingungen, das ist bemerkenswert.

Oder vielleicht doch nicht?

Die Tourenwagenvariante des Wanderer W22 wurde nur an Behörden ausgeliefert, in unserem Fall an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), ab 1933 die dominierende Wohlfahrtsorganisation des NS-Regimes.

Wer außer privilegierten Vertretern der Staatsmacht hätte im 2. Weltkrieg Mittel und Möglichkeit gehabt, im Tourenwagen über die Champs Elysées zu paradieren?

Für Parteigänger gibt es in totalitären Systemen ja immer besondere Anreize und Belohnungen. So konnten sich hier vermutlich „verdiente“ NSV-Bonzen aus der Heimat auch einmal als Sieger fühlen.

Insofern also wohl gar nicht so zufällig, diesen Wagen in einer solchen Konstellation anzutreffen. Aber ungeheuer selten bleibt so eine Aufnahme dennoch.

Wenn auch nur einer dieser wenigen Wanderer W22-Tourenwagen die Wirren des 2. Weltkriegs, den schmählichen Rückzug der deutschen Besatzer und die kargen Nachkriegsjahre überlebt hätte, wäre dies umso erstaunlicher…

Verwendete Literatur:
Thomas Erdmann/Gerd  G. Westermann: Wanderer Automobile, Verlag Delius-Klasing, 2. Auflage 2011

© Michael Schlenger, 2017. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and http://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

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