Bei Klassikerveranstaltungen in Großbritannien kann sich der Besucher darauf verlassen, dass er hochkarätige Vorkriegsautos in allen möglichen Zustandskategorien zu Gesicht bekommt.
Zu den üblichen Verdächtigen gehören Wagen von Alvis, Bentley, MG, Rolls-Royce, Rover und Talbot.
Auch beim Goodwood Revival 2017 waren Vertreter dieser Marken schon auf dem Besucherparkplatz zu bewundern:
Doch neben solchen Zeugen einstiger britischer Automobilbaukunst sind stets auch Vertreter der “Brot und Butter”-Fraktion dabei, vor allem von Austin.
Der Hersteller aus Longbridge in der Nähe der Industriemetropole Birmingham baute bereits “Volkswagen”, als der Begriff hierzulande nur ein theoretischer war und abwegige Konstruktionen wie das “Kommissbrot” von Hanomag inspirierte.
Den meisten Liebhabern von Vorkriegsautos im deutschen Sprachraum ist in erster Linie der Kleinwagen Austin “Seven” bekannt, der über den Umweg der Dixi-Lizenzproduktion die Basis für die ersten BMW-Automobile wurde:

Austin 7 Tourer; Bildrechte: Michael Schlenger
Hier haben wir ein Exemplar, das 2017 bei den Classic Days auf Schloss Dyck ausgestellt war – der mutmaßliche “Besitzer” hat es sich daneben bequem gemacht.
Dass Austin auch durchaus erwachsene Wagen baute, wird einem erst bewusst, wenn man einem Exemplar dieser Gattung auf der Insel begegnet.
Das nachfolgend abgebildete Fahrzeug der oberen Mittelklasse ist ein Austin 12-4, wie er Ende der 1920er Jahre in großen Stückzahlen gebaut wurde:

Austin 12-4; Bildrechte: Michael Schlenger
Speziell im Taxigewerbe erfreuten sich diese als unzerstörbar geltenden Autos einiger Beliebtheit. Beim alljährlichen Goodwood Revival verrichten solche Austins auch nach rund 90 Jahren immer noch klaglos ihren Dienst als stilvolle Taxis.
Heute soll es jedoch um ein Modell gehen, das zwischen den beiden genannten Austin-Typen angesiedelt war – den Austin 10.
Ein spätes Exemplar davon haben wir hier vor geraumer Zeit schon einmal vorgestellt, und zwar in der Ausführung als Austin “Cambridge”:

Austin 10 “Cambridge”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Die schrägstehende und abgerundete Kühlermaske sowie die seitlichen Schürzen an den Vorderschutzblechen weisen auf eine Entstehung in den fortgeschrittenen 1930er Jahren hin.
Äußerlich hatten diese Austins kaum noch etwas mit ihren technisch weitgehend identischen Vorgängern zu tun, die ganz dem sachlichen Stil der 1920er Jahre entsprachen.
So fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die folgende Aufnahme ebenfalls einen Austin 10 zeigt, der nur wenige Jahre vorher entstand:

Austin 10-4; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Offen gesagt bereitete diese Aufnahme dem Verfasser einiges Kopfzerbrechen.
Das war jedoch nicht den Schneeresten geschuldet, die hier ebensowenig zu irritieren vermögen wie das Weihnachtsgebäck, das viele Zeitgenossen Mitte September im Supermarkt vorzufinden wünschen (sonst stünde es nicht dort).
Vielmehr war das Einzige, was einigermaßen vertraut wirkte, die zwei voneinander getrennten Reihen Luftschlitze in der Motorhaube. Die Kühlermaske ist ja leider jahreszeitlich bedingt “under cover” und gibt uns keine Hinweise:
Aufmerksame Leser dieses Blogs und Kenner deutscher Vorkriegautos werden dabei an folgende Fahrzeuge denken – den Wanderer W10/II und den Hanomag 3/16 PS.
Doch zwei Dinge wollen nicht zu diesen deutschen Mittelklassewagen passen – die auffallend hohe Frontscheibe und die Drahtspeichenräder.
Letzere sind ein guter Indikator für eine ausländische Herkunft, auch wenn die meisten deutschen Anbieter Drahtspeichenräder als Option im Programm hatten. Doch aus irgendeinem Grund blieben sie die Ausnahme hierzulande.
Was nun? Da wir angesichts der Abmessungen ein amerikanisches Auto ausschließen können und für österreichische, französische oder italienische Hersteller die Raffinesse fehlt, bleibt als Arbeitshypothese ein britischer Wagen.
Nach Durchsicht des Anzeigenteils einiger Ausgaben von “The Automobile” – nach Ansicht des Verfassers die einzige gedruckte Publikation, die die Bezeichnung als “Oldtimer”-Magazin verdient – war der Fall klar.
Unser geheimnisvoller “Undercover”-Wagen ist ein Austin 10-4 in einer vor 1934 entstandenen Karosserieausführung. Das Modell besaß einen 1,1 Liter-Vierzylinder mit seitlich stehenden Ventilen, der etwas mehr als 20 PS leistete.
Mit 6-Volt-Elektrik und Seilzugbremsen war das Modell der unteren Mittelklasse alles andere als seiner Zeit voraus.
Doch wurde es dank entsprechender Konstruktion und rationeller Fertigungsweise in so großen Stückzahlen gebaut, dass es für einen weit größeren Teil der Bevölkerung erschwinglich war als vergleichbare Autos in Deutschland.
Bleibt die Frage: Was machte ein solcher Austin 10-4 im Berlin der 1930er Jahre?
Das Nummernschild ist eindeutig – der Wagen war im Großraum Berlin zugelassen (Kennung: “I A”).
Auch die nüchterne Architektur im Hintergrund und die arg banale Gestaltung des Zauns wirken sehr “deutsch” – und typisch für die 1930er Jahre.
Ob die Besitzer dieses Wagens mit den auffallend abgenutzten Reifen wirklich Einheimische waren?
Der Verfasser könnte sich vorstellen, dass dieser eigenwillige Austin einst von Engländern gefahren wurde, die dienstlich in Berlin zu tun hatten – eventuell war es Botschaftspersonal.
Das Foto hat vermutlich ein Berliner gemacht, dem das ungewöhnliche Auto auffiel. Abgesehen von einer örtlichen Produktion des Austin 7 in Kleinserie blieben die Konstruktionen aus Longbridge im damaligen Berlin Raritäten.
Wenn ein Leser eine einleuchtende Erklärung für diesen Briten in “Undercover”-Mission im Berlin der 1930er Jahre hat, nur zu. Ergänzungen und Klarstellungen fließen selbstverständlich in diesen Blog ein.